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EIN HERBER VERLUST FÜR DIE KUNSTWELT

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Capitano Dal Fiesco und Brigadiere Donati von der Polizei, Chiara Frattini von der Versicherungsgesellschaft AEIOU, Chefportier Bruzzo sowie Collocini und Poletti aus der Chefetage des Opificio delle Pietre Dure machten sich gemeinsam auf den Weg in die Restaurationswerkstatt. Am Eingang wurden sie von einem der drei Mitarbeiter der Spurensicherung höflich, aber bestimmt gebeten, vor der Werkstatt zu warten, bis ihre Arbeit beendet war. Als Dal Fiesco zum Protest ansetzte, erwiderte der Beamte im Schutzanzug lapidar:

»Bis jetzt haben wir gar nichts. Wer auch immer hier am Werk war, hat extrem sauber gearbeitet. Domenico, sei so gut und gedulde dich noch fünf Minuten. Dann könnt ihr hereinkommen.«

Dal Fiesco drehte sich resignierend zu Donati um, kam aber nicht dazu, ihn zu fragen, wo denn eigentlich die Kollegen vom Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale geblieben seien, da in diesem Augenblick der Riesenschlangenexperte Alessio Bianchi mit den zwei Mitarbeitern der Florentiner Tierrettung um die Ecke bog.

»Hier geht es zu wie in einem Taubenschlag«, raunte Dal Fiesco Donati zu.

Dieser lächelte säuerlich und nickte.

»Na, schon etwas gefunden?«, fragte Bruzzo in Richtung Bianchi.

»Nein, nichts. Aber ich habe auch kaum Anhaltspunkte, und das Gebäude ist riesig. Boas sind dämmerungs- und nachtaktiv. Tagsüber ziehen sie sich in Hohlräume zurück. Wenn sich hier im Gebäude tatsächlich eine Boa befindet und sie nicht nach draußen entwichen ist, dann finden wir sie am ehesten in der Nacht, denn irgendwann muss die Schlange Nahrung aufnehmen. Und das ist dann unsere Chance.«

Deutlich leiser, mit einem Fingerzeig in Richtung Dal Fiesco und Donati, flüsterte Bianchi dem Chefportier noch augenzwinkernd zu: »Aber wer weiß, vielleicht liefert mir ja die Kavallerie den entscheidenden Hinweis.«

»Wohl kaum«, meinte darauf Bruzzo, ebenfalls mit gedämpfter Stimme. »Die Herren jagen nicht die Schlange, sondern sind hinter einem Kunstdieb her.«

Und dann klärte Bruzzi Bianchi in wenigen Sätzen auf, welches noch viel folgenschwerere Problem ihn und die Chefriege aktuell beschäftigte.

»Dann werde ich mich mal bemühen, dass ich den Herren nicht in die Quere komme und ihnen die Boa vom Leibe halte.« Bianchi strich sich über den Dreitagesbart und machte sich wieder an die Arbeit.

In der Werkstatt waren die drei Spurensicherer mittlerweile am Gehen. Man werde die wenigen Erkenntnisse in einem Bericht zusammenfassen und am Nachmittag übermitteln, erklärte der Beamte, der zuvor Capitano Dal Fiesco um Geduld gebeten hatte und sich den anderen nun als Davide Carbone vorstellte.

»Wir haben kaum verwertbare Fingerabdrücke gefunden. Und auch sonst haben wir wenig bis nichts, was Aufschluss über den Täter geben könnte. Das Bild wurde professionell aus dem Rahmen genommen, der Farbdruck professionell eingespannt. Auch auf dem Fußboden gibt es keine Spuren. Wir werden die Fingerabdrücke durch die Datenbank jagen. Dann wissen wir mehr, aber ich nehme an, dass die Fingerabdrücke jene der Mitarbeiter vor Ort sind. Alles andere würde mich wundern. Was die eingeschlagene Scheibe und die tote Maus anbelangt, weiß ich noch nicht, was ich davon halten soll: Schlägt eine Schlange eine Scheibe ein, um eine Maus zu fangen, die sie dann liegen lässt? Wohl eher nicht. Wir haben die Maus jedenfalls mitgenommen und lassen sie untersuchen.«

Davide Carbone und sein Spurensicherungsteam hatten kaum die Werkstatt verlassen, da läutete Direttore Coloccinis Mobiltelefon. Es war Gasperini von der Portiersloge, der ankündigte, dass Giuseppi Ferro, der Direktor der weltberühmten Uffizien, in wenigen Augenblicken in der Restaurationswerkstätte erscheinen werde. Und er wirke nicht sehr entspannt. Coloccini lockerte seinen Krawattenknoten und machte sich auf das Schlimmste gefasst.

Aber statt ein Donnerwetter loszulassen, machte sich Uffizien-Direktor Ferro nach einer raschen Vorstellung daran, den Anwesenden so viel wie möglich über das geraubte Gemälde zu erzählen, wohl wissend, dass sich der Fahndungserfolg bei einem Kunstraub am ehesten dann einstellt, wenn man die Ermittlungen schnell aufnimmt und seine Fühler in alle möglichen und unmöglichen Richtungen ausstreckt.

»Die ›Anbetung der Könige‹ war einer der ersten größeren Aufträge für den noch jungen Leonardo da Vinci«, eröffnete der weißhaarige Ferro seinen Monolog und zog eine schallplattengroße Farbkopie des Werkes aus seiner Sakko­tasche. »Das Gemälde, das den Altar der Kirche San Donato a Scopeto vor den Stadttoren von Florenz schmücken hätte sollen, wurde nie fertiggestellt. Die Mönche des Augustiner-Klosters betrauten den damals 27-jährigen Da Vinci, ich glaube, es war 1497, damit, ein rund zweieinhalb Meter langes und ebenso breites Bild mit dem damals geläufigen Thema zu malen. Triebfeder hinter der Beauftragung war übrigens Leonardos Vater, Ser Piero di Antoni da Vinci, der in Florenz als Notar tätig war. Leonardo nahm die ›Anbetung der Könige‹ mit großem Elan in Angriff: Eine ganze Reihe von Skizzen, die in namhaften Museen – unter anderem im Louvre – ausgestellt sind, zeugen von der intensiven Vorbereitung auf das Gemälde. Aber: Es kam nie zur Fertigstellung des Bildes. Ich will jetzt nicht auf die Details eingehen. Nur so viel: Leonardo wollte weg aus Florenz und übersiedelte nach Mailand, wo er fortan für Lodovico Sforza, den Herzog von Mailand, arbeitete. Die ›Anbetung der Könige‹ blieb in halbfertigem Zustand zurück: als monochrome Ölzeichnung, mit teilweise sehr detailliert ausgeführten, teils aber auch nur grob skizzierten Figuren sowie architektonischen Elementen im Hintergrund.«

Brigadiere Donati war der Erste, der es wagte, den Direktor der Uffizien in seinem Redeschwall zu unterbrechen: »Aber es gibt doch sicher berühmtere Gemälde von Leonardo da Vinci, oder? Warum hat es der Dieb auf genau dieses abgesehen? Warum stiehlt er nicht eines, das schon fertig ist?«

Ferro verdrehte die Augen und wandte sich vorwurfsvoll an Coloccini: »Zuallererst möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass Kunstobjekte im Opificio delle Pietre Dure anscheinend ungleich weniger gut geschützt und weniger gut bewacht sind als in unserem Haus. Es ist unvorstellbar, dass jemand aus den Uffizien mit einem Gemälde unterm Arm hinausspaziert …«

Direttore Collocini wollte dies keinesfalls auf sich beruhen lassen und warf protestierend ein: »Sie wissen genau, dass das Ganze eine Verkettung unglücklicher Umstände ist. Niemand kann ins Opificio delle Pietre Dure hineinspazieren und Kunstobjekte einfach so mitnehmen. Dagegen verwehre ich mich!«

»Die Umstände werden noch zu klären sein, und vor allem hoffe ich, dass wir die ›Anbetung der Könige‹ bald wieder in Händen halten werden. Unser Ruf steht auf dem Spiel. Wir sind schließlich unseren Sponsoren gegenüber verpflichtet. Was meinen Sie, was derartige Katastrophen für das Spendenaufkommen bedeuten?«, verschärfte Ferro seinen Ton.

Nach einem kurzen »Direttore!« aus dem Munde von Capitano Dal Fiesco kehrte Uffizien-Direktor Ferro wieder zu seinen Ausführungen über das entwendete Gemälde zurück.

»Wenden wir uns wieder dem Gemälde zu: Die Darstellung der Anbetung der Heiligen Drei Könige ist ein traditionelles Sujet der christlichen Malerei. Das Besondere an diesem Bild von Leonardo ist der Aufbau. Vor Da Vinci wurden die Könige und Hirten in horizontaler Aufreihung nebeneinander angeordnet. Leonardo hat die Figuren aber um die Madonna als Mittelpunkt herumgruppiert. Die scheinbare Willkür der Verteilung findet einen Ausgleich in der strengen Dreieckskomposition, in der die Hauptfiguren eingebettet sind.«

Mit einem hörbaren Räuspern versuchte Capitano Dal Fiesco dem Direktor der Uffizien klarzumachen, dass zum gegebenen Zeitpunkt vor allem Fakten, die für die Ermittlungen relevant seien, im Vordergrund stünden. Ferro, der es nicht gewohnt war, sich an den Bedürfnissen anderer zu orientieren, warf Dal Fiesco dafür einen missbilligenden Blick zu.

»Dass die ›Anbetung der Könige‹ unvollendet ist, tut ihrer Bedeutung für die Renaissancekunst und darüber hinaus also keinen Abbruch. Das Bild ist typisch für die frühe Schaffensperiode Da Vincis. Und was hinzukommt: Eine Figur in dem Gemälde, ein junger Hirte, der rechts aus dem Bild blickt, ist das einzige bekannte jugendliche Selbstbildnis von Leonardo da Vinci. Wenn die ›Anbetung der Könige‹ nicht wieder auftaucht, wäre das ein unschätzbarer Verlust für die Uffizien, für Florenz, für Italien, für die abendländische Kultur und die gesamte Kunstwelt.«

Die Versicherungsermittlerin Chiara Frattini war die Erste, die sich nach Ferros Vortrag zu Wort meldete: »Sie haben recht. Der Verlust für die Kunstwelt ist unschätzbar. Sollte das Bild nicht mehr auftauchen, wäre das eine Katastrophe. Nicht nur für die Uffizien, für das OPD, für Florenz und für Italien, sondern auch für die AEIOU. Denn obwohl wir rückversichert sind, bringt uns dieser Diebstahl in eine brenzlige Lage. Noch befinden sich der oder die Täter in einem Umkreis von höchstens 300 Kilometer. Das Window of Opportunity, die ›Anbetung der Könige‹ zurückzubekommen, ist also noch sperrangelweit offen. Aber mit jeder Stunde schließt sich dieses Zeitfenster um ein paar Zentimeter. Da stellt sich mir vor allem eine Frage: Wo sind eigentlich die Kollegen vom Comando Carabiniere Tutela Patrimonio Culturale?«

»Die müssten jeden Augenblick da sein«, versicherte Brigadiere Donati. »Ich habe drei Minuten zuvor eine Textnachricht erhalten. Ein Capitano des Tutela Patrimonio Culturale befindet sich bereits in unmittelbarer Nähe des Opificio delle Pietre Dure.«

»Gut möglich, dass demnächst eine Lösegeldforderung der Täter eingeht. In diesem Fall wissen die Kollegen vom TPC am ehesten, wie man vorzugehen hat«, erklärte Dal Fiesco. »Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass ein gestohlenes Bild durch die Bezahlung eines angemessenen Lösegeldes wiederbeschafft worden ist.«

»Wie recht Sie haben, Capitano Dal Fiesco. Genau dafür sind wir da.«

Alle Augen richteten sich auf den schlanken Mitvierziger in Uniform, der eben in der Tür aufgetaucht war. »Ich darf mich vorstellen: Luca Lezzerini, Capitano des Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale, kurz TPC.«

Er schüttelte reihum die Hände. Mit Dal Fiesco und Donati war er ebenso bekannt wie mit Uffizien-Direktor Ferro. Während der Capitano des TPC in Stichworten auf den allgemeinen Stand gebracht wurde, winkte Dal Fiesco Brigadiere Donati zu sich.

»Habt ihr schon mit dem Nachtportier, diesem Giovanni Fiore, gesprochen?«

»Ja, die Kollegen meinen, sie hätten ihn aus dem Tiefschlaf geholt. Es weist nichts darauf hin, dass er mit dem Diebstahl etwas zu tun hat. Kann natürlich sein, dass er der Komplize des Täters ist, aber Sie haben ja gehört: Fiore ist unbescholten und arbeitet schon lange hier«, erwiderte der Brigadiere.

»Hm«, quittierte Dal Fiesco die Ausführungen Donatis. »Und was haben die Videos der Sicherheitskameras ergeben?«, bohrte er gleich weiter.

»Noch nicht viel. De Luca und Calabrese arbeiten sich in einem Aufenthaltsraum für das Personal hinter der Portiersloge durch das Videomaterial. Sie haben mit den Kameras vor und in der Restaurationswerkstatt sowie mit den Kameras im Eingangsbereich innen und außen begonnen. Anscheinend wusste der Täter ganz genau, wo die Kameras postiert sind. Man sieht bloß Schatten vorbeihuschen. Nicht mehr. Nur in dem Moment, als der Mann mit dem Mondo-Animali-Outfit und der vermeintlichen Schlangenfalle vor der Portiersloge auftaucht, ist er etwas länger im Bild. Aber er hat seine Kappe so tief ins Gesicht gezogen, dass man nicht wirklich viel erkennen kann«, schloss Donati. »Der wusste, was er tut …«

Donatis Mobiltelefon vibrierte. Der Brigadiere nahm das Telefongespräch entgegen.

»Guten Morgen, Carabinere Pinardi, was habt ihr?«

Ein Lieferwagen von Mondo Animali sei um 7.55 Uhr mit einer der Verkehrskameras in Höhe der Autobahnabfahrt Firenze Nord in Richtung Bologna erfasst worden, erfuhr Donati.

»Ein erster Anhaltspunkt«, schöpfte Capitano Dal Fiesco Hoffnung und strich sich über den Kopf. »Schreib den Lieferwagen bitte im Umkreis von 300 Kilometer zur Fahndung aus. Und frag bei Mondo Animali nach, ob ihnen ein Lieferwagen abgeht. Unabhängig davon sollen die Kollegen von der Autobahnpolizei jeden Mondo-Animali-Lieferwagen inspizieren, der ihnen unter die Augen kommt. Ich gehe zwar davon aus, dass der Täter längst das Fahrzeug gewechselt hat, aber vielleicht finden wir in dem Wagen Hinweise.«

Die Anbetung der Könige

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