Читать книгу Mäuse-Mina und der Drachenzauberer - M.C. Hermann - Страница 9

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Mäuse-Mina konnte nichts sehen, aber heftiger Wind brauste ihr in den Ohren. Ein Sog erfasste sie und zog sie nach vorn. Vergeblich versuchte sie, sich dagegen zu stemmen. Stolpernd geriet sie immer weiter in die Dunkelheit, und es schien leicht abwärts zu gehen.

„Hier muss doch die Wand sein!“, dachte sie. Das Ding stand doch direkt an der Wand!

Ihr wurde schwindlig. Sie glaubte, in einen tiefen schwarzen Abgrund zu fallen.

„Hannes!”, rief sie. Doch der Wind übertönte ihre Stimme, nahm sie ihr einfach weg, jonglierte ein wenig damit herum und ließ sie dann in seiner Tasche verschwinden wie ein Zauberkünstler.

Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie von dem saugenden Wind nach vorn gerissen wurde. Es schien ewig zu dauern. Wenn man in ein schwarzes Loch fällt, das es nicht geben darf, ist jede Sekunde zu lang. Sie überlegte, wie lange es dauern mochte, solch einen Gedanken zu denken. Einen Herzschlag lang? Sie versuchte ihre Herzschläge zu zählen. Oder ihre Gedanken. Sie kam durcheinander. Wusste nicht mehr, was was war.

„Wann hört das auf?”, schrie sie verzweifelt und gab dem Zauberkünstler noch mehr zum Spielen.

Viele Herzschläge oder Gedanken später wurde der Boden auf einmal uneben. Kleine Buckel und Vertiefungen machten das Laufen beschwerlich; mehrmals wäre Mäuse-Mina fast ausgerutscht, doch der Wind, der immer noch kräftig zog, verhinderte, dass sie hinfiel. Dann ließ er nach. So plötzlich, dass Mäuse-Mina stolperte und das Gleichgewicht verlor. Sie fiel nach vorn und landete auf etwas Weichem, das hektisch zappelte.

„Was ist das?”, hörte sie Hannes aufgeregt rufen. Er schlug wild um sich.

„Hör auf! Ich bin´s!”, rief sie. Sie hatte Mühe, den Fäusten des Jungen in der Dunkelheit auszuweichen. Ihre Stimmen klangen seltsam. Die Worte verebbten in flüsternden Echos.

Hannes beruhigte sich. Er suchte nach Mäuse-Minas Hand.

„Wo sind wir?”, fragte er kläglich.

Sie zuckte mit den Schultern, aber da Hannes das nicht sehen konnte, wurde er wieder unruhig.

„Du, Mäuse-Mina! Was ist mit dir? Bist du in Ordnung?”

„Mir geht´s gut”, brummte sie, obwohl sie beim Hinfallen ein paar Schrammen abbekommen hatte. Aber es schien nicht der richtige Augenblick, um sich darüber zu beklagen.

„Meinst du, wir sind in die Wand des Hauses gefallen?”, fragte Hannes. „Vielleicht ist sie hohl.”

„Quatsch”, sagte Mäuse-Mina. Ihr Herz schlug immer noch heftig, und sie versuchte damit aufzuhören, die Schläge zu zählen. Sie musste einen klaren Kopf bekommen. „Die ist doch nicht so dick, dass man darin herumlaufen könnte. Das wäre ziemlich eng gewesen. Um mich herum war jedenfalls gar nichts, nur dieser fiese Wind, der so gezogen hat.”

„Ja”, sagte Hannes. „Man konnte gar nicht anders, als nach vorn zu laufen.”

Sie schwiegen eine Weile.

„Aber was ist es dann?”, fragte Hannes schließlich. Seine Stimme zitterte ein wenig. „Hinter dem komischen Gestell war nur die Wand. Und dahinter nichts. Das Haus steht doch für sich. Das kann doch gar nicht sein.” Er drückte Mäuse-Minas Hand. Sie spürte, wie er schwitzte. „Oder?”

„Wenn das Ding Agaskar gehört”, sagte sie, „wundert mich gar nichts. Alles, was den betrifft, geht nicht mit rechten Dingen zu.”

„Du meinst, es ist Zauberei?”, fragte Hannes unsicher. „Wie die Lakritze?”

„Wahrscheinlich. Vielleicht ist das hier Agaskars Versteck. Wer weiß, was er hier aufbewahrt.”

„Wenn das so ist”, meinte Hannes, „sollten wir abhauen. Was ist, wenn er uns nachkommt?”

Mäuse-Mina stand auf. Hannes hatte Recht. Agaskar konnte jeden Augenblick hier auftauchen. Vielleicht hatte er noch gesehen, wie sie in der Öffnung verschwand, oder er wollte einfach nur nach dem Rechten sehen.

„Los!”, sagte sie. „Weg hier!”

Hannes erhob sich ebenfalls. „Aber wohin?”

Er ging ein Stück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

„Da zieht´s wieder”, sagte er. „Aber jetzt in die andere Richtung. Wollen wir zurückgehen?”

Mäuse-Mina tastete sich zu ihm hin. Sie spürte den Wind, der an ihr zerrte.

„Dann laufen wir ihm vielleicht direkt in die Arme.” Sie schauderte. Im Dunkeln von Agaskar geschnappt zu werden, war eine entsetzliche Vorstellung. „Besser, wir gehen nach vorne und warten ab, ob er kommt. Wir können später versuchen zurückzugehen.”

Sie drehten sich um und gingen in die Richtung, die von dem unheimlichen Wind wegführte. Nachdem sie eine Weile vorangeschritten waren, wurde die Schwärze um sie herum allmählich grau.

„Es wird heller!”, sagte Hannes. „Vielleicht ist da vorne ein Ausgang.”

Im Zwielicht erkannten sie graue Felswände neben sich. Sie glitzerten feucht, und zwischen den scharfen Kanten hing Moos. Im Windzug bewegte es sich ein wenig; es sah aus wie schleimige Haarbüschel.

„Das ist eine Höhle!”, rief Hannes. „Ob wir unter der Erde sind?”

„Da vorne ist Licht!”, sagte Mäuse-Mina.

Hannes rannte los, aber schon nach wenigen Schritten rutschte er auf dem glitschigen Steinboden aus und fiel der Länge nach hin.

Mäuse-Mina hockte sich neben ihn. „Was machst du denn? Wir müssen vorsichtig sein. Wir wissen doch gar nicht, was da vorne ist.” Sie half ihm auf. „Alles in Ordnung?”

Er trat vorsichtig auf. „Geht schon.”

Langsam näherten sie sich dem Licht und erkannten eine fast kreisrunde Öffnung.

„Scheint wirklich ein Ausgang zu sein”, sagte Mäuse-Mina.

Das Licht schimmerte grün und gelb.

„Da sind Bäume”, sagte Hannes, als sie nur noch wenige Schritte von der Öffnung entfernt waren. „Und die Sonne scheint.”

Sie standen am Höhlenausgang und schauten ungläubig nach unten. Vor ihnen lag eine Waldlichtung, umstanden von hohen Fichten und Föhren. Weiße und gelbe Blüten schaukelten sachte im Wind, als schwebten sie über dem Gras. Schmetterlinge flogen umher, Vögel zwitscherten, und über allem lag blendendes, warmes Sonnenlicht. Der Höhlenausgang befand sich in einer Felswand, zu deren Füßen die Lichtung lag. Grobe, verwitterte Steinstufen führten steil nach unten.

„Niemand zu sehen”, sagte Hannes, nachdem er sich sorgfältig umgeschaut hatte. „Anscheinend liegt die Höhle im Inneren eines Felsens. Wir müssen weit außerhalb der Stadt sein.”

Mäuse-Mina befürchtete, dass sie sich weiter von ihrem Zuhause entfernt hatten, als sie sich vorstellen konnten. Auch wenn es nicht wirklich fremdartig aussah, etwas war anders. Trotz der Vögel und des Bienengesumms war es sonderbar still. Nicht einfach ruhig, weil gerade mal alle Geräusche aufgehört hatten, wie bei einer Straße, auf der ein paar Minuten lang keine Autos fuhren, und man wusste, es würde nicht anhalten. Hier war es auf eine dauerhafte Weise still. Es war der Normalzustand. Mäuse-Mina konnte es spüren und fand es unheimlich. Dieser Ort hatte all die Geräusche, die für sie alltäglich waren, niemals kennen gelernt.

Hannes deutete auf die Stufen. „Was ist? Gehen wir runter?”

Mäuse-Mina nickte. Sie hatte ein ungutes Gefühl, aber hinter ihnen war womöglich immer noch Agaskar, und so lange sie die Höhle nicht verließen, konnte er sie leicht aufspüren.

Die Felsstufen waren glatt. Ihre Kanten schienen sich schon vor langer Zeit abgerundet zu haben, und in ihrer Mitte gab es Vertiefungen, als wäre jemand Großes und Schweres dort auf und ab gegangen.

In der Sonne war es sehr warm. Mäuse-Mina schwitzte in ihrem langen Mantel.

„Es ist nicht mal die gleiche Jahreszeit wie bei uns zu Hause”, sagte sie. Es war eiskalt gewesen am Morgen.

Hannes zog den Reißverschluss seiner Jacke auf. „Hochsommer, würd ich sagen. Vielleicht sind wir irgendwo im Süden gelandet. Italien oder so.”

Mäuse-Mina wusste nichts über Italien. Aber sie glaubte, es konnte nicht so weit weg von zu Hause sein wie das hier. Trotz der Wärme sah das Gras auf der Lichtung grün und frisch aus, und die Blüten der Blumen leuchteten, wie Mäuse-Mina es noch nie gesehen hatte.

„Was machen wir jetzt?”, fragte Hannes.

„Am besten, wir verstecken uns.”

Hannes zog unzufrieden die Nase kraus. „Wär vielleicht besser, wenn wir nach Leuten suchen, die wir fragen können, wo wir sind.”

Mäuse-Mina hielt das für keine gute Idee. „Dies ist Agaskars Land.” Was sie sah, wirkte nicht böse, aber sie misstraute allem. Der Wärme, die sie in ihrem Mantel als ungehörig empfand. Der Sonne, die die Schatten auf eine Weise leuchten ließ, die sie nicht mochte. Dem langen Gras, das im Wind merkwürdige Wellen schlug. Und der Stille, die fremdartig und beängstigend war. „Bestimmt ist er von hier gekommen. Was ist, wenn es noch mehr von seiner Sorte gibt?”

„Wir müssen eben vorsichtig sein. Herumschleichen und so.” Hannes schien Gefallen an diesem Abenteuer zu gewinnen. „Wir beobachten und spionieren. Wie Geheimagenten. Lauschen und Informationen sammeln.”

Mäuse-Mina hatte Zweifel, folgte dem Jungen aber, als er forsch drauflos in den Wald marschierte. Immerhin war es dort kühler als auf der Lichtung. Schweiß kitzelte sie zwischen den Haaren, und es fühlte sich an, als ob dort Käfer herumliefen. Sie zog sich die Wollmütze vom Kopf und wischte sich damit die Stirn ab.

„Wir dürfen aber den Weg nicht vergessen, der zur Höhle führt”, sagte sie. „Sonst finden wir nicht mehr zurück nach Hause.”

„Ja ja”, sagte Hannes.

Wege gab es im Wald nicht, aber er war so licht, dass sie ohne Schwierigkeiten vorankamen. Auf dem weichen, von Nadeln bedeckten Boden ging man wie über einen Teppich. Mäuse-Mina schnupperte. Der kräftige Geruch nach Baumharz machte sie ein wenig schwindlig. Die Bäume hinter ihrem Haus rochen nie so.

Mintz schien in der Manteltasche eingeschlafen zu sein. Mäuse-Mina hielt es für besser, sie nicht zu stören. Ihre kleine Schwester konnte manchmal ziemlich anstrengend sein, und Mäuse-Mina hatte keine Lust zu reden.

„Das ist ein riesiger Wald”, sagte Hannes, nachdem sie schon eine ganze Weile unterwegs waren. Er wirkte ernüchtert. „Wahrscheinlich stoßen wir erst auf Leute, wenn wir ihn verlassen. Aber wo mag er zu Ende sein?”

Mäuse-Mina antwortete nicht. Sie war die ganze Zeit damit beschäftigt, sich den Weg zu merken, knickte hier einen Zweig ab, prägte sich dort ein ungewöhnlich aussehendes Gebüsch ein und ritzte auch mal mit einem Stein ein X in eine Baumrinde. Die Angst, den Rückweg nicht zu finden, machte sie ganz kribbelig.

„Am besten, wir gehen zurück”, sagte sie.

„Ein Stückchen noch”, sagte Hannes unschlüssig. „Ich glaube, da vorne wird es heller.”

Rund hundert Meter vor ihnen leuchtete es golden durchs Gezweig.

„Das muss der Waldrand sein!”, rief Hannes und rannte los.

„Warte!”, rief Mäuse-Mina. „Ich denke, wir wollten schleichen und heimlich lauschen?”

Aber Hannes ließ sich nicht aufhalten. Er lief auf das Licht zu, und als er es erreichte, verschwand er.

Mäuse-Mina erschrak. Vorsichtig näherte sie sich dem Waldrand. Das Licht blendete sie so heftig, dass sie erst, als sie die letzten Baumstämme erreichte, Hannes entdeckte. Er stand in der Sonne und beschirmte die Augen.

„Kannst rauskommen”, brummte er unzufrieden. „Ist wieder ´ne Lichtung. Nur größer als die andere.”

Mäuse-Mina trat neben ihn und schaute sich um. Die Lichtung war fast dreimal so groß wie die am Fuße der Felswand und nahezu rund. Auf allen Seiten standen die Bäume dicht wie ein Zaun. Fast genau in der Mitte lag ein Haufen großer Felsbrocken, kreuz und quer übereinander, als wäre dort das Haus eines Riesen zusammengefallen.

Hannes stemmte die Hände auf die Hüften. „Hat keinen Zweck. Wir könnten tagelang hier im Wald herumirren. Wer weiß, wie groß der ist? Besser, wir gehen zurück.” Er schaute unsicher auf die Stelle, an der sie auf die Lichtung getreten waren. „Hast du dir den Weg gemerkt?”

Mäuse-Mina nickte. „Lass uns erst ´ne Weile ausruhen.” Sie zeigte zur Mitte der Lichtung. „Da, bei den Felsen, da ist es schattig, und wir können uns verstecken, wenn einer kommt.”

Als sie den Felshaufen erreichten, kamen ihr Zweifel. Unter den umgestürzten Brocken hatten sich schattige Höhlen gebildet. Sie gaben gute Verstecke ab, aber vielleicht hatten sich Tiere dort eingenistet und würden wütend werden, wenn man sie störte.

„Sollen wir doch lieber woanders hingehen?”, fragte sie unsicher.

„Ach was”, brummte Hannes. „Hab keine Lust, noch weiter zu gehen.”

Er wollte sich neben einen der Felsen setzen, aber plötzlich stieß er einen Schrei aus und sprang zurück.

„Eine Schlange!”, rief er. „Da!”

Mäuse-Mina sah etwas Gelbes durchs Gras gleiten und in einem Schattenloch unter den Felsen verschwinden. Mit einem Satz sprang sie darauf zu und trat der vermeintlichen Schlange auf den Schwanz. Sie mochte keine Schlangen. Schlangen fraßen Mäuse.

„Vorsicht!”, rief Hannes aufgeregt. „Vielleicht ist sie giftig.”

„Aua!”, rief jemand laut, irgendwo zwischen den Felsen.

Mäuse-Mina und Hannes erschraken fürchterlich. Beide wandten sich um, wollten weglaufen, prallten aber dabei so ungeschickt gegeneinander, dass sie ins Stolpern gerieten, auf dem Gras ausrutschten und auf ihre Hinterteile fielen. Hilflos sahen sie, wie sich direkt vor ihnen ein Kopf aus den Schatten zwischen den Felsen schob. Ein gelber, hier und da grün gesprenkelter Kopf mit einer langen Schnauze, schmalen gelben Augen und so etwas wie einem Horn oben auf der Stirn.

„Warum habt ihr mir auf den Schwanz getreten?”, fragte der Kopf in einem wehleidigen Tonfall. „Das war nicht nett von euch. Es hat sehr, sehr weh getan.”

„Eine Riesenschlange!”, schrie Hannes entsetzt. „Eine Riesenschlange, die sprechen kann!” Er konnte den Blick nicht von dem seltsamen Kopf abwenden und versuchte, rückwärts durch das Gras zu krabbeln. „Ich will nach Hause!”, wimmerte er.

Die unbekannte Kreatur kam nun völlig aus der Höhle zwischen den Felsen hervor. Obwohl Mäuse-Mina vor Schreck kaum einen klaren Gedanken fassen konnte, merkte sie, dass es sich nicht um eine Schlange handelte, denn das, was da vor ihr stand, hatte vier kräftige Beine, wie eine Kröte, aber einen langen Hals wie ein Pferd.

Und Flügel.

Flügel, die aus dem Rücken herauswuchsen, wie bei einer Fledermaus. Mäuse-Mina kannte Fledermäuse. Ihre Familie war mit einigen weitläufig verwandt. Aber so große Fledermäuse gab es nicht. Dieses Tier vor ihr war aufrecht stehend mindestens so groß wie sie selbst, aber mit dem dicken Rumpf und dem unruhig hin und her zuckenden Schwanz ungleich massiger.

Außerdem konnte es sprechen.

In der Menschensprache.

Fledermäuse beherrschten die Menschensprache nicht. Mäuse-Mina konnte sich einigermaßen mit ihnen in der Mäusesprache verständigen, obwohl sie seltsame Dialekte sprachen. Mintz sagte immer, Fledermäuse hätten ein Rad ab, weil sie immer so lange mit dem Kopf nach unten hingen, aber ...

Mäuse-Mina merkte, dass ihre Gedanken zusammenhanglos herumflatterten und versuchte, sich zusammenzureißen.

Sie hatte Angst.

Dies war der Ort, wo Agaskar herkam. Er konnte nur böse sein ...

Die Schlangenfledermauskröte musterte sie nachdenklich.

„Ihr seid die seltsamsten Drachen, die ich je gesehen habe”, sagte sie schließlich.

„Bist du ... bist du etwa ein Drache?”, stotterte Hannes.

„Nun ja”, sagte der Drache. „Warum erstaunt dich das so?”

„Es gibt keine Drachen!”, rief Hannes empört.

„Ist das so?”, sagte der Drache. Es klang beleidigt. „Aber mich? Mich gibt es ja wohl, oder willst du das leugnen?”

Hannes schwieg. Sein Mund stand weit offen.

„Hannes will sagen, es gibt bei uns keine Drachen”, sagte Mäuse-Mina. Im Moment schien von dem Untier keine Gefahr auszugehen. Es wirkte sogar einigermaßen höflich und verständig. Es schien ihr angeraten, sich auf die gleiche Art mit ihm zu unterhalten.

„Wirklich?”, sagte der Drache erstaunt. „Das ist ungewöhnlich. Aber wenn ihr keine Drachen seid, was seid ihr dann?”

„Wir sind Menschen”, sagte Mäuse-Mina.

Der Drache riss die Augen auf. Hinter seinen Ohren schnellten zwei kleinere Flügel in die Höhe. Sie waren von dünnen Knochen durchzogen und schienen sehr beweglich. „Menschen! Ich hab davon gehört.” Er schüttelte verwundert den Kopf. „Es gibt sie also wirklich! Ich dachte, das wären nur Märchen.”

Hannes und Mäuse-Mina sahen sich an.

„Bei uns seid ihr die Märchen”, sagte Hannes.

Der Drache schaute zweifelnd, als ob er glaubte, sie wollten ihn verulken.

„Hast du einen Namen?”, fragte Mäuse-Mina.

„Natürlich habe ich einen Namen. Ich heiße Johann Sebastian Rachenglut. Und wie heißt ihr?”

„Hannes”, sagte Hannes. „Und das ist Mäuse-Mina.” Er schien seine anfängliche Furcht überwunden zu haben, erhob sich aus dem Gras und trat dicht an den Drachen heran.

Mäuse-Mina sah es mit Sorge. Zwar wirkte der Drache freundlich, aber wenn dies ein Ort war, wo es Drachen gab, dann war es ein seltsamer und gefährlicher Ort. Drachen spuckten Feuer, so wie Agaskar. Sie mussten vorsichtig sein. Vielleicht hörten die Drachen auf Agaskars Befehl.

Hannes wanderte unterdessen einmal rund um den Drachen herum.

„Mann, Mann”, sagte er. „Ist ja abgefahren! Kannst du mit den Flügeln wirklich fliegen?”

„Natürlich kann ich fliegen”, sagte Johann Sebastian Rachenglut stolz. „Noch nicht so weit und so lange wie ein ausgewachsener Drache, aber ich wachse ja noch.”

„Echt? Wie groß wirst du denn?”

Johann Sebastian reckte sich. „Na, mindestens zehnmal so groß wie jetzt.”

„Abgefahren!” Hannes trat ein paar Schritte zurück. „Kannst du mal ´ne Runde fliegen? Das würde ich gerne sehen!”

Johann Sebastian breitete seine Schwingen aus und flatterte ein wenig damit.

„Vielleicht nachher”, sagte er. „Jetzt möchte ich erst mal wissen, woher ihr gekommen seid. Soweit ich weiß, gibt es im Drachenland keine Menschen. Nur Geschichten, die man sich erzählt, abends in den Höhlen. In den Geschichten machen Menschen oft Jagd auf Drachen.” Er kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Macht ihr so was auch?”

„Nee, nee”, versicherte Hannes schnell. „Ich hab doch gesagt, bei uns gibt es keine Drachen. Nur Geschichten, genau wie bei euch. Und in den Geschichten haben die Menschen Angst vor den Drachen.”

„So?” Johann Sebastian schien erfreut, das zu hören. Er entspannte sich. „Aber sagt mal, woher seid ihr denn gekommen? Wo ist denn bei uns?”

„Wissen wir nicht genau”, schaltete Mäuse-Mina sich ein und warf Hannes einen warnenden Blick zu. „Wir haben uns sozusagen verirrt.” Sie wollte vermeiden, dem Drachen allzu viel zu erzählen. Wenn es hier Drachen gab, die zehnmal so groß wie Johann Sebastian Rachenglut waren, wären sie ihnen hilflos ausgeliefert. Vielleicht würden sie die Höhle zusperren, wenn sie von ihr erfuhren.

Aber Hannes ließ sich nicht aufhalten.

„Da war so ein Ding”, sagte er. „Da, wo wir wohnen. Auf dem Dachboden eines Hauses. Eine Öffnung. Wir sind durchgegangen und in einer Höhle gelandet. Nicht weit von hier, auf einer Lichtung.”

Mäuse-Mina stöhnte innerlich. Aber was konnte sie erwarten von einem Jungen, der Lakritze aß, die ihm ein böser alter Mann gegeben hatte?

„Warum seid ihr durch die Öffnung gegangen?”, fragte Johann Sebastian.

„Da war so ein Mann”, sagte Hannes. „Sein Name ist Agaskar.”

Der Drache zuckte erschrocken zusammen und schüttelte seine Flügel.

„Agaskar? Hat er euch geschickt?” Er ging ein paar Schritte zurück. „Das sag ich den anderen! Kommt mir nicht zu nahe!”

Er sperrte sein Maul weit auf und spuckte Feuer.

Mäuse-Mina und Hannes wichen zurück. Die Flamme des Drachen reichte nicht sehr weit, aber sie spürten die Hitze.

„Immer mit der Ruhe!”, rief Hannes. „Er hat uns nicht geschickt. Wir sind vor ihm geflohen, weil wir Angst vor ihm haben. Er ist böse.”

„Kennst du Agaskar?”, fragte Mäuse-Mina misstrauisch.

Johann Sebastian Rachenglut blieb abwartend außer Reichweite stehen. „Er hat euch wirklich nicht geschickt?”

„Ehrenwort!”, sagte Hannes.

„Ist er denn bei euch? Da, wo die Menschen sind?”

Mäuse-Mina nickte. „Er ist in meinem Haus. Ist einfach so aufgetaucht.”

„Das muss der Rat erfahren”, sagte der Drache.

„Was für ein Rat?”, fragte Hannes.

„Der Ältestenrat der Drachen. Wir haben Agaskar verjagt. Ist etwa zwei Monde her. Niemand hat ihn seitdem gesehen. Wir dachten, er hätte sich weit im Norden verkrochen.”

Mäuse-Mina wollte fragen, wieso Agaskar verjagt worden war, aber in diesem Augenblick kam Mintz aus der Manteltasche gekrabbelt.

„Puh, ist das warm hier drin”, sagte sie und huschte auf Mäuse-Minas Schulter hinauf. „Kann ich vielleicht endlich mal erfahren, was eigentlich los ist?” Sie schaute auf den Drachen, der sie mit offenem Maul anstarrte.

„Wer ist denn das? Und warum kuckt der so?” Sie rieb sich nervös die Vorderpfoten. „So was frisst doch keine Mäuse, oder?”

Johann Sebastian Rachenglut fing an zu schreien. Es war ein ohrenbetäubendes Getröte. Feuer speiend breitete er seine Flügel aus und erhob sich in die Luft. Die ledrigen Schwingen flappten laut, als der Drache kraftvoll mit ihnen schlug und zum Rand der Lichtung flog.

„Was ist denn los?”, fragte Hannes. Er und Mäuse-Mina hatten sich erschrocken ins Gras geduckt, als der Drache aufgestiegen war.

„Was ist das für ein furchtbares Wesen?”, heulte Johann Sebastian anklagend vom Rand der Lichtung herüber. „Ihr seid gemeine schreckliche Zauberer! Geht weg mit eurem Höllengeist!”

„Das ist doch nur eine Maus!”, rief Hannes.

Der Drache spuckte Feuer. „Ich röste euch, wenn ihr mir zu nahe kommt!”

Hannes und Mäuse-Mina sahen sich ratlos an.

„Der hat tatsächlich Angst vor einer Maus”, sagte der Junge. „Sie ist ganz harmlos!”, rief er dem Drachen zu.

„Glaub ich nicht”, sagte Johann Sebastian. Er zitterte und schüttelte sich. „Ich fürchte mich so!”

Mäuse-Mina nahm Mintz von ihrer Schulter. „Du musst erst mal abtauchen. Anscheinend hält der Drache dich für etwas sehr Gefährliches.”

„Ich werde auch bald etwas sehr Gefährliches, wenn ich ständig in dieser blöden Manteltasche bleiben muss”, brummte Mintz, als Mäuse-Mina sie einsteckte. „Halt mich auf dem Laufenden!”

„Sie ist weg”, sagte Hannes. „Siehst du?”

Mäuse-Mina hob die Hände. „Ich habe sie weggezaubert. Entschuldigung. Wir wussten nicht, dass eine Maus dich so aufregen würde.”

Johann Sebastian schien sich zu beruhigen. „Maus heißt es? Es ist schauderhaft! Ich bin immer noch ganz fahrig.”

„Irgendwie hab ich mir Drachen mutiger vorgestellt”, sagte Mäuse-Mina, als sie mit Hannes den Rand der Lichtung erreichte.

„Ich bin schließlich noch nicht ausgewachsen”, sagte Johann Sebastian beleidigt. „Bin erst vor fünfzig Jahren aus dem Ei geschlüpft. Wenn ich richtig groß bin, röste ich Maus. Es soll sich bloß vorsehen!”

„Wir haben vorhin über Agaskar geredet”, sagte Mäuse-Mina. „Was weißt du über ihn? Wer ist er?”

„Agaskar ist ein Drachenzauberer”, sagte Johann Sebastian düster. „Er ist sehr gefährlich.”

„Ein Drachenzauberer?”, fragte Hannes. „Was ist das?”

Johann Sebastian sah ihn von oben herab an, als könnte er nicht glauben, dass jemand eine so dumme Frage stellte.

„Ein Drachenzauberer ist ein Drache, der zaubern kann”, sagte er. „Was sonst?”

„Aber er ist kein Drache”, sagte Hannes. „Er ist ein Mensch.”

„Ist er nicht! Er ist einer der ganz alten Drachen. Es gibt nicht mehr viele von ihnen. Wenn ihr wisst, wo er steckt, muss ich euch zum Ältestenrat bringen.”

„Ein Drache!“, dachte Mäuse-Mina. Agaskar war ein Drache! Zumindest erklärte das, wieso er Feuer spucken konnte. Es erklärte allerdings nicht, wieso er wie ein Mensch aussah. Sie musste mehr über ihn erfahren.

„Wo ist der Ältestenrat?”, fragte sie. „Und wie kommen wir da hin?”

„Wir fliegen”, sagte Johann Sebastian. „Steigt auf.”

Er setzte sich ins Gras, und Mäuse-Mina schwang sich auf seinen Rücken.

Hannes zögerte. „Diese anderen Drachen ... Bist du sicher, dass sie uns nichts tun werden?”

„Kommt drauf an, ob ihr mit Agaskar unter einer Decke steckt”, sagte Johann Sebastian grimmig.

Mäuse-Mina streckte eine Hand aus. „Komm schon, steig auf! Wir haben nichts zu befürchten. Wenn die Drachen Agaskars Feinde sind, müssen wir mit ihnen reden.”

Hannes schien nicht überzeugt, aber er kletterte trotzdem auf den Rücken des Drachen.

„Mann! Mann!”, sagte er. „Drachenland! Wenn das mal gut geht ...”


Mäuse-Mina und der Drachenzauberer

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