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Jahresbeginn in Oldenburg

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Meine Adoptiveltern sind vom Krieg erzogen worden. Papa wuchs in Schlesien auf, kämpfte als Jugendlicher an der Westfront, geriet in amerikanische Gefangenschaft und suchte seine vertriebene Bauernfamilie quer durch die Trümmerspur, die von Deutschland übrig geblieben war.

Mama verbrachte die Kindheit auf einem Hof seines Nachbardorfes und erlitt im Gegensatz zu ihm die Vertreibung durch die Polen hautnah. Im letzten Kriegsjahr verlor sie ihre Mutter an Tuberkulose und zwei Schwestern durch dieselbe Krankheit. Bevor die Besatzer kamen, um ihre Heimat zu rauben, war sie mit ihren Geschwistern in einem Breslauer Kinderheim untergebracht, weil der Vater Soldat gewesen und lange nicht zurückgekommen war. Da war sie zehn. Sie hatte bei den Ordensschwestern, die das Heim führten, Prügel, Drangsal und Kälte erduldet. Wer tagsüber keine Mahlzeit erhalten wollte, musste nachts nur das Bett nässen. Erschien sie zu spät zum Sechs-Uhr-Gebet, wuchteten Stockschläge auf ihre Hand.

Damals hatte sie geschworen, wenn sie die Hölle überleben würde und einmal Kinder hätte, es ihnen niemals schlecht gehen zu lassen. Diesen Schwur hat sie gehalten. Wenn auch keines der drei, die sie später großzog, ihre eigenen sein sollten.

Das Büro für Adoptionsangelegenheiten befand sich im obersten Stock des Oldenburger Rathauses. Als wir eintraten, wühlte eine Frau in einem Aktenberg.

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, trat sie auf uns zu und reichte uns geschäftig die Hand, »Heinecke mein Name.«

Die Autofahrt in die Innenstadt war wider Erwarten entspannt gewesen. Ich hatte auf dem Beifahrersitz neben meinem Papa gefläzt, der von seiner Imkerversammlung berichtet hatte. Ich hörte kaum hin. Wenn ich ehrlich war, tat ich das selten, wenn er was sagte.

Er war ein kleiner, humorarmer Mann mit wenig Haar, gebogener Nase und einer Kuhle in der Stirn, die von einem Bombensplitter rührte. Das letzte Jahrzehnt vor seiner Rente hatte er bei der Bundeswehr im Kleiderdienst verbracht. Nach dem Baurückgang Ende der 70er-Jahre war er als Maurer arbeitslos geworden. Als Vater blieb er unnahbar.

Immer, wenn es im Haus Probleme gab, verzog er sich in seinen Hühnerstall oder verkroch sich im Garten bei den Bienenstöcken. Reden konnte ich mit ihm allenfalls über Tiere oder Fahrzeuge, doch als ich aufs Gymnasium wechselte, versuchte ich es gar nicht mehr. Zu dieser Zeit hatte er mir eine gescheuert, weil ich nach einem Streit bis zum Abend verschwunden geblieben war. Seither bat ich ihn höchstens, mich irgendwo hinzufahren, abzuholen oder mein Fahrrad zu reparieren. Meist kam ich mir schäbig dabei vor.

Nun aber, als er seinen karierten Hut lüpfte, in den Polsterstuhl fiel und herumschaute im Räumchen, das eine Mischung war aus beamtenhaft steril und kinderfreundlich, mit Mobiles an der Decke und Zeichnungen an den Schränken, fragte ich mich, was für Gedanken ihn jetzt beschäftigten.

»Adoptionsfall Kopetzki«, murmelte Frau Heinecke hinterm Schreibtisch. Sie blätterte konzentriert oder tat wenigstens so. Wie eine übereifrige Lehrerin wirkte sie, mit Kassenbrille und zerstörter Dauerwelle. Ich schätzte sie auf 45.

Sie musterte uns und versuchte ein Lächeln. »Ich habe hier gar nicht so viel über Mathias«, gestand sie und zog ein paar Formulare hervor, die sie mit gekräuselter Stirn überflog. »Die wenigen Akten, die ich finden kann, beziehen sich mehr auf Ihre anderen Söhne. Axel, geboren 1964 in Hannover, zwei Jahre Heim in Wolfenbüttel, adoptiert 1967. Steffen, geboren in Bad Harzburg, kam nach einjährigem Heimaufenthalt 1970 zu Ihnen.«

Ich überlegte, ob meine Brüder jemals den Versuch unternommen hatten, etwas über ihre leiblichen Eltern herauszufinden. Im Gegensatz zu mir waren sie später von ihnen getrennt worden. Steffen nach ein paar Monaten, Axel nach einem Jahr. Die alleinerziehende Mutter von Steffen fühlte sich mit dem Kind überfordert. Axel war oft und gerne geprügelt worden. Man hatte bei einem Arztbesuch am ganzen Körper Blutergüsse, Schürfungen und Prellungen entdeckt, woraufhin die Eltern angezeigt worden waren. Später wurde ihnen das Sorgerecht aberkannt.

Ich stand mit meinen Brüdern kaum in Kontakt, wir hatten uns auseinandergelebt, sobald wir das gemeinsame Nest verlassen hatten, im Grunde schon davor. Steffen wechselte mittlerweile Städte, Jobs, Freundschaften und Liebhaber schneller als andere Leute ihre Wäsche. Axel, neun Jahre älter als ich, war schon Moped gefahren und hatte mit Mädchen geschäkert, als ich in den Kindergarten kam. Und er hatte sich für eine kriminelle Laufbahn entschieden – wenn er im Haus war, versteckte ich immer mein Taschengeld –, aber auch zwei Töchter gezeugt, die bei der Mutter lebten. Mittlerweile sah er die weniger als mich, nämlich gar nicht.

Axel hatte braune Haare, Segelohren, war kurzsichtig und reichte mir bis zur Schulter. Steffen war drahtig, blond, zwei Meter groß mit Sommersprossen, ein wahrer Surflehrer. Ich selbst schwarzhaarig, gelockt, etwas kräftig, mit einer dicken Nase. Man brauchte uns nur anzusehen, um zu ahnen, dass unsere Leben wenig miteinander zu tun haben würden.

Frau Heinecke strahlte mich an. »Der kleine Mathias kam als letzter zu ihnen, einen Monat nach seiner Geburt. Erst einmal in Pflege, ein Jahr später zur Adoption.«

»Das ist richtig«, bestätigte meine Mutter, die angestrengt zuhörte. Mein Vater putzte seine Brille. Obwohl mir nicht danach war, verzog ich mein Gesicht zu einem Lächeln.

»Die Geburtsurkunde haben Sie ja. Darauf ist nur die Mutter vermerkt. Was ich über sie sagen kann, ist nicht viel. Sie war 17, hatte aber die Reife einer 14-Jährigen.«

Ich horchte auf. »Wie bitte?«

Die Dame schaute wieder in die Akte. »Ja, was genau das 1973 bedeutet hat, weiß ich allerdings nicht. Hier steht: Durch Nierenerkrankung ihrer eigenen Mutter während der Schwangerschaft geistig beschädigt, daher nicht in der Lage, ein Kind zu erziehen.«

Ich musste lachen. Das wurde ja immer schöner. Da wurde ich von den eigenen Eltern in dieses Bürokratenparadies zitiert, als ob ich was verbrochen hätte, um zu erfahren, dass ich nicht nur der Sohn eines vielweibernden Kameltreibers war, sondern auch der einer notgeilen Idiotin.

»Ist das – vererbbar?«, fragte ich vorsichtig.

Frau Heinecke lächelte beruhigend. »Nein, nein, keine Angst – die Ursache ist klar die Nierenerkrankung. Das ist nicht erblich. Manchmal wurden diese Gründe aber nur vorgeschoben, um den wirklichen Anlass der Abgabe zu verschleiern.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte meine Mutter.

Frau Heinecke lehnte sich vor. »Zu dieser Zeit war es nicht gerade schick, von einem Gastarbeiter schwanger zu werden. Schon gar nicht als Minderjährige. Aber in den Unterlagen steht noch ein Zusatz: Frau Klara Glienicke, also die Mutter, erbittet ausdrücklich, das Kind nicht im Heim, sondern bei einer Familie aufwachsen zu lassen. Das klingt geistig einigermaßen reif.«

Ich nickte. Das tat es. Auch wenn ich versuchte, das Ganze an mir abperlen zu lassen, atmete ich innerlich auf.

»Ich könnte Ihnen ein Angebot machen«, sagte Frau Heinecke, wandte sich mir zu und sprach jetzt sehr deutlich. »Es gibt bei uns einen kleinen, netten Aufenthaltsraum. Dort kann man Tee trinken und sich gemütlich unterhalten. Wenn ich ihre Mutter anschriebe und sie fragen würde, wie es wäre, ihren Sohn, dem es gut geht und der anständig aufgewachsen ist, kennenzulernen, könnten wir ein erstes Treffen hier stattfinden lassen. Ganz ungezwungen, unter sechs Augen, also mit mir. Erfahrungsgemäß ist das schlechte Gewissen der Mütter nämlich sehr groß, so dass eine Verabredung zu zweit leicht ausufern kann. Auf neutralem Boden …«

»Nein!«, schrie ich.

Ich zitterte. Was fiel dieser Dame denn ein? Sie sollte lediglich in ihren Akten wühlen und Informationen absondern. Ich war kurz davor zu platzen. Plötzlich spürte ich die Hand meiner Mama auf dem Arm. Ich blickte zur Seite und sah, dass sie feuchte Augen hatte.

Frau Heinecke schien irritiert über meine Reaktion, widmete sich aber schon wieder ihren Unterlagen. »Da haben wir die Bestätigung der leiblichen Eltern«, sagte sie und schob mir ein vergilbtes Formular zu. Darauf war zu lesen, dass ein gewisser Mohsen Lashgari und Klara Glienicke die Geburt ihres Sohnes Mathias bestätigen und das Kind zur Adoption freigeben würden.

Ich gab den Wisch meinem Papa. Ich beobachtete, wie er einen kurzen Blick darauf warf und ihn anschließend Mama reichte. Die betrachtete ihn genauer.

»Der – der leibliche Vater ist Perser«, sagte sie. »Mathias wurde von ihm kontaktiert, ohne dass er es wollte.« Sie wirkte entrüstet. »Wie kann so etwas vorkommen?«

Frau Heinecke lachte. »Oh, da gibt es viele Möglichkeiten. Natürlich existiert Datenschutz und ich kann Ihnen versichern, dass bei uns ausschließlich die Kinder – und das erst ab 16 – Einblick in ihre Akte haben dürfen. Wir hatten hier aber auch schon leibliche Eltern, die nicht loslassen konnten und ihre Kinder seit der Adoptionsfreigabe bespitzelt haben.«

Sie machte eine Pause und blickte in die Runde. »Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf: Ich für meinen Teil wäre bloß vorsichtig bei – diesen Ländern.«

Sie sprach absichtlich nicht weiter, vertraute darauf, dass wir verstanden. Ich tat das nicht.

»Was?«, erwiderte ich.

Sie sah mich durchdringend an. »In islamischen Staaten ist es üblich, dass die Kinder im Trennungsfall den Vätern zugesprochen werden, ich denke nicht, dass ein verlorener Sohn davon eine Ausnahme macht. Wir hatten den Fall, bei dem ein neunjähriger Junge von seinem leiblichen Vater in den Libanon entführt wurde, obwohl seine deutsche Mutter das Sorgerecht hatte. Sie hat nie wieder etwas von ihm gehört.«

Mama warf mir einen langen und besorgten Blick zu. Ich senkte meinen, sonst wäre ich ausgerastet. Ich kam mir vor, als wäre ich schon entführt. Und zwar nicht von islamischen Terroristen, sondern von einer Gruppe paranoider Deutscher, die krampfhaft versuchten, mir meine Herkunft zu vermiesen.

»Und Sie glauben, dass diese Gefahr bei einem 21-jährigen Studenten genauso besteht?«, fragte ich ruhig.

Sie zuckte mit den Achseln. »Immerhin sind Sie Sohn und nicht Tochter. Das wertet Sie gesellschaftlich auf. Zumindest in solchen Ländern.« Sie kramte wieder im Papier. »Ich will Sie nur gewarnt haben. Ich lese, dass Herr Lashgari vier Monate nach Ihrer Geburt hier erschienen ist, um seine Adoptionseinwilligung rückgängig zu machen. Er wollte das Kind mit in den Iran nehmen. Die Behörden haben seinen Antrag selbstverständlich abgelehnt.«

Ich starrte sie mit offenem Mund an, doch das schien sie nicht zu merken. »Er ist noch mal zurückgekommen?«

»Ja, aus den Akten geht das hervor …«

»Aus dem Iran?«

»Ob er zwischenzeitlich im Iran war, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall ist er hier vorstellig geworden.«

Plötzlich änderte sie ihren Ton. »Da liegt ja noch etwas!«

Sie schob mir einen verfärbten Briefumschlag zu. Darauf war schemenhaft persische Schrift zu lesen, oder arabische – ich konnte das nicht unterscheiden. Der Inhalt war eine Klappkarte im Stil der damaligen Zeit. »Glückwunsch zur Geburt!«, war dort in knallroten Lettern gedruckt. Und die Radierung einer Mutter, die lächelnd ihr schreiendes Kind im Arm hielt.

Ich öffnete die Karte und es fiel mir ein Gegenstand in den Schoß – die zerrissene Hälfte einer Silberkette. Verdutzt betrachtete ich sie längere Zeit, las dann die Karte vor und stolperte bereits über den Begrüßungssatz:

Bismillahi-r-rahm-ani-r-rahim, im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen! Mein lieber, geliebter Sohn! Gerade bist du geboren und ich kann dir nicht sagen, wie weh es tut, dass ich dich verlassen muss. Vielleicht wirst du irgendwann alles verstehen. Diese halbe Kette ist ein Geschenk für dich. Ich habe sie selbst geschmiedet und zerrissen. Wenn du eines Tages jemandem begegnest, der die andere Hälfte besitzt, dann weißt Du, dass du mich gefunden hast. Dein Vater Mohsen

Ich riss die Augen auf und wandte mich zur Seite. Papa blickte mich an. Ich glaubte zu sehen, dass er nicht wagte, seine Meinung zu äußern. »Ist was?«, fragte er.

In diesem Moment konnte ich nicht mehr. Ich stieß die Tür auf und rannte auf den Gang. Mir war egal, dass dort Leute standen und hinterherglotzten. Ich lief ins nächste Zimmer, das offen stand. Es war leer bis auf eine Sitzgruppe und wahrscheinlich das gemütliche Teezimmer, in dem sich locker-flockig Ex-Eltern und ihre abgesonderten Kinder nach Jahren gegenübersaßen, als wäre dazwischen nichts gewesen.

Ich schlug die Tür zu, griff ein Stoffkissen, das auf einem Sessel lag, und presste es mir vor den Kopf. Ich schrie. Mit aller Macht stieß ich heraus, was sich angesammelt hatte. Und als ich nach Minuten das Kissen herunternahm, mit brennenden Augen und schmerzender Kehle, war es nass von Spucke und Tränen.

Teheran im Bauch

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