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2 Kultur und Interkulturalität

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Göhring schlägt ausgehend von kulturanthropologischen Definitionen (deren Zahl „in die Hunderte“ geht, 2007: 85) die folgende Definition für Kultur vor:

Kultur ist all das, was man wissen, beherrschen und empfinden können muß, um beurteilen zu können, wo sich Einheimische in ihren verschiedenen Rollen erwartungskonform oder abweichend verhalten, und um sich selbst in der betreffenden Gesellschaft erwartungskonform verhalten zu können, sofern man dies will und nicht etwa bereit ist, die jeweils aus erwartungswidrigem Verhalten entstehenden Konsequenzen zu tragen. In dieser abgewandelten Definition wird der Unterschied zwischen passiver und aktiver Rollenkompetenz wie auch der Umstand berücksichtigt, daß dem handelnden Subjekt jeweils die Option des erwartungskonformen und des abweichenden Verhaltens offensteht. Außerdem wird der Beobachtung Rechnung getragen, daß in manchen Gesellschaften das „akzentfreie“ Auftreten eines Ausländers als störend, als irgendwie „ungrammatisch“ empfunden wird, weil man dem „Fremden nicht nur eine gewisse „Narrenfreiheit“ zugesteht, sondern Interferenzerscheinungen in seinem Verhalten direkt erwartet. (Göhring: 2007: 108)

Kultur wird hier also als eine Art Bringschuld des Lernenden definiert, als etwas, das man „wissen, beherrschen und empfinden können muß“, um zumindest die Wahl zu haben, sich „erwartungskonform“ zu verhalten, sofern man das will. Eine solche Definition richtet sich in erster Linie an Personen, die mit Menschen aus anderen Kulturen arbeiten können müssen, was auf DolmetscherInnen auf jeden Fall zutrifft.

An einer anderen Stelle schlägt Göhring eine Kulturdefinition vor, die sich explizit an den Anforderungen, die an ÜbersetzerInnen und DolmetscherInnen gestellt werden, orientiert:

Kultur, das ist all das, was ich wissen und woran ich glauben muß, um mich in der betreffenden Kultur wie ein Einheimischer in allen Rollen unauffällig bewegen zu können. Dieses Kulturverständnis zu erreichen, das müßte idealiter das Ziel des Dolmetschers und Übersetzers sein. D.h. er sollte die kognitiven Elemente, die emotionalen Tendenzen und die Glaubensinhalte der Zielkultur so weit kennenlernen, daß er mit ihren Mitgliedern weitgehend akzentfrei interagieren kann. (Göhring 2007: 85f.)

Dass die DolmetscherIn „unauffällig“ zu sein hat, ist durchaus ein erstrebenswertes Ideal, in letzter Konsequenz ist es jedoch selbstverständlich nicht erreichbar, und es ist zu vermuten, dass Göhring weniger eine Unauffälligkeit im Sinne der Unsichtbarkeit meint, als vielmehr eine Unauffälligkeit im Sinne einer gelungenen Anpassung – gelungen durch die Fülle an erworbenen Kenntnissen, die eine Wahlfreiheit ermöglicht: Nur derjenige, der weiß, welche Erwartungen an ihn gestellt werden, hat auch die Wahl, den Erwartungshorizont zu durchbrechen und gegebenenfalls die Konsequenzen dafür zu tragen. Wer nicht über die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt, muss unter Umständen Konsequenzen tragen, ohne zu verstehen warum.

Göhring bietet zur Illustration des Kulturbegriffs zusätzlich eine Metapher an:

Eine andere Definition, die ich gerne verwende, besagt, daß Kultur so etwas wie ein Schrank ist mit einer Fülle von Schubladen, in denen Problemlösungen lagern, mit denen die Kulturmitglieder an die Umwelt, an den Umgang mit den anderen und an den Umgang mit sich selbst herangehen. Der Übersetzer und Dolmetscher steht vor dem Problem, daß der Schrank, den er sich aufgrund der Einflüsse seiner Ursprungskultur gebastelt hat, in dem Moment, in dem er sich in den Bereich seiner Zielkultur begibt, aufhört, gültige Lösungen anzubieten. Der künftige Sprachmittler kann nicht umhin, sich noch einen zusätzlichen Schrank zu konstruieren und sich nun je nach Aufgabe in dem einen oder anderen Schrank zu bedienen. (2007: 86)

Daraus ergibt sich, so Göhring, dass jemand, der den Dolmetschberuf ernst nimmt, nicht an dem Schicksal vorbekommt, „in gewissem Umfang ein marginal man zu sein, sowohl in seiner eigenen Kultur als auch in seiner Zielkultur bzw. seinen Zielkulturen“ (ebda, S. 86f.), ein Schicksal, das DolmetscherInnen bis zu einem gewissen Grad mit KulturanthropologInnen teilen.

Im vorliegenden Kontext ist der Begriff „Zielkultur“ nicht als homogen zu begreifen: Eine Russisch-DolmetscherIn, die mit tschetschenischen KlientInnen arbeitet, ist nicht a priori mit der tschetschenischen Kultur vertraut (das gilt für zahlreiche andere Sprachen auch, die im Asylbereich nachgefragt sind), jedoch kann sie mit Hilfe ihrer Russisch-Kenntnisse Zugang zu der tschetschenischen Kultur gewinnen.

Für translatorisches Handeln ist die kulturelle Dimension von entscheidender Bedeutung, indem sie alle gesellschaftlich bedingten Aspekte des menschlichen Lebens beinhaltet, und somit ist Translation immer auch als ein kultureller Transfer zu betrachten (vgl. Kadrić et al. 2012: 27ff.). „Kultur entsteht aus dem Bedürfnis der Menschen, sich adäquat auf die Realität zu beziehen. Was als adäquat gilt, unterscheidet sich je nach Gesellschaft und den kollektiven Bedürfnissen dieser Gesellschaft“ (ebda., S. 29). Ergänzend zu dieser Begriffsdefinition und bezugnehmend auf das Thema Dolmetschen in der Psychotherapie sei angemerkt, dass eine Gesellschaft, ebenso wie eine Einzelperson, unterschiedliche Perioden durchläuft – eine Friedensperiode unterscheidet sich maßgeblich von einem Kriegszustand. Somit ist bei der Auseinandersetzung mit KlientInnen aus anderen Kulturkreisen unbedingt zu bedenken, dass deren Verhalten zum Teil sicherlich kulturell bedingt sein mag, zu einem anderen Teil jedoch auch von anderen Faktoren abhängig ist, wie Kriegserleben, Flucht, Migration, extreme Armut, Ungewissheit über den Aufenthaltsstatus, individuelle Aspekte etc.

Dolmetschen in der Psychotherapie

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