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Ein menschliches Vorrecht

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Morgen

Es ist still und mitten in der Nacht. Soeben hat eine Glocke zwei geschlagen.

Ich habe mich von Kopf bis Fuß in kühle Schlafzimmer-Negligées und die glättende Weichheit einer Feuchtigkeitscreme gehüllt.

Mein Gemüt ist ruhig, denn ich habe heute einen Spaziergang gemacht, der mir das Gefühl gab, Aufrichtig und Sicher zu sein.

Was für ein tröstliches Gefühl: wie ein Sandwich mit Rindfleisch.

Der Spaziergang war lang, südöstlich von Butte folgte ich einer Straße schon am Rand der Stadt, auf der ich mit sechzehn regelmäßig spazieren ging – eine weite graue Wüste. Der gleiche Sand, die gleiche Ödnis. So öde und verdorrt, als hätte ihr ein riesiger Kojote die felsigen Rippen abgenagt.

Ein windiger und staubiger Tag. Mit kräftigem Sonnenschein, süß und schwer wie schwebender Honig. Der Staub, der gegen meinen entblößten Hals wehte, war wie gemahlenes Glas.

Die Füße taten mir weh beim Gehen.

Ich trug dick besohlte Pumps aus gerippter Seide mit Blockabsatz, in denen man gut laufen kann. Aber dieselben Füße, die mich früher mühelos sieben Meilen weit trugen auf dieser Straße, schmerzen nun nach dreien. Alles an mir tat weh, wie ich da so lief. Ich fluchte zusammenhangslos vor mich hin, eine Reihe geschmeidiger geflüsterter Flüche, weil die Umstände danach zu verlangen schienen. Aber der Spaziergang gefiel mir ausgezeichnet – und umso besser, weil meine Füße müde waren, meine Knie schmerzten, meine hängenden Schultern mich ärgerten und die Hitze mir glassplittrigen Sand gegen die Kehle wehte.

Meiner Seele schmeckte, wie wirklich es war.

Ganz in meiner Nähe lagen in außerordentlicher, trauriger Schönheit die tiefen, hohen, schweren, stillen, düsteren Berge Montanas. Die mir nächsten waren von einem herrschaftlichen, verwunschenen Blau: einem Blau Aller-Zeiten; einem Blau der Unendlichkeit; einem Blau, in dessen Bläue man Leben und Tod fühlt. Der Himmel darüber war nicht blau, sondern von einem blassen, schimmernden, glimmenden Silber, über das graue Seidenwolken zogen, weich wie Taubengefieder.

Ich saß auf einem flachen Stein, schaute mir all dies an, die Einöde rundum, meine staubigen Schuhe.

Alles davon fühlte sich überwältigend wahrhaftig an: im Einklang mit der riesigen, verschlissenen Erde.

Meine staubigen Schuhe wirkten, als stimmten sie mit ihr überein und könnten sie lesen.

Ich hatte das Gefühl, meine Schuhe dürften es als ihr menschliches Vorrecht einklagen, auf jeder beliebigen Straße dieser Welt staubig zu werden.

Das gab mir ein Gefühl menschlicher Lauterkeit: guter-wie-böser Geborgenheit.

Ich spüre es noch, zusammen mit der Feuchtigkeitscreme und einer starken Erinnerung an Ödnis, Sonne, Blau.

Das ist so gut wie ein Sandwich mit Rindfleisch.

Nein, besser. Sandwich mit Rindfleisch mag ich nicht.

ICH. Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben

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