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2. Die Vieldimensionalität des Lebens und der Selbststand

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Das menschliche Leben hat viele Dimensionen. Das ist eine triviale Aussage. Spannend aber wird die Frage, wie diese Dimensionen sich gegenseitig im Leben durchdringen. Wissenschaftstheoretisch müssen die verschiedenen Ebenen von Naturwissenschaft, Medizin, Psychologie, Soziologie, Philosophie und Theologie genau auseinandergehalten4 werden und greifen doch im konkreten Leben ineinander. Die Naturwissenschaften versuchen, die Welt und die Einzeldinge in ihrer Ausdehnung und Messbarkeit zu erfassen (res extensa bei René Descartes), die Geisteswissenschaften befassen sich mit dem Nicht-Ausgedehnten und Nicht-Messbaren des menschlichen Geistes (res cogitans). Diese Sichtweise des Descartes impliziert zwar einen Leib-Seele-Dualismus in der Unterscheidung von Geist und Materie, aber diese Unterscheidung ist zunächst geeignet, um die unterschiedlichen Perspektiven aufzuzeigen. Sie wachsen heute mehr und mehr zusammen.

Es gibt Phänomene im Leben, die sich der Messbarkeit und Wägbarkeit entziehen. Es wäre unsinnig, das Gewicht oder die Zentimeter von Gedanken oder von Liebe und Treue bestimmen zu wollen. Im menschlichen Lebensvollzug existiert beides zugleich: die messbaren physiologischen Veränderungen im Organismus (Zellveränderungen, Blutwerte, Hormone) und die nichtmessbaren Phänomene wie Liebe, Treue, Vertrauen, Wahrheit. Außerdem gibt es noch die emotionale Gefühlsebene, die von der Psychologie betrachtet wird. Alle Dimensionen sind im Menschen gleichzeitig „da“, sie dürfen wissenschaftlich gesehen nicht vermischt, im Lebensvollzug aber auch nicht von einander getrennt werden. Auch hier gilt: unvermischt und ungetrennt.

Eine naturwissenschaftlich geprägte Welt geht oft davon aus, dass nur das existent ist, was messbar ist und übersieht dabei, dass die größere Zahl von alltäglichen Vollzügen des menschlichen Miteinanders gerade nicht messbar ist. Es sind dies die geistigen Vollzüge und die täglichen personalen Begegnungen. Jeder Gedanke, jedes Versprechen, jede Liebe und Treue sind in dem Sinne zunächst nicht messbar. Zwar versucht die Hirnphysiologie immer wieder, auch den Vollzug des Denkens messbar zu machen und die hirnphysiologischen Veränderungen beim Denken und Fühlen darzustellen. Aber mit diesen Messungen erfasst man nur die „Außenseite“ eines Gedankens oder eines Gefühls, nicht aber den Gedanken, das Gefühl oder das Phänomen der Liebe selbst. Das Messbare ist die objektive Sicht auf ein Phänomen (auch als die „Dritte-Person-Perspektive“ bezeichnet), während das subjektive Erleben und der subjektive Vollzug („Erste-Person-Perspektive) kaum messbar ist.

So sehr es hilfreich ist, hirnphysiologische Veränderungen im Gehirn liebender Menschen, meditierender Mönche oder betender Menschen aufzuzeichnen, so wenig erfasst man doch die Liebe als Liebe oder das Gebet als Gebet. Man kann auch bestimmte Konfliktsituationen im Gehirn darstellen, aber damit ist der Konflikt noch nicht als Konflikt in seiner existentiellen Bedeutung für zwei Menschen begriffen. Man erfasst nur eine Korrelation zwischen Gedanken und hirnphysiologischen Veränderungen, nur die äußeren Wirkungen eines inneren Geschehens. Vor allem kann man nicht sagen – wie manche Hirnphysiologen es tun – dass die Veränderungen im Gehirn die Ursache für den Gedanken, der Konflikt, die Tat, der Liebe sind. Man kann nur von einer Korrelation zwischen Gedanken und Veränderungen im Gehirn sprechen.5

Will man bis hierher eine Zusammenschau der verschiedenen wissenschaftlichen Zugänge zum Menschen (Naturwissenschaften, Psychologie, Soziologie, Medizin, Philosophie, Theologie) im Blick auf den konkreten Lebensvollzug des Menschen wagen, kann man es so sehen: Der Mensch hat naturwissenschaftliche Grundlagen (z. B. Genetik, Epigenetik, Geschlecht), er hat psychische Prägungen durch Eltern und Vorfahren (Beziehung zu den Eltern, Ängste, Konflikte) und er hat einen menschlichen Geist (er ist ein Geistwesen), der sich philosophisch und theologisch mit Fragen nach dem Sinn des Lebens und den letzten Gründen des Seins auseinandersetzen kann. Die natürlichen Vorgaben sind dem Menschen mitgegeben, sein Leben ist ihm als Aufgabe aufgegeben. Im Leben gibt es – wissenschaftlich gesehen – die naturwissenschaftlich messbare und verallgemeinerbare Dimension im Menschen, die psychisch individuell geprägte, die mit anderen individuellen Prägungen verglichen werden kann und die geistige, die im Lebensvollzug etwas Einmaliges und Unvergleichbares enthält: Jeder Mensch hat seine eigenen Gedanken, seine individuelle Lebensführung, seinen eigenen Namen, seine Identität und Berufung, seine je individuelle Krankheit und letztlich stirbt er auch seinen eigenen Tod. Niemand kann ihn dabei vertreten.

Allerdings vermischen sich gerade heutzutage die Ebenen des Verallgemeinerbaren und des Individuellen immer mehr. Gerade die naturwissenschaftlichen Forschungen im Bereich der Medizin, die eigentlich alles zu verallgemeinern suchen, nehmen gegenwärtig immer mehr das Individuelle in den Blick. Sie erkennen, dass jeder Mensch ein ganz individuelles Genom hat und zum Beispiel Arzneimittel wegen dieser Unterschiedlichkeit in jedem Menschen anders wirken. Das Fachgebiet der Pharmacogenomics befasst sich mit diesem Einmaligen. Man spricht immer mehr von individualisierter Medizin, die sich mit dem Individuellen im Blick auf die genetische Ausstattung befasst. Philosophisch-theologisch umfassender muss man von einer personalisierten Medizin sprechen, die sich dem ganzen Menschen mit seiner Innenwelt, Umwelt und seiner seelisch-geistigen Verfasstheit zuwendet. So gibt es verallgemeinerbare Phänomene im Menschen, die wissenschaftlich gesehen vergleichbar sind, aber es ist doch immer der eine, individuelle und einzigartige Mensch, der krank ist, sich freut, denkt und fühlt.

Die Einzigartigkeit des Menschen hat auch mit seinem Geistsein und seiner Vernunftbegabung zu tun. Die geistige Verfasstheit setzt den Menschen instand, sich mit den verschiedenen Dimensionen seines Seins in seinem Lebensvollzug auseinandersetzen und sie zu einer Einheit zu integrieren. Er kann seine genetischen Veranlagungen nutzen, sich mit seinem Leben identifizieren oder es ablehnen, er kann ein gutes Selbstverhältnis aufbauen und seine elterlichen Prägungen in sein Leben integrieren oder sich dagegen wehren. Der Mensch kann auf Grund seiner Geistverfasstheit auch über sein ganzes Leben und den Tod nachdenken. Der Geist ragt von sich aus über den Tod hinaus und in den Bereich jenseits des Lebens hinein. Er übersteigt die Endlichkeit der Welt. Der Mensch, der seine Existenz und die Welt als endlich erkennt, ist mit seinem Geist schon darüber hinaus. Er ist schon im Raum des Absoluten, sonst könnte er die Grenze nicht als Grenze erkennen, so hat es Hegel formuliert.

Der Mensch kann nicht nur nach draußen über die Endlichkeit hinausschauen, sondern auch nach innen. Er kann in jeder Re-flexion (reflectere, sich zurückbeugen) und inneren Versammlung in einer schrittweisen Distanzierung von den Dingen langsam zu sich selbst zurückkehren und bei sich sein. Die Tradition nennt das die vollständige Rückkehr zu sich selbst. In dieser Rückkehr zu sich selbst überschreitet der Mensch sich ebenfalls auf einen letzten Grund hin und findet diesen letzten Grund in sich. In ihm findet er seinen inneren Halt und Selbststand und lernt von dort aus, es mit sich selbst auszuhalten. Das Selbststand-Finden und das Mit-sich-Aushalten hat Seneca etwas anders ausgedrückt: Es ist das Zeichen des geordneten Geistes, dass er es mit sich selbst aushält: „Für den ersten Beweis eines geordneten Geistes halte ich das Stehen-Bleiben-Können und Mit-Sich-Verweilen.“6

Dieses Mit-sich-selbst-Aushalten, Mit-sich-allein-sein-Können und seinen Selbststand in sich finden ist die Bedingung der Möglichkeit für gelingende Beziehungen. Nur wer es mit sich selbst aushält, wird es auf Dauer auch mit anderen aushalten. Ohne dass der Mensch seinen Selbststand erlangt – und diesen erreicht der Mensch nur, wenn er sich selbst überschreitet und im Absoluten seinen tragenden Grund und letzten Halt findet (s. u.) –, steht der Mensch immer in der Gefahr, andere oder anderes zu verabsolutieren oder als fremd abzulehnen. Wenn die innere Souveränität oder der Selbststand fehlen und das sichere In-sich-Stehen nicht entwickelt ist, wird das Fremde immer als etwas Bedrohliches erlebt und abgelehnt werden. Das In-sich-Halt-Finden ist deshalb so wichtig, da es dem Menschen Stand und „Sicherheit“ verleiht, es mit sich selbst auszuhalten, den anderen in seiner Andersartigkeit zu „ertragen“ und – bei Freundschaften und Beziehungen – den anderen nicht durch Verabsolutierung zu überfordern. Der mangelnde Selbststand, die mangelnde innere Sicherheit und die Verabsolutierung des anderen stört zwischenmenschliche Beziehungen und letztlich auch die Freiheit des Menschen. Denn diese bedeutet über die Handlungsfreiheit und Willensfreiheit hinaus auch die Freiheit von bestimmten Abhängigkeiten, die den Menschen hindern, sein inneres Wesen und seine Berufung leben zu können.7

Leben - Wie geht das?

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