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Winter in Salzburg
ОглавлениеEine Woche nach dem Termin beim Jugendamt waren meine Ferien beendet. Mit aufgedunsenem Rucksack voll Essensvorräten und einem Rollkoffer gewaschener Klamotten reiste ich zurück in meinen österreichischen Studienalltag.
Vor den Weihnachtsferien war ich ein Musterschüler gewesen. Das Studium hatte im Oktober begonnen und fraß mein Privatleben. Ich arbeitete 13 Stunden am Tag, und wenn meine Kollegen in die Kneipe gingen, schnappte ich mir den Schlüssel für den Gesangsraum und machte Stimmübungen. Ich belegte Kurse, die ich nicht brauchte, doch die mich interessierten, und steckte mir in der Mittagspause einen Korken zwischen die Zähne, um die Aussprache zu verbessern. Ich war beseelt von meinem Berufswunsch – und dankbar und glücklich, die erste Hürde genommen zu haben: eine Schauspielausbildung an einer staatlichen Hochschule. Am Mozarteum in Salzburg wurden von tausend Bewerbern nur zehn Leute aufgenommen.
Der Ehrgeiz, eine dieser umkämpften Eignungsprüfungen zu bestehen, hatte meine letzten Jahre bestimmt. Ich hatte daran geschuftet, härter als am Abitur. Jeder Groschen, der vom mickrigen Zivildienstgehalt abkömmlich war, floss in Workshops, Privatunterricht und Bahnfahrten zu Aufnahmeprüfungen im gesamten deutschsprachigen Raum. Als ich in Salzburg bestanden hatte, legte ich den Rest aufs Sparbuch. Mit diesem Geld musste ich die nächste Zeit auskommen. Meine Eltern wären nicht in der Lage gewesen, mir Flausen zu finanzieren – schon gar nicht in der teuersten Stadt Österreichs: Papa war Ende 60 und in Rente, Mama arbeitete ehrenamtlich für die katholische Kirche. Ich wusste, was es wert war, in Salzburg zu sein. Für mein Studium blutete ich und hatte nicht vorgehabt, es aufs Spiel zu setzen. Doch nach den Ferien war ich ein anderer Mensch.
Die Sache mit meinem Erzeuger hatte mir einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Das Treffen mit den Persern und der Besuch im Jugendamt hatten dafür gesorgt, dass meine Herkunft aufgeklärt war. Fragen, die mich immer begleitet hatten, wurden beantwortet. Ich hatte Gewissheit über meine biologischen Eltern und hätte mich entspannt meiner Zukunft widmen können. Aber das Gegenteil war der Fall.
Die Ereignisse während der Weihnachtstage hatten eine Kiste geöffnet, die fest verschlossen gewesen war – und was zum Vorschein kam, zog mir den Boden unter den Füßen weg. Ich hatte das Gefühl, wieder Säugling zu sein: Da waren Eltern, die mich nicht haben wollten. Und nun wollten sie plötzlich doch?
Zurück in Salzburg kam ich mir hilflos vor wie ein Baby, das in fremde Hände gegeben wurde: Ich konnte schreien, doch nichts dagegen tun. Auf einmal schien mein Leben nicht mehr sicher zu sein – und ich mir nicht mehr sicher, wer ich war.
Es begann harmlos. In der ersten Woche schwänzte ich den Unterricht, um in Wien einige Tage ein Mädchen zu besuchen, das ich bei den Prüfungen kennengelernt hatte. Wenig später brach ich mir im Suff einen Zeh. Die Verletzung war schnell geheilt, doch ich nahm sie zum Anlass, einen Monat vom Körpertraining fernzubleiben, das mir sonst heilig war. Bei Improvisationen ging ich nur noch selten auf die Bühne, statt in den Gesangsraum nach Hause, und der Korken lag in irgendeiner Ecke. Mit meinen Kollegen redete ich kaum. Wenn sie abends zusammen auf ein Bier gingen, trank ich meines woanders. Ich vertraute mich niemandem an, hatte nicht einmal Lust, jemandem zu begegnen.
Einige Wochen duschte ich nicht, strich jeden Abend alleine durch die aufgemotzten Gassen. Aus einem Musikladen stahl ich regelmäßig CDs, aus einem Supermarkt Coladosen und Schokoriegel. Ich wurde fetter, weil ich ausschließlich bei McDonald’s aß, und besuchte den langersehnten Traumunterricht nur noch widerwillig. Alle merkten, dass ich mich gehen ließ. Ich spürte ihre wachsende Abneigung und tat nicht viel dagegen.
Als ich eines Nachmittags betrunken zu einer Probe erschien, knallte es. Ich hatte die Szene abgebrochen, weil ich grundlos angefangen hatte zu lachen. Victoria, mit der ich vor den Ferien befreundet gewesen war, die sich aber immer mehr von mir zurückzog, begann zu heulen. Sie schrie: »Mathias, du stinkst!« An Weitermachen war nicht zu denken.
Der Professor sagte, wir sollten uns alle in einen Kreis setzen.
Der Vorfall wurde diskutiert. Ich schwieg und hörte mir die Äußerungen meiner Kollegen an. Mir war immer noch mehr zum Lachen als zum Heulen zumute.
Lydia rief: »Du bist so antriebschwach, Mathias!«
Hannes warf ein: »Ich kann nicht verstehen, wie man sich so wenig auf eine Gruppe einlassen kann.«
Und Sara ergänzte: »Momentan störst du die Harmonie der Klasse! Sensibel bist du, aber nur was dich betrifft!«
Der Professor, ein glatzköpfiger 68er mit Jeansjacke, Dauergrinsen und Silberblick meinte, nachdem wir alle eine zeitlang auf den Boden gestarrt hatten: »Übrigens wiegst du zu viel, und das sieht man auf der Bühne.« Er ließ einen Blick über meine Kameraden gleiten. »Theater ist ein Mannschaftssport«, sagte er. »Wer nicht mitmacht, kann sich ein anderes Spiel suchen.«
Das war deutlich. Das erste Semester galt als Probesemester. Ich hatte mich mit meinem Verhalten auf die Abschussliste gesetzt.
Vielleicht war die Drohung gut gemeint, doch ich konnte sie nicht ernst nehmen. Nichts von dem, was Salzburg mir bot, konnte ich in diesen Wochen ernst nehmen. Meine Gedanken waren woanders.
Ich hatte Saeed Moghaddam dummerweise meine Studienanschrift hinterlassen. Somit war es nur eine Frage der Zeit, wann eine Nachricht von meinem »Vater« ankommen würde.
Das Paket, das schließlich eintraf, war so groß wie ein Umzugskarton. Bei den lateinischen Buchstaben, die auf die Pappe geschrieben waren, hatte sich jemand sichtlich Mühe gegeben, vermutlich um Transportschwierigkeiten zu vermeiden. Aber der Poststempel verriet, dass es schon eine Weile unterwegs gewesen war.
Ich saß auf dem Bett meines Mansardenräumchens, als ich die Sendung öffnete – sie war randvoll mit Pistazien gefüllt. Ich griff hinein und zog ein bronzefarbenes Porzellangemälde hervor. Das Motiv zeigte zwei Vögel auf einem Baum voller Blüten. Der eine war kleiner und der große fütterte ihn. Zumindest wirkte es so, weil der Kleine den Schnabel aufhielt und der andere hineinpickte.
Ich legte das Porzellanbild zur Seite und wühlte erneut in den Pistazien. Ein Brief kam zum Vorschein. Darauf stand in Großbuchstaben: MEIN SOHN MATHIAS.
Ich riss ihn auf und holte das gefaltete Papier heraus. Dazu einen kleinen Stapel Fotos. Auf dem ersten sah ich einen weißhaarigen, kräftigen Mann. Er stand auf einem Balkon, der mit Palmen umrandet war, und blinzelte in die Kamera. Das Gesicht konnte ich schlecht erkennen, weil das Foto aus größerer Distanz geschossen war und die Umrisse verschwommen blieben. Einen Schnurrbart entdeckte ich dennoch.
Auf einem älteren Bild befand sich ein forscher Schönling – höchstens 25, mit schwarzer Löwenmähne und bombastischem Hemdkragen. Die Knöpfe waren bis zur Brust geöffnet. Auffallend an seinem Gesicht waren die breite Nase und das ironische Grinsen. Den Fuß hatte er lässig auf einem Stuhl abgestellt.
Das also war er. Damals und heute. Ich konnte nicht verhindern, dass meine Hände zitterten.
Das alte Foto stammte eindeutig aus den 70ern. Die Schlaghose und der Schnitt seines Oberhemdes verrieten das ebenso wie der Backenbart. Gut sah er damals aus, voll Selbstvertrauen und Tatendrang. Ich konnte mir vorstellen, dass meine »Mutter« auf ihn geflogen war.
Ich versuchte, seinen Blick auf beiden Bildern einzufangen, aber weder das eine noch das andere Motiv ließen das zu.
Ein drittes Foto zeigte, wie ein dunkelhaariges Mädchen vor einem Orangenbaum saß. Ich schätzte sie auf 18. Ich wendete das Bild und las in unbeholfener Schrift:
»Deine Schwester Taraneh, sie ist verheiratet.«
Ein weiteres präsentierte einen Jugendlichen, etwa 14, der auf Teppichen stand und in die Linse lachte. Ich erfuhr auf der Rückseite, dass es sich dabei um meinen »Bruder« Mohammed handelte, der ein erfolgreicher Ringer wäre. Dann las ich den Brief.
In mühevollem Deutsch schrieb er, dass er glücklich wäre, mich gefunden zu haben, weil er so lange nach mir gesucht hätte. Seit meiner Geburt hatte er nie aufgehört, an mich zu denken, jeden Tag, und immer für mich gebetet. Jetzt hatte Allah, der Allmächtige, seinen sehnlichsten Wunsch erfüllt und mich für ihn gefunden. Er wollte alles wissen über mich, wie ich lebte, was ich machte und wie meine Kindheit gewesen war. Er würde mich besuchen und tausend Briefe schicken und sie von mir erhalten wollen. Wenn ich etwas brauchte, müsste ich ihm nur schreiben. Ich sollte oft zu Saeed und Rahim gehen, damit sie ihm viel erzählen könnten über mich und mir auch über ihn. Er würde mich am liebsten anrufen, aber er hätte von Saeed erfahren, dass ich in Salzburg kein Telefon hätte und das betrübte ihn. Ob ich nicht zur Post gehen könnte, um mit ihm zu telefonieren. Mein Bruder Mohammed und meine Schwester Taraneh freuten sich auch so sehr. Sie hätten seit ihrer frühsten Kindheit immer nach mir gefragt. Es wäre sein Herzenswunsch, von mir Post zu bekommen, und er würde jetzt gleich für mich beten.
Ich hielt das raue Papier in der Hand, auf welches Tränen tropften. Ich knüllte es zusammen und warf es in die Ecke.
Dann setzte ich mich an meine Schreibmaschine, spannte einen Bogen ein und hämmerte in die Tasten:
Sehr geehrter Herr Lashgari,
ich hoffe sehr, dass ich mich mit diesem Brief verständlich machen kann: Falls mein Deutsch zu schwierig ist, sollten Sie es sich von einem Dolmetscher übersetzen lassen.
Es tut mir leid, ich kann nicht Du zu Ihnen sagen, da Sie etwas sehr Fremdes für mich sind, aus einer völlig fremden Welt, die mir Angst einjagt. Darüber hinaus kenne ich Sie nicht, kein bisschen. Sie sind mir so unbekannt wie nur irgendjemand. Trotzdem suchen Sie den Kontakt zu mir. Und das nur, weil Sie sich in den Kopf gesetzt haben, dass Sie mein »Vater« sind.
Sie müssten eigentlich besser wissen, was es wirklich bedeutet, Vater zu sein: Sie haben zwei Kinder, die Ihnen prächtig geraten sind, wie ich auf den Bildern sehe. Meinen Respekt. Bei mir ist es Ihnen nicht gelungen. Da ist es jemand anderem gelungen, und das müssen Sie akzeptieren.
Bitte versuchen Sie nicht weiter, mich zu kontaktieren, weil das keinen Sinn hätte – dies ist meine letzte und einzige Antwort auf Ihre drängenden Versuche.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin Ihnen nicht böse. Wegen gar nichts bin ich Ihnen böse. Ich habe Sie nur nie vermisst. Und auch jetzt nicht.
Wenn Sie glauben, dass Sie weiter zu Ihrem Gott für mich beten wollen, dürfen Sie das gerne tun. Ich kann das nicht verhindern. Wenn Sie weiterhin froh sind, mich gefunden zu haben, und Ihrer Familie von mir erzählen, so wünsche ich Ihnen gute Unterhaltung dabei. Tun Sie mir bitte nur einen Gefallen: Belästigen Sie mich nicht länger, weder schriftlich, telefonisch, noch sonst irgendwie. Sie haben mit meinem Leben einfach nichts zu tun.
Mit freundlichem Gruß,
Mathias Kopetzki
P.S.: Selbstverständlich vielen Dank für die netten Geschenke. Die haben leider das Gegenteil von dem erreicht, was sie vermutlich sollten.
Ich lehnte mich zurück und atmete auf. Dann zog ich den Zettel heraus, steckte ihn in einen Briefumschlag, schrieb sorgsam die persische Adresse vom Päckchen ab und brachte ihn am nächsten Tag zur Post. Als ich die Marken aufklebte und ihn genussvoll in den gelben Kasten gleiten ließ, hatte ich das sichere Gefühl, niemals wieder was von diesem Typen zu hören.