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Die gnadenlose Schönheit

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Morgen

Mitunter steht die Abenddämmerung in Flammen.

Mitunter, wenn der Abend dämmert, sitze ich an meinem Fenster, schaue hinaus und sehne mich heiß und kühl nach einem Liebhaber: mit heißem Körper und kühlem Verstand.

Eine solche Abenddämmerung ist eben vergangen. Ich saß da und betrachtete sie.

Ein Dunst von der Farbe dunkler Sahne, durchsetzt von erregtem Veilchenblau, erschien aus dem Nirgendwo und hing über dem Boden.

Mit einem Mal kam das Gefühl einer verwirrenden geheimnisvollen Schönheit über mich.

Sie enthielt eine in Wellen spürbare Wärme, die mir in Fleisch-und-Knochen fuhr – von Kopf bis Fuß, von den Schläfen bis in die Sohlen, vom Schädel bis in die Zehenspitzen.

Langsam und erstickend rann sie dahin wie magisches Chloroform.

Da lehnte ich, Ellbogen auf dem Fensterbrett, Kinn in den Händen, ließ meinen Blick in die veilchenblauen Schatten sinken und wusste, dass ich auf der Stelle einen Liebhaber wollte: nicht den feinfühligen mondbeschienenen Höhepunkt Julias auf ihrem Balkon: nicht so abwehrend wie die schüchterne junge Nonne in ihrem Kloster, wenn, ohne dass es ihr bewusst ist, schwache verbotene Gefühle nach ihr greifen.

Ich wollte einen Liebhaber wie die Leopardin im Dschungel, wenn sie bei Einbruch der Nacht durch das Frühlingsdickicht springt, um ihren Gefährten zu finden.

Es handelt sich um ein subtiles und offensichtliches Gefühl, das aus gnadenloser Schönheit besteht.

Es handelt sich um das müde Drängen aller geschlechtlichen Gewebe und Nervenzellen: bejahend, wütend, feurig wie die blutigste aller Sonnen. Exakt das, was die rollige Leopardin fühlt in ihrer scharfen, unbefleckten Lust. Ziemlich genau dasselbe – aber mich brachte es, als ich allein und ohne Liebhaber dasaß, nicht einmal dazu, eine Braue zu runzeln, meine Haltung zu verändern, meine Ellbogen auf dem Fensterbrett oder die Handflächen unter meinem Kinn zu bewegen. Und nichts anderes wäre geschehen, hätte ein möglicher Liebhaber draußen vorm Fenster gestanden.

Für jede auch nur halbwegs attraktive Frau ist die Welt voller Liebhaber: Jeden einzelnen von ihnen kann sie haben, wenn sie mit dem Finger schnippt, die weißen Lider senkt, die rosafarbenen Bögen ihrer Lippen erzittern lässt. Die Welt ist voll von ihnen – oberflächliche Liebhaber, ängstlich, potent, unecht. Genau einen dieser Art begehre ich mit meinem heißen Körper, meinem kalten Verstand, wenn es dämmert und Wärme sich in kleinen Wellen ausbreitet – sich kräuselnde, kräuselnde Wärme –

Ich begehre meinen Liebhaber wie die Leopardin den ihren. Aber ich bin keine Leopardin, sondern eine weibliche Person mit ausgeprägter Empfindungsfähigkeit und wilder, sehnsüchtiger Vorstellungskraft. Ich würde noch nicht einmal den kleinen Finger krümmen, um einen Liebhaber zu mir zu rufen: welch seltsame, erregte Trägheit.

Es ist nur so, dass ich den Liebhaber mit rasendem, blindem, kosmischem Überschwang in mir selbst begehre.

Ich analysiere das mit meinem magischen Verstand und finde heraus, dass ich keinen Liebhaber zu mir rufen würde. Ich analysiere weiter und finde heraus, dass ich alle abweisen würde bis auf den einen Unmöglichen-unter-Zehntausenden. Es bleibt allerdings das Begehren, heiß wie glühende Asche, kalt wie Hagel.

Geschlecht ist eine seltsame Eigenschaft. Auf mich wirkt es wie eine gesegnete Behinderung und eine himmlische Last und ein glänzender Fluch. –

Mit siebzehn stand ich auf einer Schwelle und blickte neugierig in ein dämmriges, von seltsamen Düften erfülltes Zimmer.

Damals kannte ich es noch nicht. Mein Verstand allein wies mich darauf hin. Als ich da in der Tür stand, berührte die Luft, die aus dem Zimmer drang, meine Sinne nur aufs Allerleichteste, einem ausfransenden Spinnennetz gleich, unverständlich und nicht erhellend. Ich hatte eine leere, einsame Mädchenzeit verbracht. Ich war auf eisige Weise jüngferlich.

Mit fünfundzwanzig trat ich über die Schwelle des Zimmers. Mühelos atmete ich den alten Duft ein. Neugierig sah ich mich um. Ich berührte ein paar verliebt aussehende Weintrauben und ein paar auf die Liebe hinweisende Äpfel, die herumlagen: Ich biss in einen und brach eine Traubenbeere mit Finger und Daumen auf. Ich sammelte ein oder zwei Blüten, deren Blätter schon herabhingen. Ich blickte abschätzend auf den Raum und seine Möblierung, und nichts in ihm erregte mich. Sogar körperlich ließ er mich unerregt.

In der Dämmerung-von-heute halten mich diese beiden Erinnerungsnebel mit all ihrer Kraft, allem Schrecken und aller Inbrunst vorzüglichster Jugend nicht davon ab, mit jeder Faser meines Körpers einen Liebhaber-aus-dem-Nichts zu begehren.

Mit Liebe hat das nichts zu tun. Liebe ist ein Vogel mit Feuerschwingen. Ich kenne ihn. Ich kenne die Werte meines Lebens und meiner Person. Ich verwechsele Lampen nicht mit Laternen, Dukaten nicht mir Louis d’Ors, den Zaubertrank Nepenthes14 nicht mit einem traumlosen Tod.

In Momenten der Dämmerung, Momenten wie diesem, sind Fleisch-und-Knochen alles an mir, dessen ich mir sicher bin. Sie beginnen und enden in der Erde. Sie antworten auf die gewaltsamen Rufe dieser Erde und ihrer Dämmerungen.

Während der eben vergangenen Dämmerung spürte ich, wie mein prickelndes Blut in meine Fingerspitzen strömte. Eine Flut, blendend rot, stieg, siedete, brodelte und pochte an mein Herz.

»Ich will einen Liebhaber – irgendeinen« – murmelte ich den Schatten jenseits meines Fensters zu.

Ich begann zu keuchen.

Der Geist meines Fleisches erhob sich wie eine vom Wind angefachte Flamme.

Ein lauter Schrei klang durch die Wildnis meiner Nerven.

In diesem Augenblick war es mit der wandlungsfähigen Analyse, die mich immer begleitet, vorbei.

Stattdessen kam reines Fühlen – die gnadenlose Schönheit.

– eine männliche Person, vielleicht, ein Mann von glücklicher unanalytischer Rohheit – der mit einem Mal bei mir wäre: um hineinzuflammen in meine schattige Einsamkeit wie ein Himmelsblitz, um mich zum Zerspringen zu bringen

– eine Viertelstunde erlesener Wildheit – Ruhelosigkeit, gemacht aus Sternenflamme, Lilienblüte und Wolkenbruch über Bergeshöhen und Meereswellen, dunkelrot in Stürmischer Morgendämmerung – unerträglicher Hunger, unerträgliche Ekstase –

Eben ist es vorbei, und ich sitze und schreibe es nieder in der blassen Gussform des Denkens.

Doch atemlos erinnere ich mich an seine Atemlosigkeit.

ICH. Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben

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