Читать книгу Teheran im Bauch - Mathias Kopetzki - Страница 10

Landung

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Als mich jemand an den Arm tippte, schreckte ich hoch. Es war die Stewardess, die mir erneut zu erkennen gab, dass ich meinen »seat belt« zu »fasten« hätte. Doktor Kiavani war ihrer Anweisung ausnahmsweise gefolgt, hatte sich angeschnallt und grinste mir zu.

Ich räkelte mich auf meinem Polster und begann zu begreifen, dass ich tief geschlafen haben musste. Die Blätter, die eben noch auf meinem Schoß gelegen hatten, hafteten ungeordnet im Sitznetz.

»Das war ich«, sagte der Doktor. »Das Zeug ist Ihnen runtergefallen.« Er kicherte. »Keine Angst, ich hab nicht reingeschaut.«

Ich nickte, verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln, richtete meine Rückenlehne und legte den Gurt um die Hüften. Dann rieb ich mir die Augen, streckte meinen Oberkörper und starrte aus der Luke. Sofort begann mein Magen wieder zu rebellieren: Anflug auf Teheran.

Es war schon dunkel und Lichterketten in den unterschiedlichsten Farben blinkten mir entgegen, flackernde Dioden, die ein aufregendes Nachtleben verkündeten, das ich da unten nicht unbedingt erwartete – der Beleuchtungssalat einer Zehn­millionen­­metro­pole. Schon meinte ich Moscheen zu entdecken, pfeilartige Minarette und Mausoleen mit großen Kuppeln und Plätzen, wo irgendwelcher Imamen gedacht wurde oder Leuten, die mit ihnen zu tun gehabt hatten. Täuschte ich mich, oder vernahm ich durch das Brummen der Motoren den Muezzin über den Dächern der Stadt?

Ich schaute auf meine Armbanduhr und stellte sie auf iranische Zeit um, die ich einem Bildschirm an der Decke entnahm. Es war 22 Uhr, wir schienen pünktlich zu sein. Wie mein Erzeuger im letzten Telefongespräch versichert hatte, würde er zusammen mit der Familie ab zehn in der Ankunftshalle warten. Es fiel schwer, mir auszumalen, was da gleich auf mich zukommen würde.

Ich legte die Hand auf den Bauch. Um meinen Magen zu beruhigen, hätte ich mir gern einen Schnaps gegönnt. Doch ich vermutete, in einem muslimischen Staatsflugzeug war es nicht sehr ergiebig, den zu bestellen.

Ansonsten hatte das Team meine Bedürfnisse mehr als gestillt. Bis zu dem Moment, in dem ich eingeschlafen war, futterte ich nahezu durchgängig. Kaum war das Hühnchengericht mit grobkörnigem Reis verschlungen, warteten in Honigpaste verarbeitete Pistazientrüffel, ein Schälchen Obstsalat und schwarzer Tee mit Kandis auf mich, dazu Fruchtbonbons und ein Päckchen Orangensaft. Vor dem Flug war ich so nervös gewesen, dass ich nichts hatte zu mir nehmen können, umso besser schmeckte es jetzt in der Maschine. Alles schien frisch, gut gewürzt, gezuckert, und mein Gaumen frohlockte. Wenn das ein Vorgeschmack auf Teheran war, ließ es sich dort leben – vielleicht handelte es sich aber auch nur um die Henkersmahlzeit?

Hatte ich alles verdrückt, begannen die Stewardessen, neue Süßigkeiten anzubieten: ein bisschen Vanilleeis, Rhabarber- und Quittensorbet, Cola und noch mehr Fruchtbonbons. Bei keiner Speise konnte ich widerstehen, meine Geschmacksnerven hätten mir das übel genommen.

Kaum waren die Süßigkeiten alle, nahte schon das nächste Hauptmahl: rosinengespickter Reis mit einer Art Spinatsauce. Der Reis war ein Weltwunder, mit Abstand der beste, den ich je gegessen hatte. In seiner deftigen Süße entsprach er genau meinem Geschmack. Die Sauce aber ließ ich nach einer Löffelspitze stehen. Ich war zu satt, um den Magen mit vergleichsweise mäßigen Gaumenfreuden zu beleidigen.

In den Esspausen hatte ich gelesen, um nicht ständig mit Doktor Kiavani reden zu müssen: im Brief meines Vaters, dem Schwedenkrimi und einem iranischen Reiseführer, der so alt war wie ich. Den hatte ich in einem Kreuzberger Antiquariat aufgestöbert. Wie ein Zeitreisender war ich gespannt zu erfahren, ob das heutige Teheran mit meinem vorrevolutionären Handbuch übereinstimmte. Manchmal hatten mich auch die Bordbildschirme abgelenkt, wo eine unlustige iranische Komödie gelaufen war, immerhin mit englischen Untertiteln. Soweit ich mitbekommen hatte, ging es um einen Fischer, der andauernd ins Wasser fiel. Nun, da sich die Durchsagen der Piloten und Stewardessen mehrten, die Passagiere unruhiger wurden, das Geschnatter lauter und die Bewegungen hektischer, beobachtete ich zusammen mit dem Doktor einige Damenköpfe in den Sitzreihen vor uns, die ihre Haarpracht unter bunten Tüchern und Schals verschwinden ließen. »Die Mullahs regieren schon, wenn Sie das Flugzeug betreten«, flüsterte er mir zu. »Bei Iran­Air müsste man sich als Frau schon in Hamburg verhüllen.« Er schüttelte den Kopf. »Affentheater nenne ich sowas.«

Doktor Kiavani rückte seine Lesebrille zurecht, die er auf der Nasenspitze hielt, um die »Financial Times« zu studieren. »Aber wer hält sich schon daran? Geld ist Geld, mein Freund, und die Leute, die hier sitzen, bringen welches, also lässt man sie in Ruhe.«

Minuten später waren sämtliche Frauenhäupter abgedeckt.

Als die Maschine aufsetzte, krallte ich meine Finger in die Armlehnen, denn beim Aufschlag hatte ich nicht mehr das Gefühl, in einem Flugzeug zu sitzen, eher in einem Fahrgeschäft beim Oktoberfest: Die Boeing schien das Gleichgewicht zu verlieren. Trotzdem folgte den ersten Sekunden auf der Landebahn Applaus und Johlen, vermutlich aus Höflichkeit oder reiner Überlebensfreude. Ich selbst atmete lieber noch mal kräftig durch. Nun waren wir also da, es gab kein Zurück, und ich bekam eine Ahnung davon, in Teheran zu sein.

Die Abschiedsworte, die durch die Boxen säuselten, verstand ich nicht, da der Kapitän vergaß, sein Farsi zu übersetzen. Diese Sprache würde mich also die nächsten Wochen begleiten.

Beim Öffnen der Gepäckfächer drückte mir Doktor Kiavani eine Karte in die Hand. Verständnislos schaute ich sie an. »Hotel Golden Dragon« war darauf zu lesen und eine Teheraner Adresse in arabischer und lateinischer Schrift.

»Falls Sie bestimmte Bedürfnisse haben«, lächelte er. »Mich finden Sie dort häufig, die Damen da wissen einen zu unterhalten …«

Ich blickte auf. »Prostitu…« Ich bremste mich. »Im Iran?«

Er wirkte entrüstet. »Wo denken Sie hin! Zeitehe – so heißt das hier. Man schenkt sich einen Spruch und schon ist man verheiratet. Und eine Stunde später geschieden. Alles ist legal.« Er schmunzelte. »Ich sag’s ja: Iraner lassen sich immer etwas einfallen.«

Ich lächelte irritiert zurück, während mich die Masse der Passagiere Richtung Ausgang schob.

Nachdem ich in der Flughalle nach einstündigem Schlangestehen – das schien mein Schicksal zu sein – dem Polizisten im Einreisehäuschen endlich meinen Pass reichen durfte, musterte der mich, ohne ein Wort zu sagen. Abwechselnd mit mir betrachtete er den Ausweis, bis ich begriff, dass mein Aussehen nicht zu den Daten passte, die er dort las. Er sprach zu mir auf Farsi, doch zur Antwort konnte ich nur mit den Achseln zucken.

»You’re not iranian?«, fragte er schließlich, und ich schüttelte belustigt den Kopf. Er stolperte vermutlich darüber, dass ich keinen ortsüblichen Namen trug. Vielleicht machte mich das verdächtig, und er hielt mich für einen Mossad-Agenten.

Plötzlich stockte mein Atem. Ich erinnerte mich, was ein befreundeter Jurist mir vor der Visabeschaffung geraten hatte: Auf keinen Fall sollte ich angeben, meinen Vater besuchen zu wollen. Als leiblicher Sohn eines Persers galt ich im Iran selbst als einer, auch wenn mein Pass was anderes sagte. Weil ich demzufolge in meinem Vater-Land wehrpflichtig war, durfte ich mit meiner frisch gewonnenen Staatsbürgerschaft auf der Stelle eingezogen werden: zwei Jahre Militärfolter in einem Unrechtsregime! Als Kriegsdienstverweigerer konnte ich mir Netteres vorstellen. So hatte ich der Iranischen Botschaft erzählt, ich wollte bloß Freunde besuchen. Doch wusste ich, wie weit die Informationsquellen dieser Gottesrepublik reichten?

Ein älterer Polizist mit Locken schlenderte in die Kabine. Wie sein Kollege trug er ein grellgrünes Hemd zu einer Uniformhose. Er warf mir einen spöttischen Blick zu und studierte ebenfalls meinen Reisepass. Dann flüsterte er mit dem Jüngeren, nahm einen Telefonhörer in die eine, in die andere Hand meinen Ausweis und gab ans Ende der Leitung meine Passnummer durch. Dass ich langsam unruhig wurde, zeigte ich nicht. Ich versuchte locker zu wirken, doch konnte ich nicht verhindern, dass ein Schub Schweißperlen auf meine Stirn trat. Ich lächelte mir Mut zu. Bis jetzt war nichts Schlimmes passiert, ich brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben und hatte mir nichts vorzuwerfen: Ich trug einen böhmischen Nach- und einen christlichen Vornamen, mein Pass war deutsch und gültig und mein Visum auch – obwohl ich nicht wusste, was das in diesem Staat zählte.

Wieder versuchte der Jüngere, der sich mittlerweile gesetzt hatte, ein Gespräch mit mir in der Landessprache zu führen. Wieder zuckte ich mit den Schultern. Statt es mir auf Englisch zu übersetzen, drehte er sich zu seinem Kollegen und rief ihm etwas zu, das die beiden sehr lustig fanden.

Irgendwann legte der Telefonmann den Hörer auf die Gabel, drückte gemächlich einen Stempel auf mein Visum, reichte mir mit einem Grinsen den Pass durch die Scheibenöffnung und wies mich mit einer Handbewegung ins Land. Ich atmete auf. Eine Kostprobe iranischer Machtspielchen hatte ich überstanden. Wenn das in den nächsten Wochen so weiterging, würde ich hier noch Spaß haben.

Der Flughafen Mehrabad begrüßte mich mit bronzefarbenen Stahlträgern und Goldbeleuchtung. Die Halle war eng, von Gästen übervölkert, mit Marmor verkleidet und Teppichen geschmückt. Das wirkte beinahe zu gemütlich für den Airport eines Staates, den die Welt eher mied.

Am Rollband kam ein Kind mit braunen Augen auf mich zu. In Hamburg hatte ich schon Bekanntschaft mit ihm geschlossen: die kleine Maja. Einen Meter über ihr lächelte mir die Mutter ins Gesicht.

»Hatten Sie einen guten Flug?«, fragte sie.

»Ich wurde verwöhnt wie bei einem Staatsempfang«, antwortete ich.

»Wenn Sie das Essen meinen«, sagte sie, »das ist hier normal. Iraner sind schließlich Genießer.« Sie grinste mich vielsagend an.

»Ach so? Dann muss ich wohl für die Rückreise einen zusätzlichen Sitz buchen, weil ich mich verdoppelt habe!«

Sie lachte und ihre Pupillen glänzten. Einen weißen Schal hatte sie um Haar und Halspartie geschwungen. Mit dem Zeigefinger umklammerte sie das Händchen ihrer Tochter.

»Hast du ein Bonbon?«, fragte Maja, und ich hätte mir denken können, warum sie auf mich zugekommen war. Diesmal musste ich sie enttäuschen: Von meiner Fressorgie in der Maschine war nichts übrig geblieben. Als ich das beteuerte, fing sie an zu weinen.

»Gleich bekommst du eins«, beschwichtigte ihre Mutter. »Amu Darius hat ein Bonbon für dich, mein Schatz.«

»Sie werden abgeholt?«, erkundigte ich mich, während mir Maja, die sich schnell wieder beruhigt hatte, ein Plastikmotorrad in die Hand drückte. Neugierig beobachtete sie, was ich damit anstellen würde. Begleitet von Mundgeräuschen ließ ich es durch die Luft sausen. Die Kleine kreischte vor Vergnügen und klatschte in die Hände.

»Amu Darius ist die Vorhut«, erklärte mir die Mutter. »Er ist der Bruder meines Vaters und der einzige, der mich nach meiner Scheidung in Deutschland besucht hat. Er wird nett zu Maja sein.«

Am Zittern ihrer Stimme erkannte ich, dass sie davon nicht überzeugt war. Sie wirkte nervös, nervöser als ich. Um uns zu beruhigen, starrten wir eine Weile auf das Rollband, das schon einige Zeit unbeladen rotierte. Die Umstehenden mit Kofferbuggies und Kleinkindern schienen das mit Gleichmut zu ertragen.

»Warum dauert das so lange?«, fragte ich die Rothaarige, nachdem eine halbe Stunde später noch kein Gepäckstück zu sehen war.

»Bei uns Westlern wird mehr gefilzt«, antwortete sie. »Die suchen nach Waffen, Drogen, Alkohol, Popmusik.« Sie lächelte spöttisch. »Das was sie finden, reißen sie sich selbst unter den Nagel.«

»Vielleicht ist es ja mein iPod, der den Betrieb aufhält!«, fiel mir plötzlich ein. »Dummerweise hab ich ihn im Koffer gelassen!«

Unvermittelt prustete ich los, weil ich mir Mullahs mit langen Bärten und Turban vorstellte, die meine Kopfhörer in die Ohrmuscheln schoben und zu R’n’B abtanzten. Wie um meine Vermutung zu widerlegen, rollten in diesem Moment die ersten Koffer aufs Band.

Irgendwann hievte ich auch meinen auf den Buggy. Der blähte sich auf vor Geschenken, Fotoalben, Büchern und Klamotten und war kaum noch zu heben. Anschließend wühlte ich in seiner Seitentasche und wurde rasch fündig. Ich packte das aufgetriebene Karamellbonbon aus und überreichte es zum Abschied der kleinen Maja. Die jauchzte, und es verschwand im Mund.

»Wünschen Sie mir Glück«, sagte die Rothaarige, als ich ihr die Hand drückte, und erst jetzt fiel mir auf, dass ich ihr weder meinen Namen genannt, noch ihren erfahren hatte. Nun war es zu spät. Ich nickte zögerlich und blickte ihr noch einmal in die Augen, die erneut davor waren, meine aufzusaugen. Ich überlegte, ihr meine Visitenkarte zu schenken. Im letzten Moment riss ich mich zusammen und ließ es bleiben.

»Sie mir auch«, sagte ich leise, und zwang mich, nicht zurückzuschauen, als ich die beiden, die noch weiter auf ihre Habseligkeiten warteten, am Rollband stehen ließ.

Mahnend bewachten die handgemalten Visagen von Chomeini und Chamenei in Überlebensgröße die Empfangshalle, die ich durch die Fensterfront ausmachte, welche den Sicherheitsbereich vom öffentlichen trennte. Ans Glas unterhalb von ihnen quetschten sich Dutzende von Gesichtern und winkten uns Gelandeten mit Armen, Kameras und Blumensträußen zu. Ich schob verwirrt meinen Buggy voran und überlegte, wie ich unter diesen Umständen meine unbekannte Familie entdecken sollte. Und sie mich.

Ich stierte durch die Scheibe. Alle sahen ähnlich aus: schwarze Haare, Sakkos oder Hemden die Herren, Kopftücher oder dunkle Tschadors die Damen – ein einziger Menschenbrei.

Ich kramte mein Handy hervor, das ich nach der Landung angestellt hatte: keine neue Nachricht. Mein Vater besaß auch kein Mobiltelefon, bei dem ich mich melden konnte.

Mir fiel die Notlösung ein, welche ich mir vor Tagen überlegt hatte, und griff in meine Hosentasche. Ich zog die zerrissene Silberkette heraus. Für den Fall, dass keiner von uns den anderen erkennen würde, hatte ich sie mitgenommen. Vielleicht war der Gedanke kitschig gewesen, aber nun trug ich sie als Erkennungsmerkmal vor mich hin.

Mein ganzer Körper spannte sich und im Magen lag ein Fels. Im nächsten Moment beschloss ich, nichts mehr zu denken, mich nur noch treiben zu lassen. Ich atmete tief ein und aus, wie bei einer Schauspielübung, und merkte, dass mir das gut tat. Um einen klaren Gedanken zu fassen, war ich zu aufgeregt. Plötzlich schien es, als würde mein Blick aus dem Kopf heraustreten und mich von oben betrachten. Nüchtern, wie bei einem Film, der mich kalt ließ. Zusammen mit einer unüberschaubaren Menschenmasse wälzte ich mich durchs Portal. Hinter der Absperrung kreischten Kinder, brüllten aufgeregte Männer, rückten lachende Frauen ihre Tücher zurecht, um die Angehörigen in Empfang zu nehmen. Erhobene Arme und Freudentränen verkündeten Heimat und Familie, zumindest für das Gros der Passagiere, die mit mir gereist waren. Ich selbst spürte keine Freude und auch nichts von Familie. Ich fühlte mich allein, hatte Angst, sperrte meine Augen auf und wusste nicht, wozu. Hilflos hielt ich meine Kette vor mich und hatte nicht die Spur einer Ahnung, an wem oder was ich mich orientieren sollte.

Teheran im Bauch

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