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Um mich auszudrücken

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Morgen

Ich nehme an, dass ich sehr einsam bin.

Es ist ein Segen – ein himmlischer Segen –, nicht von haufenweise Leuten belagert zu werden, Leute, die nur außerhalb ihres Kopfes denken, »fröhlichen« Leuten, Leuten, die »Tschuldigung aber auch« sagen: all diesen schädlichen Arten von Leuten, die überall auftauchen und einem den Blick auf den Horizont verstellen.

Aber aus Mangel an – anderen, anderen Leuten – bin ich empfindlich einsam.

Als ich achtzehn war, hielt ich mich für das einsamste Wesen des ganzen Planeten. Ich analysierte mein Leben damals so, wie ich es heute tue, und schon das unterschied mich von allen anderen. Aber damals ritt ich, wie es der Jugend gebührt – auf hohem Ross. Ich hatte die Kraft, meine Einsamkeit zu ertragen und sie gleichzeitig aus tiefstem Herzen zu verachten.

In meiner Unerfahrenheit gab es eine unbewusste, hoffnungsvolle Glückseligkeit, die mich begleitete. Damals fühlte ich sie, ohne zu wissen, dass ich sie fühlte. Ich kann das heute mit aller Deutlichkeit erkennen.

Heute sehe und fühle ich ebenfalls mit aller Deutlichkeit, dass ich von meinem Ross gestiegen bin, meine Stellung hat sich verschlechtert. Wie auch meine Körperkraft, damals noch widerstandsfähig, heute gering ist. Die metaphysischen Schatten des Lebens greifen leichter nach mir. Es fühlt sich an, als würden sie sich auf tödliche Weise auf mich herabsenken und mich einschließen. Sie sind die Trugbilder meiner eigenen, nutzlosen, widerspenstigen Ichs in der falben weltlichen Luft, die mich umgibt. Die hoffnungsvolle Glückseligkeit existiert nicht mehr.

Mit achtzehn sagte ich mir: »Ich bin einsam, aber ich werde vermutlich eines Tages glückliche Freundschaften führen und verstanden werden, und es wird wie im Paradies sein.«

Heute sage ich mir: »Einsamkeit ist mein Schicksal, mein Wesen und mein Charakter. Ich habe Freundschaften voll lebendiger Anziehungskraft und Zwanglosigkeit erlebt – sie stehen vor der Tür. Und andere. Sie haben etwas Paradiesisches – auf seltsame, süße, fragwürdige Weise. Doch was soll’s –?«

Was mich einsam macht, ist vor allem dieses »Doch was soll’s«, das davon kommt, dass ich von meinem hohen Ross gestiegen bin und die Schatten sich um mich versammeln – einsam bis zur Verzweiflung und dann weiter bis zu einer verheerenden Ruhe.

Diese metaphysische Einsamkeit ist es, die in mir diesen andauernden, sinnlosen, rastlosen, drängenden Impuls erzeugt: mich Auszudrücken: nichts aus-der-Vergangenheit außer zusammenhangslos, nichts von-der-Zukunft außer gleichgültig: stattdessen nur etwas aus meinem schwach tönenden, schwach widerhallenden Heute. Bis ich mich ausgedrückt habe, kann ich die Pforten meines Geistes niemandem, der vorüberkommt, öffnen, selbst wenn der Vorüberkommende ein leibhaftiger Dichter sein sollte, ein Gott, ein fackeltragender Engel.

Vierundzwanzig wilde Launen brechen an einem einzigen Tag über mich her oder vierundzwanzig passive oder vierundzwanzig freudige. Aber wie das Thema einer Fuge übersteigt sie alle dieses laute, ruhige, immer wiederkehrende Bedürfnis, mich Auszudrücken.

Es ist ein großer, gefräßiger, halbmenschlicher Raubvogel. Auch in Bezug darauf sage ich »was soll’s«. Doch es handelt sich um ein Bedürfnis ohne Zweck, ein Bedürfnis, das Zwecke verachtet. Es entsteht nicht durch Gedanken und ohne Quelle in meinem Innersten. Es erhebt sich aus der Asche der vernichtendsten Stimmungen und schlägt mir seine verletzenden, starken Flügel ins Gesicht.

Es sagt: »Erkenne mich, unterstell dich mir, Dünne-Frau. Diene mir, folge mir, sammle all deine Antworten für mich ein. Tu das, obwohl ich dich zerlege, obwohl ich dich spalte, dich mit meinen Zähnen, scharf wie die eines Wolfes, zerreiße. Wenn du mein Begehren erfüllt hast, lass ich dich vielleicht frei. Bis dahin: richte dich auf mich. Erzähl mir: erzähl mir wieder und wieder. Äußere dich. Deute. Entfalte.«

Es versüßt mir meinen Lebensraum ein wenig, es gibt ihm etwas Herzzerreißendes, etwas Erschreckendes – übersät mit dem Staub zerbrochener Sterne.

Ich durchlebe lange Stunden in erregtem, tiefschürfendem, leidenschaftlichem Selbstgespräch. Ich entdecke seltsame, liebenswerte, uralte Seiten meiner Seele. Ich entdecke das spitzfindig keuchende Ego – dieses wunderbare Ding, das in seinem verworrenen Leuchten unmittelbar unter meiner Haut lebt und wartet.

Sich selbst zu befragen und die Antworten aus nichts als sich selbst zu gewinnen ist das herrlichste geistige Vergnügen, das dieses Leben zu bieten hat. Es wäre mir entgangen, wären da nicht diese gegen mein Gesicht schlagenden, verletzenden Flügel gewesen, jetzt und schon vor Jahren, denn sich auszudrücken bringt mit sich, bis an die Grenzen des Ausdrückbaren zu gehen.

Ich hätte weiter durch meine Jahre leben können, durch Jahrzehnte und verklumpte Monate, und dabei bestenfalls ein wenig von einer bestimmten vortrefflichen Person erfahren, etwas weniger oder mehr von einer anderen vortrefflichen Person, ein wenig von der Seele eines Musikers in einem Nocturne, ein wenig von der Herrlichkeit eines toten Dichters. Doch Mir selbst und den feinen geistigen Verbindungen zu diesen Dingen wäre ich auf ewig fremd geblieben, wäre da nicht mein strahlendes, fadenscheiniges, selbstbezogenes Deuten.

Nur dank seiner bin ich wach, aufmerksam und klug genug, um das eine menschliche Wesen auf dieser Welt zu erkennen, das ich mit all meiner lebendigen Kraft kennen kann: mein eigenes Selbst. Am Ende würde ich noch ins Grab fahren, ohne mich von jener glühenden Gestalt zu verabschieden, die in mir eingeschlossen war, deren Hand ich nie ergriff, in deren traurige, in die Zukunft sehende Augen ich nie blickte, die daraufhin hinaus- und weiter- und forthuschte.

Sie ist ein grausames, verwandelndes und erschreckendes Wesen: Auf erschreckende Weise ist sie es wert, dass man sie umklammert und mit ihr Atem holt.

An manchen Tagen schläft sie, schläft wie eine Tote: Sie ist köstlicher als Rosenduft vor der Morgendämmerung, ein sonnenverwehtes, elfenhaftes Wesen.

Schläft sie, bin ich allein. Eine fragwürdige, schreckliche Ruhe stellt sich ein, eine höllische Stumpfheit, an die allein Gott zu rühren vermöchte.

So wie es aussieht, versuchen weder Gott noch ich, damit zurechtzukommen.

ICH. Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben

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