Читать книгу Mäuse-Mina und der Drachenzauberer - M.C. Hermann - Страница 8

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Der nächste Tag war sonnig und klar und trotzdem so kalt, dass einem Gesicht und Hände weh taten, sobald man nach draußen ging. Ein hellbrauner Wintertag im Herbst. Die letzten Blätter schienen an den Zweigen der Bäume festzufrieren. Es war, als hätten sie die Gelegenheit, herabzufallen, verpasst und müssten nun bis zum Frühjahr da bleiben, wo sie nichts mehr zu suchen hatten.

Mäuse-Mina stand an der Kellertür auf der Hinterseite des Hauses. Sie hielt die Hände vor den Mund und hauchte ständig hinein, während sie von einem Fuß auf den anderen trat.

Endlich tauchte Mintz neben ihr auf.

„Alles klar”, sagte sie. „Alle sind auf ihrem Posten.”

Mäuse-Mina nickte. Agaskar hatte das Haus wie immer am Vormittag verlassen. Im Keller war er seit gestern nicht mehr aufgetaucht. Es gab auch keine neuen Fallen. Vielleicht wiegte er sich in Sicherheit und glaubte das Haus frei von Mäusen. Trotzdem hatte sie schlecht geschlafen. Einer aus der Familie hielt immer Wache, aber die Unruhe steckte ihnen allen in den Knochen und ließ sich nicht vertreiben.

Nach Plan hatten sich die Mäuse rund ums Haus verteilt, um aufzupassen, wann Agaskar zurückkam. Alles war vorbereitet. Die Aktion Wohnungsdurchsuchung konnte beginnen.

Mäuse-Mina stieg die Außentreppe nach oben und erreichte die ebene Erde. Drüben am Zaun des Schulhofes entdeckte sie Hannes. Er stand dicht neben einem Baumstamm, der ihn vor Blicken aus dem Schulgebäude abschirmte. Mäuse-Mina musste heftig winken, bevor er sie bemerkte. Er schaute etwas verwirrt, sprang dann aber über den Zaun und kam zum Haus gelaufen, wobei er angestrengt vor sich hin starrte. Er sah völlig verfroren aus, die Schultern eng zusammengezogen, die Lippen blau.

„Mensch, wird auch Zeit”, sagte er bibbernd. „Mir ist saukalt. Außerdem hatte ich die ganze Zeit Angst, dass mich einer der Lehrer sieht. Bin nach der letzten Pause nicht mehr zurückgegangen.”

„Ging nicht eher. Agaskar ist gerade erst abgehauen.”

Hannes sah zweifelnd zu den Fenstern des Hauses hoch. „Bist du sicher, dass er weg ist?”

Mäuse-Mina nickte. „Die Mäuse passen auf, falls er zurückkommt.”

Durch den Keller gingen sie zur anderen Seite des Hauses und erreichten von dort das Treppenhaus. Mintz folgte ihnen.

„Sag dem Blödmann, er soll aufpassen, wo er hintritt”, murrte sie, nachdem sie ein paar Mal nur knapp einem verhängnisvollen Unfall unter den Schuhsohlen des Jungen entgangen war.

„Tschuldigung”, sagte Hannes, als Mäuse-Mina die Beschwerde ihrer Schwester weitergab.

Vorsichtig stiegen sie die Steintreppen hinauf. Überall lagen Dreckklumpen, vor langer Zeit festgetrocknet. Vertraute Wegzeichen. Mäuse-Mina kannte jedes einzelne von ihnen. Es war ihr Terrain, und sie war wütend auf Agaskar, weil er ihr das alles so fremd gemacht hatte.

„Er muss verschwinden“, dachte sie. „Er hat hier nichts zu suchen.“

„Ziemlich schmutzig hier”, sagte Hannes.

Es klang ein bisschen von oben herab, und Mäuse-Mina ärgerte sich.

„Na und?”, sagte sie. „Bist wohl gewohnt, dass deine Mutti immer alles schön sauber putzt, was?”

Hannes wurde rot. „Pff!”, machte er. „Ist eben nicht jedermanns Sache zwischen Dreck und Mäusen zu leben.”

Unter eisigem Schweigen erreichten sie die dritte Etage und standen vor der Tür zu Agaskars Wohnung.

„Und wie kriegen wir die nun auf?”, fragte Hannes quengelig.

„Weiß ich auch nicht”, sagte Mäuse-Mina schlecht gelaunt. „Vielleicht liegt hier irgendwo der Schlüssel.”

Eine Fußmatte gab es nicht. Mäuse-Mina ließ Hannes eine Räuberleiter machen und untersuchte die obere Kante des Türrahmens. Auch dort wurde sie nicht fündig.

„Schöner Mist!”, sagte Hannes und stieß mit dem Fuß gegen die Tür.

Sie klapperte im Rahmen und schwang dann mit einem leisen Klicken auf.

„Der hat gar nicht abgeschlossen!”, rief Hannes.

Mäuse-Mina kam sich ein bisschen dumm vor. „Darauf soll man nun kommen”, brummte sie. „Der scheint sich ja sehr sicher zu fühlen.”

Vorsichtig schoben sie die Tür weiter auf und betraten den Flur der Wohnung. Unzählige Mausefallen stapelten sich an den Wänden bis zur Decke hinauf.

„Igitt!”, rief Mintz. „Der hat ja einen Vorrat für hundert Jahre! Das kann ja heiter werden ...”

„Ungefährlich”, sagte Mäuse-Mina nach einem Blick auf die Fallen. „Keine ist scharf gemacht. Du kannst reinkommen.”

Mintz trippelte unbehaglich im Flur hin und her. „Passt auf, dass keine dieser Höllenmaschinen zufällig auf mich drauf fällt!”

Mäuse-Mina betrat den Raum links vom Flur. „Komm erst mal hier rein. Hier sind keine Fallen.”

Es handelte sich um die Küche, zu erkennen an einem alten kaputten Herd, bei dem die Kochplatten herausgerissen waren, und einer Spüle, über die sich Spinnweben spannten. Ansonsten war das Zimmer leer. Die Wände waren fleckig und in den Ecken an der Decke ein bisschen schimmlig.

„Sieht nicht so aus, als ob Agaskar die Küche benutzt”, sagte Hannes. Er betrachtete seine Fußspuren im Staub.

„Hier funktioniert sowieso nichts”, sagte Mäuse-Mina. Sie drehte den Wasserhahn der Spüle auf. Es kam nicht einmal ein Tropfen heraus, aber mehrere aufgescheuchte Spinnen krabbelten ärgerlich in den Abfluss.

„Wo kriegt er Wasser her?”, fragte Hannes.

Mäuse-Mina zuckte die Achseln.

„Wo kriegst du Wasser her?”, fragte Hannes.

„Aus der Schule. Ich hol es mir immer am frühen Morgen, bevor sie geöffnet wird.”

Sie gingen quer über den Flur in das größte Zimmer. In dessen Mitte befand sich die Feuerstelle, wie Mintz sie der Familie beschrieben hatte.

Hannes riss die Augen auf. „Mann! Der macht hier ja richtig Feuer! Ist der verrückt? Der brennt noch das Haus ab.”

Über den verkohlten Holzscheiten im Steinkreis hing an einem Gestell ein großer schwarzer Kessel. Tüten mit Zutaten lagen überall herum. Mehl. Zucker. Ein Krug mit wabbeligem Zeug. Und ein weiterer, dessen Inhalt scharf und würzig roch. Der Geruch nach Verbranntem und Lakritze vermischte sich mit dem von kalter Asche. Mäuse-Mina kam er vor wie ein dicker Brei, der sich auf Mund und Nase legte. Sie fand es eklig.

In den Ecken standen ganze Batterien von Plastikflaschen.

„Das beantwortet die Frage nach dem Wasser.”

„Der haust ja wie im Wald”, sagte Hannes. Er hob eine Papiertüte auf, langte hinein und zog ein Stück Lakritze heraus. Sein Gesicht verzog sich vor Abscheu.

„Siehst du den roten Strich? Ich wette, das ist Gift.”

„Oder Feuer”, sagte Mäuse-Mina. „Mintz hat gesehen, wie er Feuer auf die Lakritze gespuckt hat, bevor sie fertig zubereitet war. Hab ich dir doch erzählt.”

Hannes warf die Tüte angewidert auf den Boden. „Mir wird schlecht. Wenn ich daran denke, dass ich das gegessen habe!”

„Was hat er?”, fragte Mintz, die zwischen den Steinen der Feuerstelle herumgekrabbelt war.

Mäuse-Mina zuckte die Achseln. „Er fragt sich, warum er von dem Zeug gegessen hat.”

„Weil er ein Blödmann ist”, sagte Mintz ungerührt. „Sieht doch ein Blinder, dass Agaskar böse ist.”

Im ganzen Zimmer gab es keine Schränke, Kisten oder sonstige Behältnisse. Nur leere Wände, ehemals wahrscheinlich weiß, nun voller Rußflecken, die, ob zufällig oder nicht, an Geistergestalten erinnerten.

„Was sollen wir durchsuchen?”, fragte Hannes mürrisch. „Hier ist gar nichts.”

Mäuse-Mina sah sich ratlos um. „Ein Zimmer gibt es noch.”

Bei dem zweiten Raum handelte es sich offensichtlich um Agaskars Schlafzimmer. Auf den nackten Holzdielen befand sich ein Lager aus schmutzigen Decken. Die Fenster waren staubig und fest verschlossen, und es roch nach ungewaschenen Füßen.

„Hier ist auch nichts”, sagte Hannes. „Entweder der Kerl besitzt gar nichts oder er versteckt es woanders.”

Mäuse-Mina nickte entmutigt. Im Grunde ähnelte Agaskars Art zu leben ihrer eigenen. Auch sie besaß nichts außer dem, was sie am Leib trug, und einem Lager aus Decken. Aber woher war Agaskar gekommen? Mäuse-Mina war sicher, ehe sie das nicht herausfanden, konnten sie nichts gegen ihn unternehmen.

„He!”, hörte sie Mintz rufen. „Kuckt mal, was der hier hat!” Die Stimme der Mäusin klang dumpf.

„Wo bist du?”, fragte Mäuse-Mina.

„Unter den Decken. Es stinkt zwar widerlich, aber ich glaube, das hier wird euch interessieren.”

Mäuse-Mina zog die Decken des Lagers beiseite. „Mintz hat etwas gefunden”, sagte sie zu Hannes.

Unter den Decken gab es eine Schicht Stroh, dessen Halme sich bewegten, als Mintz sich von unten nach oben durchwühlte.

„Es ist unter diesem Zeug”, sagte sie.

Mäuse-Mina schob mit den Händen das Stroh zur Seite. Etwas Glänzendes kam zum Vorschein.

„Mann!”, rief Hannes und fegte aufgeregt noch mehr von dem Stroh beiseite. „Das ist ja Gold!”

Mäuse-Mina betrachtete verblüfft den Haufen von Münzen, der unter dem Stroh versteckt war. Es gab neben den goldenen auch silberne und einige, die rötlich schimmerten.

Hannes griff sich eine Handvoll und ließ sie fallen, dass es klimperte. „Das ist ein richtiger Schatz! Muss ´ne Menge Geld wert sein. Wenn Agaskar so reich ist, warum haust er dann so?”

Mäuse-Mina betrachtete die Münzen genauer. Auf den meisten waren Bilder eingeprägt. Köpfe von Männern, aber auch seltsame schlangenartige Wesen mit ausgebreiteten Flügeln.

„Hast du so was schon mal gesehen”, fragte sie.

Hannes schüttelte den Kopf. „Das muss uralt sein. Tausend Jahre. Oder zweitausend. Möchte wissen, wo Agaskar das her hat. Wenn man heute so einen Schatz findet, darf man ihn nicht einfach behalten.”

„Vielleicht versteckt er ihn deshalb, weil er ihn für sich allein haben will.”

„Weiß nicht.” Hannes wühlte zwischen den Münzen herum. „Einige haben gar keine Prägung. Sehen aus wie flache Goldklumpen. Vielleicht tauscht er die gegen Geld ein. Schließlich muss er ja die ganzen Mausefallen und Wasserflaschen irgendwo gekauft haben.”

Mäuse-Mina nickte. „Und du bist sicher, dass es kein normales Geld ist?”

„Absolut sicher. Solche Münzen gibt es bei uns nicht.” Er fühlte nach allen Seiten unter das Stroh. „Das ist ein riesiger Haufen. Warum schläft er wohl darauf? Muss ziemlich hart und unbequem sein.”

„Wahrscheinlich hat er Angst, dass es geklaut wird.”

„Und dann lässt er die Wohnungstür offen? An seiner Stelle hätte ich mir ein Vorhängeschloss gekauft. Oder wenigstens ´ne Kiste, die man abschließen kann.”

Mäuse-Mina nickte wieder. Es war merkwürdig, dass Agaskar auf seinem Schatz schlief. Als ob es ihm Vergnügen bereitete, auf seinem Reichtum zu liegen.

„Alarm!”, schrie plötzlich eine Stimme. Sie kam aus der Ecke neben der Tür. Zwick schaute aus einem offenen Rohr heraus, das von einem längst verschwundenen Heizungskörper übrig geblieben war. „Agaskar kommt zurück! Macht, dass ihr aus der Wohnung kommt. Er ist schon unten an der Tür!” Nach dieser Warnung verschwand er zurück ins Rohr.

Mäuse-Mina sprang erschrocken auf.

„Was ist?”, rief Hannes.

„Agaskar kommt zurück! Verflucht, warum kommt er so früh?”

Hannes wurde blass. „Nichts wie weg! Wenn der uns hier bei seinem Schatz findet ...”

Mäuse-Mina sammelte Mintz auf und steckte sie in eine Manteltasche. Dann folgte sie Hannes, der schon auf den Flur hinausgestürmt war. Sie fühlte sich ertappt, wie ein Dieb, und war wütend, weil sie Schuldgefühle hatte. Agaskars blödes Gold konnte ihr gestohlen bleiben. Sie wollte, dass er aus ihrem Haus verschwand. Es war ungerecht, dass sie sich wie ein Dieb vorkam. In ihrem eigenen Haus! Er war derjenige, der hier nichts zu suchen hatte!

Sie hasteten ins Treppenhaus und zogen die Wohnungstür leise zu, aber in dem Moment, in dem sie nach unten laufen wollten, hörten sie, wie die Haustür zuschlug.

„Der ist schon drinnen!”, flüsterte Hannes ängstlich.

Schritte. Jemand kam die Treppe herauf.

„Was machen wir jetzt?”

Mäuse-Mina zeigte nach oben. „Zum Dachboden!”

Leise schlichen sie die beiden Treppen hinauf und erreichten die graue Metalltür, die zum Speicher führte. Sie war offen, wie Mäuse-Mina aus Erfahrung wusste. Sie hatte den Speicher vor Jahren inspiziert, ihn für ihr Lager aber verworfen. Anders als im Keller mit seinen gewundenen Gängen war der Dachboden ein einziger übersichtlicher Raum. Man konnte sich im Notfall nirgendwo verstecken und es gab keinen Weg nach draußen, außer über das Dach. Sie hatte sich dort nie wohl gefühlt. Aber nun blieb ihnen nichts übrig. Agaskar erreichte schon den Treppenabsatz, der zur seiner Wohnung führte. Es klang fast, als rannte er.

Mäuse-Mina und Hannes ließen die Speichertür einen Spalt offen und horchten. Anscheinend war Agaskar in seiner Wohnung verschwunden, aber so eilig, dass er die Tür nicht geschlossen hatte. Sie hörten ein leises Klimpergeräusch und sahen sich entsetzt an.

„Meinst du, er hat gemerkt, dass wir an seinem Schatz gewesen sind?”, fragte Hannes verzagt.

Sie hatten hastig das Stroh wieder über den Münzen verteilt und die Decken drüber geworfen, hatten aber keine Zeit gehabt, den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen.

„Wie ist er überhaupt drauf gekommen, sofort nachzukucken?”, sagte Mäuse-Mina, mehr zu sich selbst. „Und warum ist er schon zurück? Sonst bleibt er immer Stunden weg.”

„Vielleicht überwacht er seinen Schatz. Hat ´ne Kamera versteckt oder so was.”

Mäuse-Mina schüttelte zweifelnd den Kopf. „Dann wüsste er ja, dass wir da gewesen sind.” Der Gedanke, der ihr kam, ließ sie schaudern. „Vielleicht hat er es gefühlt, als wir das Gold berührt haben.”

„Du spinnst!”, sagte Hannes. „Wie soll das gehen?”

Mäuse-Mina antwortete nicht. Sie fragte sich, ob sie es wagen konnten, nach unten zu laufen. Die Wohnungstür war immer noch offen.

Wahrscheinlich würde Agaskar bei dem kleinsten Geräusch herausgestürmt kommen, jetzt, wo er möglicherweise den Verdacht hegte, dass jemand seinen Schatz entdeckt hatte.

Aber der Dachboden war ihr unheimlich. Er war eine Falle.

Hannes sträubte sich, als sie vorschlug, über die Treppe nach unten zu gehen.

„Wie sollen wir da vorbeikommen?”, jammerte er. „Ich trau mich nicht. Wir müssen abwarten bis er abhaut oder wenigstens die Tür zumacht.”

Mäuse-Mina gab nach, obwohl sie heftige Bedenken hatte. Sie sah sich um. Der Speicher war genauso, wie sie ihn in Erinnerung hatte: aufgeteilt in mehrere Abteile aus rohen Holzgerüsten mit großmaschigen Drahtgittern, zwischen denen ein Gang zur Wand gegenüber führte. Alle Abteile waren leer und standen offen; einige Türen hingen schief in den Angeln. Die Ziegel in den Wänden waren bröckelig und sahen uralt aus. Durch die staubigen Dachluken tropfte das Licht auf zähe und graue Art herein; es beleuchtete nur die Mitte des großen Raumes ein wenig. An den Seiten, unter den Schrägwänden des Daches, klumpten sich Schatten zusammen. Mäuse-Mina mochte Schatten. Sie waren ein gutes Versteck, machten unsichtbar. Aber diese hier auf dem Speicher mochte sie nicht. Graues Licht und Staub ballten sich in ihnen zusammen. Es sah aus, als ob dort etwas herumflatterte. Gespenster, die nur hier und da kurz sichtbar wurden.

Hannes hustete unterdrückt. „Was für ´ne Luft hier!”, krächzte er. Während er den Mittelgang entlangging, wirbelten seine Schuhe zentimeterdicke Schichten von Staub auf. An der Stelle, wo es am hellsten war, blieb er stehen und sah zur Dachluke hinauf.

„Bist du schon mal auf dem Dach gewesen?”

Mäuse-Mina schüttelte den Kopf. „Wozu?“

„Vielleicht können wir da raus.”

„Wie sollen wir vom Dach runterkommen? Das wäre ziemlich gefährlich. Die Regenrinnen und Rohre sind alle verrostet. Die würden sofort durchbrechen, wenn wir sie zum Klettern benutzten.”

Entmutigt schaute sich Hannes weiter um. Vor dem hintersten Abteil auf der linken Seite blieb er stehen und deutete mit dem Zeigefinger in die Ecke zwischen Giebelwand und Dachschräge.

„Was ist´n das da?”

„Hier ist überhaupt nichts”, sagte Mäuse-Mina. „Nur Schatten und Staub.” Hannes´ Augen sahen im Zwielicht aus wie schwarze Löcher.

Meine müssen auch so aussehen.

Sie hasste den Gedanken.

„Doch! Da ist was. Sieht komisch aus.”

Mäuse-Mina runzelte die Stirn und ging zu der Stelle, an der Hannes stand.

In der Ecke des Abteils befand sich tatsächlich etwas. Obwohl in den Schatten halb verborgen, erkannte Mäuse-Mina eine Art Kasten oder ein Gerüst um eine große dunkle Öffnung herum.

„Das war noch nicht da, als ich zuletzt hier war”, sagte sie unsicher.

„Vielleicht gehört es Agaskar”, meinte Hannes. „Vielleicht bewahrt er hier seine Sachen auf.” Er machte die Tür des Abteils weiter auf und betrat es.

Mäuse-Mina folgte ihm mit gemischten Gefühlen. Von nahem erschien ihr der Kasten wie ein aufgerissenes Maul. In der Mitte hatte er Scharniere, von denen aus die obere und untere Klappe schräg nach vorn ragten. Die Öffnung war pechschwarz. Auch als sie ganz dicht herantrat, konnte Mäuse-Mina nicht das Geringste erkennen.

„Scheint leer zu sein”, sagte sie.

Hannes deutete nach oben. „Was sind das für Dinger?”

Aus den Ecken der oberen Klappe hingen spitze, gebogene Zapfen herab, die fahl schimmerten. „Die sehen fast aus wie Zähne. Reißzähne, wie bei einem Wolf oder so.”

Mäuse-Mina schaute nach unten. „Da sind auch welche.” Sie schaute genauer hin. „Und dahinter sind noch mehr. Kleinere. Ich glaube, du hast Recht. Das sind wirklich Zähne.”

Sie versuchten, mehr von dem Gestell zu erkennen, was bei dem Zwielicht nicht einfach war. Wie sie feststellten, waren die Ecken der Öffnung, da wo die großen Zähne herausragten, abgerundet, wodurch das Ganze noch mehr wie ein aufgerissenes Maul wirkte.

Hannes fühlte mit den Händen in den Schatten herum. „Mist, wenn man nur mehr sehen könnte. Ich glaube, hinter der oberen Klappe ist noch was. Am besten schaust du mal nach.” Er machte mit den Händen eine Räuberleiter und sah Mäuse-Mina auffordernd an. Zögerlich stellte sie einen Fuß in seine Hände, drückte sich nach oben und tastete im Dunkeln hinter der Klappe herum.

„Hier ist was Gebogenes”, sagte sie. „Wie ´ne umgedrehte Schüssel. Nee, zwei. Nebeneinander. Und darüber so komische Stacheln. Wie Hörner.” Sie fühlte mit den Händen zwischen den Stacheln. „Lauter kleine Hubbel. Wie bei einer Kröte. Oder einer Schlange.” Sie zog die Hand zurück. Der Gedanke machte ihr Angst. „Lass mich runter!”

Hannes wischte sich gedankenverloren die Hände an der Hose ab. „Kommt mir vor wie diese Figuren, die man auf Karnevalswagen sieht. Weißt schon, Leute oder Tiere aus Pappe, die was Witziges darstellen sollen.”

Mäuse-Mina hatte keine Ahnung, wovon er redete. Sie hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen und witzig fand sie es überhaupt nicht.

Hannes klopfte gegen das Gestell. Es klang dumpf, fast dröhnend.

„Pappe ist das jedenfalls nicht”, sagte er. „Eher Metall. Massiv und schwer, als wär´s zusammengeschweißt worden.” Er versuchte daran zu rütteln, aber nichts bewegte sich. „Wenn es Agaskar gehört, wie hat er das Ding hier raufgebracht? Man braucht bestimmt zehn Leute, um das zu tragen.” Er fühlte wieder mit den Händen in die Öffnung, in die sie aufrecht hätten hineingehen können. „Da ist nichts.” Er trat zurück und runzelte die Stirn. „Ob es wirklich ihm gehört?”

Mäuse-Mina kam ein Gedanke. Sie schob Hannes zur Seite und kniete sich vor das Gestell.

„Was ist?”, fragte er. „Was suchst du?”

„Spuren.“

Sie senkte den Kopf dicht über den Fußboden und fand, wonach sie suchte. Abdrücke von Schuhen im Staub. Es gab mehrere kleine, eindeutig von ihr und Hannes. Aber da waren auch größere. Viel größere. Sie verfolgte sie zur Tür des Abteils und auf den Gang hinaus.

„Jemand muss vor uns da gewesen sein. Ein Erwachsener. Kann nicht lange her sein, sonst hätte der Staub die Spuren wieder aufgefüllt.”

„Agaskar”, sagte Hannes. „Also gehört ihm das Ding tatsächlich. Aber wozu braucht er es?”

„Wozu auch immer”, sagte Mäuse-Mina. „Wenn es seins ist, heißt das, er kann jederzeit hier auftauchen. Wir müssen verschwinden. So schnell wie möglich.” Sie trat zur Dachbodentür und öffnete sie einen Spaltbreit. Im Treppenhaus war kein Geräusch zu hören.

„Los, wir hauen ab”, sagte sie.

Hannes machte ein bedenkliches Gesicht, aber er folgte ihr. Auf Zehenspitzen schlichen sie die Treppe hinab und lugten über das Geländer zum nächsten Absatz hinunter. Die Wohnungstür stand immer noch offen.

„Mist!”, zischte Hannes.

„Er ist nicht zu sehen”, flüsterte Mäuse-Mina. „Wir schleichen vorbei.”

Bemüht, nicht das kleinste Geräusch zu machen, betraten sie die zweite Treppe. Von nun an würde Agaskar sie sofort sehen, wenn er zur Tür kam.

Das graue Licht, das durch ein kleines Fenster im Treppenhaus hereinfiel, warf ihre Schatten auf die Stufen vor ihnen. Blassgraue Schatten, als wären es Gespenster.

„Dachbodengespenster“, dachte Mäuse-Mina.

Sie erreichten die Mitte der Treppe. Kein Laut drang aus der Wohnung. Mäuse-Mina presste die Lippen fest aufeinander. Die Stille hatte etwas Lauerndes. Vielleicht saß Agaskar hinter der Tür und wartete nur auf die günstigste Gelegenheit, sie zu schnappen.

Sie traten eine weitere Stufe hinab. Blieben stehen.

Horchten.

Nichts.

Sie machten sich bereit, die nächste Stufe zu nehmen.

„Was ist eigentlich los?”, fragte Mintz plötzlich. „Wo sind wir?”

Mäuse-Mina und Hannes erstarrten. Das Gepiepse der Mäusin hallte in der Stille deutlich von den Wänden des Treppenhauses wider. Mäuse-Mina steckte eine Hand in ihre Manteltasche und versuchte, Mintz den Mund zuzuhalten. Empörtes Gesumme war zu hören.

Mit angehaltenem Atem starrten sie auf die offene Wohnungstür. Einen Augenblick lang schien es, als würde überhaupt nichts passieren. Sekunden vergingen hoffnungsvoll.

Dann war ein leises Knarren zu hören. Jemand schlich vorsichtig über die alten Holzdielen in der Wohnung.

Ohne ein Wort der Verständigung huschten Hannes und Mäuse-Mina nach oben und flüchteten zurück auf den Speicher. Hinter der Tür blieben sie stehen und lauschten nach unten. Schritte scharrten über den Steinboden des Treppenhauses. Dann wurde das Geräusch lauter. Jemand kam langsam die Treppen herauf.

„Er kommt hoch!”, flüsterte Hannes entsetzt. „Was jetzt?”

Mäuse-Minas Herz klopfte heftig. Angst und die stickige Luft schnürten ihr die Kehle zu. Sie sah sich um. Es gab in den leeren Abteilen keine Möglichkeit sich zu verstecken. Trotzdem lief sie den Gang entlang und zog Hannes mit sich.

„Die Schatten!”, sagte sie. „Wir müssen uns in den Schatten verstecken.”

„Die Gespenster müssen eben zusammenrücken“, dachte sie.

Es war ein klägliches Versteck und würde nur funktionieren, wenn Agaskar lediglich von der Tür aus einen Blick in den Speicher warf. Wenn er genauer nachschaute, musste er sie entdecken.

Hannes deutete auf die Öffnung des seltsamen Gerüstes. „Wenn wir da reingehen, kann er uns nicht sehen.”

Mäuse-Mina hatte das Gefühl, als ob ihr Spinnen die Beine hoch krabbelten. Sie schüttelte sich. Die Öffnung war schwarz, so schwarz wie nichts sein durfte. Schwärzer als die Löcher, die Hannes´ Augen verbargen. Und ihre eigenen. Sie wollte nicht dort hinein. Es war falsch.

„Das Ding gehört ihm. Wenn er reinkommt, wird er bestimmt dort nachschauen.” Sie tastete mit den Händen an der Wand des Gestells entlang. „Vielleicht können wir uns dahinter verstecken.”

Aber es gab kein dahinter. Das merkwürdige Gebilde kam direkt aus der Wand.

Vor der Speichertür waren Schritte zu hören. Es klang verstohlen. Dann verstummte das Geräusch. Die Klinke wurde langsam nach unten gedrückt. Es quietschte leise. Wie eine Maus in Todesangst.

„Er kommt!”, wimmerte Hannes. „Wir haben keine Zeit mehr. Ich geh da jetzt rein.”

Er wartete nicht auf Mäuse-Minas Einwände, sprang in die dunkle Öffnung und verschwand so schlagartig, als hätte er sich in Luft aufgelöst.

Mäuse-Mina hatte Angst. Ob vor oder zurück, alle Wege schienen falsch. Es war ein schreckliches Gefühl. Sie glaubte, sie hörte die unsichtbaren Gespenster höhnisch lachen. Sie kamen von allen Seiten und scheuchten sie auf die Öffnung zu.

Es quietschte wieder.

In dem Moment, in dem sie hörte, wie die Speichertür aufgezogen wurde, sprang sie. Bevor sie in der Öffnung des Gestells landete, glitt ihr Blick nach oben. Sie erschrak. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie sich umgedreht und wäre zurückgelaufen, selbst wenn sie in Agaskars Armen gelandet wäre.

Über der Öffnung hatte sie zwei große Kreise glühen sehen. In der Mitte jeweils ein senkrechter Strich.

Wie Katzenaugen.

Schlangenaugen.

Augen.

Die zwei Hubbel, die sie vorhin ertastet hatte, waren Augen. Geschlossene Augen, die sich nun geöffnet hatten.

„Was ist das hier?“, fragte sich Mäuse-Mina.

Aber es war zu spät. Sie landete in der Höhlung, und alles wurde dunkel.


Mäuse-Mina und der Drachenzauberer

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