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Meine Schuhe

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Morgen

Ich liebe meine Schuhe.

Ich liebe sie, weil sie meine Füße so gut schützen.

Ich gehe Meile um Meile über steinerne Bürgersteige, bis ich zu entfernten, seltsamen Straßen und offenen Landstraßen in den Randbezirken dieses Spitzkegel-Butte komme.

Und während ich gehe, denke ich nach.

Ich denke vieles sehr Unterschiedliches – wirkmächtig, phantastisch und irre. Dieses Gehen wirft einen Motor in meinem funkelnden, teuflischen Verstand an. Das Gewicht, der Biss, der Schmerz und das Faszinierende an meinen Gehgedanken überwältigt meine schmalen Füße, wie sie mich vorantragen. Und die festgestampfte Welt unter ihnen grollt meinen Sohlen und kommt ihnen in keiner Weise entgegen.

Dann schaue ich hinunter zu meinen Schuhen mit ihrem gepflegten, perfekt geschnittenen Blatt sowie ihren auf Spaziergänge ausgelegten Sohlen, und sofort fühlen sich meine Füße in Sicherheit vor allem Bösen und auf kluge Weise auch vor meinen Gedanken und der Oberfläche der Welt geschützt: vor meinen Gedanken, die aus meinem teuflischen Hirn auf sie hinabstoßen, und vor der Härte der Welt unter ihnen.

Heute ging ich die Straße hinab, die in das immer wunderbare Kupferbergwerk Anaconda führt – eine Stätte aus Steinen, Müllhalden voller Gießereisand, Aufzügen, Gerüsten und Minen mit zehntausend grabenden Männern, Tausende Fuß unter der Erde in ihren metallischen Eingeweiden. Nahebei lagen die melancholischen, maulbeerfarbenen Berge des Nordostens. Sie wirkten tragisch, triumphierend, tieftraurig, erschreckend schön. Violette Wolken hingen wie Trauerschleier um sie. Ich kann gar nicht genug von ihnen bekommen – es ist, als reichte die Sehkraft meiner grauen menschlichen Augen für sie nicht hin.

Bald kam ich auf meinem Gang zu einem kleinen offenen Platz, einer Spielzeugwüste. Eine Spielzeugwüste ist in noch stärkerem Sinn Wüste als eine wirkliche Wüste. Der Sand in ihr ist grauerer Sand. Die Steine sind unvermittelter. Die Sonne sieht flacher aus. Die Luft versorgt die Menschen weniger bereitwillig mit Sauerstoff. Das Beste, was sich über die Wüste sagen lässt, auf die ich stieß, ist, dass sie unerträglich trostlos war. Ich schaute mich um, schaute mich um. Und mit einem Mal bekam ich Angst. Angst vor allem Möglichen: Angst vor tieftraurigen Bergen, Angst vor meinem Leben und Mir selbst.

Ich lehnte mich mit einem heimtückischen, krankmachenden Schwächegefühl gegen einen gelben Felsvorsprung. »Ich habe Angst«, sagte ich mir innerlich, »vor dieser Welt und diesem Leben und vor allem, klein oder groß – vor Nervosität, Weihnachtstagen und Dichtung, Spielzeugwüsten und so weiter. Wie kann ich damit zurechtkommen – ich, ganz allein?«

Dann schaute ich auf meine Schuhe aus schwarzem weichem stumpfem Leder und Stoff, hübsch um meine Knöchel geknöpft und mit starken, geschmeidigen Sohlen, die mich nach Jericho und zurück getragen hätten. Dank dieser passgenauen Rüstung wurde mir schlagartig klar, dass meinen Füßen mit ihren blauen Adern keinerlei Gefahr drohte von Sand, Steinen und der Härte des Bodens. Und wenn meine Füße sich nicht zu ängstigen brauchten – meine Füße, die das Gewicht meines ganzen Ichs trugen –, warum sollte die Ängstlichkeit dann meinen stolzen Geist angreifen?

Immer wird es Schuhe geben in dieser Welt: kräftige elegante praktische Stiefel, blasse feine Rattenhautpumps und wattierte Satinpantoffeln.

Immer werde ich Schuhe haben: In Spielzeugwüsten werden sie schwarz, fest, perfekt zugeknöpft sein.

Ich schaute sie an in dieser Spielzeugwüste, und meine Angst fiel von mir ab.

So ist es oft gewesen.

Daher liebe ich meine Schuhe.

ICH. Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben

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