Читать книгу Mäuse-Mina und der Drachenzauberer - M.C. Hermann - Страница 3

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In dem Augenblick, in dem Mäuse-Mina den alten Mann zum ersten Mal sah, wusste sie, dass die Dinge im Haus sich ändern würden. Er sah nicht aus wie irgendein alter Mann, und sie spürte, dass er böse war. Eisig pfiff der Wind durch den Spalt der Kellertür, hinter der sie sich verbarg, und durch sämtliche Löcher in ihrem abgetragenem alten Mantel, sodass sie schauderte. Aber es kam nicht nur von der Kälte.

Der alte Mann schlurfte durchs Treppenhaus. Dünne, grauweiße Haare krochen wie durchsichtige Würmer über den Kragen seines langen, grauen Mantels, der sonderbar schuppig wirkte, als wäre er aus Krokodilleder gemacht. Kurz konnte Mäuse-Mina seine Augen sehen und wäre vor Schreck fast zurückgeprallt. Sie waren gelb und sahen aus, als wären sie aus den Splittern zerbrochener Flaschenböden zusammengesetzt. Und sie glitzerten auf verwirrende Weise, als spränge das Licht, das auf sie traf, von einem Splitter zum anderen. Mäuse-Mina hatte noch nie solche Augen gesehen. Sie sahen böse aus. Auf kalte, grausame, gelbe Art böse.

Wo war der alte Mann hergekommen? Er war einfach im Haus aufgetaucht. In dem Haus, das Mäuse-Mina als ihres betrachtete. Sie war wütend.

Und sie hatte Angst.


Einige Tage später stand sie an der Hinterseite des Hauses auf der Kellertreppe und beobachtete, wie vier oder fünf Elstern ein Eichhörnchen durch den verwilderten Garten jagten. Vielleicht war der Nager um die Gelege der Vögel herumgeschlichen und erwischt worden. Sie waren wirklich hinter ihm her, verfolgten ihn übers Gras, immer nur knapp einen Meter hinter ihm, versuchten ihm den Weg abzuschneiden, und als er einen Baumstamm hinaufhuschte, griffen sie ihn auch da von allen Seiten an. Mäuse-Mina drückte dem kleinen Kerl die Daumen. Eierdieb oder nicht, fünf gegen einen war gemein.

Die Elstern griffen in Geschwaderform an. Mit ihren schwarzen Rümpfen und den weißen Flügeln sahen sie aus wie Jagdflugzeuge aus Metall. Gnadenlos.

Mäuse-Mina hörte über sich jemanden lachen. Schnell duckte sie sich in den Rahmen der Kellertür und schaute hoch. Der alte Mann lehnte sich aus einem Fenster im dritten Stock und beobachtete die Jagdszenen. Immer wenn es so aussah, als ob es dem Eichhörnchen an den Kragen ginge, kicherte er vergnügt und klatschte in die Hände. Als es dem armen Tierchen schließlich gelang, sich im Unterholz einiger Sträucher in Sicherheit zu bringen, schlug der alte Mann enttäuscht die Fäuste aufs Fensterbrett. Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Wut und Hass.

Mäuse-Mina hatte keinen Zweifel.

Er war böse.


Das Haus, in dem Mäuse-Mina wohnte, stand am Ende einer langen Straße, ganz am Ende, wo niemand mehr so genau hinsah und keiner sich darum kümmerte, was dort vorging. Sie war sicher, es gehörte nicht mehr so richtig dazu und war aus den Gedanken der Menschen herausgerutscht. Die Ziegel der Wände waren verwittert und bröckelig, die Fenster staubig und hier und da fehlten ein paar Dachschindeln.

Schon kurz nach ihrem Einzug hatte Mäuse-Mina gemerkt, dass dieses Haus nicht geheuer war. In den vier Jahren, in denen sie hier lebte, schienen sich die Gänge des Kellers, wo sie ihr Lager hatte, verdoppelt zu haben. Und sie waren lang. Sie hatte nie den Mut gehabt, ihnen länger als zehn Minuten zu folgen. Es war, als streckte das Haus seine Fühler immer weiter in ein seltsames Nirgendwo aus.

Natürlich hatte Mäuse-Mina sich davon überzeugt, dass alle Wohnungen leer standen, bevor sie sich im Keller niederließ, und dort wohnte sie nun seit ihre Eltern sie davongejagt hatten. Eigentlich hatten ihre Eltern sie nicht wirklich davongejagt, wie sie sich manchmal eingestand, aber sie hatten einfach zu viele Kinder gehabt und zu wenig Geld. Mäuse-Mina erinnerte sich an den ständigen Hunger. Und an die Schläge. Eines Tages, kurz nach ihrem siebten Geburtstag, war sie einfach davongegangen, und niemand hatte versucht, sie aufzuhalten.

Ohne lange suchen zu müssen, fand sie das Haus am Ende der langen Straße. Sie hatte sich gefühlt, als wäre sie auch ein bisschen aus den Gedanken der Menschen herausgerutscht, und manchmal dachte sie, das Haus hätte sie gefunden und nicht umgekehrt.

Ohne große Umstände war sie von einer siebenköpfigen Mäusefamilie, die im Keller lebte, adoptiert worden. Die Mäuse versorgten das neue Familienmitglied bereitwillig mit Essen und schleppten Käsestückchen, Brotrinden und Wurstzipfel aus der ganzen Gegend heran. Sie fanden immer etwas, auch wenn es manchmal nicht viel war und einiges davon schimmlig. Mäuse-Mina lernte, mit wenig auszukommen. Außerdem lernte sie die Sprache der Mäuse. Es war eine piepsige Sprache, und es kostete sie einige Mühe, aber nach einem Jahr konnte sie sich fließend mit ihrer neuen Familie unterhalten.

Wenn sie sich manchmal in den weniger staubigen Fensterscheiben der Wohnungen gespiegelt sah, fand sie, dass sie inzwischen selbst fast wie eine Maus aussah. Ihre Haare fielen in dünnen, braunen Strähnen unter einer grauen Wollkappe heraus, und dazwischen streckte sich eine spitze Nase hervor. Tagaus tagein trug sie über T-Shirt und Hose einen braunen Mantel, den sie in einem alten Koffer im Keller gefunden hatte. Wenn sie darauf achtete, von Schatten zu Schatten zu huschen, war es schwierig, sie überhaupt zu entdecken, und darauf war sie besonders stolz. Sie hütete sich, von Erwachsenen gesehen zu werden, denn sie hatte nicht die geringste Lust, in einem Heim zu landen oder bei irgendeiner doofen Familie. Die Mäusefamilie reichte ihr völlig. Und sie hatte auch keine Lust, zur Schule zu gehen, obwohl gleich nebenan eine stand, nur ein verwildertes, abschüssiges, von Unkraut und Sträuchern überwuchertes Rasenstück und einen Maschendrahtzaun entfernt. In den frühen Morgenstunden schlich sie durch einen Gang im Keller, den die Mäuse ihr gezeigt hatten, zu dieser Schule hinüber, um sich und ihre Sachen dort zu waschen - gelegentlich jedenfalls - und um Plastikflaschen mit Trinkwasser zu füllen. Ansonsten aber mied sie die Schule wie die Pest.

Es war ein altes Gemäuer, aus dunkelroten Ziegeln erbaut, und roch nach Holzbänken und Tinte. In den langen düsteren Gänge verirrte sich Mäuse-Mina manchmal, vor allem im Winter, und wenn dann der Hausmeister auftauchte und die Lichter anmachte, gelang es ihr oft nur gerade so eben, im Keller zu verschwinden, bevor die Schulkinder eintrafen.

Alle kannten sie. Von ihnen hatte sie auch ihren Namen bekommen. Manchmal, wenn sie mit ihrer Mäusefamilie durch den Garten ging, kamen die Kinder in die Ecke des Pausenhofs gelaufen, die dem Haus am Ende der Straße gegenüberlag, standen am Zaun und piepsten und lachten und riefen „Mäuse-Mina! Mäuse-Mina!“

Es machte ihr nichts aus. Sie mochte den Namen. Ihren richtigen Namen hatte sie verloren, als sie unterwegs gewesen war. Sie hatte nicht besonders darauf achtgegeben.

Die Kinder verrieten sie nie. Mäuse-Mina nahm an, sie vergaßen sie in dem Moment, in dem sie das Haus betrat, das aus den Gedanken der Menschen herausgerutscht war, und sie war froh darüber.

Alles in allem mochte Mäuse-Mina ihr Leben im dem Haus am Ende der langen Straße, hinter dem es nur Ödland, verlassene Fabriken und einen Kanal gab, und hätte es gegen kein anderes eintauschen wollen.

Bis zu dem Moment, in dem der alte Mann auftauchte.

Man hätte glauben können, er wäre in eine der Wohnungen im dritten Stock eingezogen. Er hatte sogar ein Namensschild an die Tür gehängt. Aber Mäuse-Mina ahnte, dass er nicht von außen in das Haus gekommen war. Das hätten sie und die Mäuse gemerkt. Und in einem Haus wie diesem wurden keine Wohnungen vermietet. Es gab keine funktionierende Heizung und kein fließendes Wasser, geschweige denn Strom. Wer hier wohnte, hatte Grund sich zu verstecken.

Mäuse-Mina hätte nichts dagegen gehabt, ihr Haus mit jemandem zu teilen. Sie war nicht wild darauf, aber sie wusste aus eigener Erfahrung, dass man manchmal eben so ein Haus brauchte. Aber wenn sie an die Augen des alten Mannes dachte, wollte sie ums Verrecken nicht von ihm bemerkt werden.

Wer war er? Was wollte er hier? Was würde er tun, wenn er merkte, dass sie hier wohnte?

Ihr erster Gedanke war, das Haus zu verlassen.

Weg hier! Bevor er mich bemerkt.

Aber wo sollte sie hin? Häuser wie dieses gab es nicht viele. Und dann war da noch ihre Mäusefamilie. Sie konnte sie nicht einfach so verlassen wie ihre Eltern damals, denen es egal gewesen war.

„Ist vielleicht gar nicht so schlimm“, sagte sie sich. „Vielleicht ist er wirklich nur ein alter Mann, der kein Geld hat.“

Aber sie versuchte vergeblich, sich etwas vorzumachen. Sie wusste, dass sich die Dinge in diesem Haus ändern würden. Und sie war alles andere als glücklich darüber.


Mäuse-Mina und der Drachenzauberer

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