Читать книгу Mäuse-Mina und der Drachenzauberer - M.C. Hermann - Страница 5
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ОглавлениеDie folgenden Tage verbrachten Mäuse-Mina und ihre Familie damit, die Gewohnheiten des alten Mannes auszuspionieren. Man fand heraus, dass er jeden Vormittag um zehn aus dem Haus ging und um eins wieder zurückkam. Nachdem sich Mäuse-Mina von der Regelmäßigkeit dieses Vorgangs überzeugt hatte, schlich sie an einem grauen Morgen um halb elf durchs Treppenhaus nach oben, bewaffnet mit einem Blatt Pappkarton und einem Stückchen Kohle. Beides hatte sie im Keller gefunden.
Nach langem Grübeln darüber, wie sie den Namen des alten Mannes von seinem Namensschild herunter und in ihr Ohr hinein zwingen könnte, hatte sie sich schließlich einen Plan ausgedacht, der ihr etwas kompliziert, aber machbar erschien.
Verzagt stand sie vor der Tür der Wohnung im dritten Stock und lauschte einige Minuten bang ins Treppenhaus hinab, um sicherzugehen, dass der Alte sie nicht überraschen würde. Dann schaute sie sich die Zeichen auf dem Namensschild genau an und malte jedes einzelne sorgfältig mit Kohle auf der Pappe nach. Mehrmals verglich sie das Ergebnis mit dem Original, bis sie zufrieden feststellte, dass alle Striche und Bögen an den richtigen Stellen saßen. Ehrfürchtig faltete sie den Karton zusammen, ganz sorgfältig, um die Kohle nicht zu verschmieren. Es kam ihr vor, als hätte sie dem alten Mann durch Zauberkraft etwas gestohlen, und nun, da es in ihrem Besitz war, verschaffte es ihr ein wenig Macht über ihn. Sie überlegte kurz, ob er den Diebstahl bemerken könnte. Vielleicht sah man es den Zeichen an, wenn man sie abmalte und ihre Bedeutung mit sich davontrug. Vielleicht nutzten sie sich dadurch ein bisschen ab, und ihr Besitzer merkte es, wenn er genau hinsah.
Mäuse-Mina zuckte mit den Schultern. Das war ein Risiko, das sie eingehen musste.
Jetzt, da sie die Zeichen gestohlen hatte, wusste sie aber immer noch nicht, wie sie klangen, wenn man sie las und aussprach. Hier wurde ihr Plan ein wenig gefährlich, denn sie brauchte jemanden, der ihr die Zeichen auf dem Karton vorlas.
Sie hatte nicht viel Auswahl. Von der Kellertür auf der hinteren Seite des Hauses aus schaute sie hinüber zur Schule und wartete darauf, dass es zur Pause klingelte. Es war ein trüber Tag. Krähenwetter, nannte Mäuse-Mina es für sich, denn an solchen Tagen saßen die schwarzen Vögel überall mit eingezogenen Köpfen auf Zäunen und Ästen oder watschelten in Gruppen nachdenklich über den Rasen.
Endlich erklang das vertraute Klingeln, und die Kinder strömten auf den Schulhof. Es hatte keinen Zweck, sich einer Gruppe zu nähern. Man würde Radau machen, spotten, lachen und dadurch womöglich einen Lehrer herbeilocken. Mäuse-Mina musste ein einzelnes Schulkind erwischen und versuchen, möglichst unauffällig mit ihm ins Gespräch zu kommen.
Zunächst wollte sich keine Gelegenheit ergeben. Die meisten Kinder standen in Grüppchen zusammen oder rannten umher oder rannten sogar in Grüppchen umher. Es gab Auseinandersetzungen, vor allem zwischen Mädchen und Jungen. Boten wurden von den Grüppchen ausgeschickt, überbrachten Beleidigungen oder Herausforderungen und wurden mit Worten oder Taten in die Flucht getrieben und gejagt. Dann wurde unter höhnischem Gelächter gewartet, bis sich ein weiterer herantraute. Insgesamt war es ein lautstarkes Spektakel, und Mäuse-Mina, die das Treiben auf dem Schulhof noch nie so genau beobachtet hatte, fragte sich ungeduldig, wie sie ihr Ziel erreichen könnte. Schließlich klingelte es wieder und alle Kinder verschwanden schlagartig im Schulgebäude. Der Schulhof, eben noch Schauplatz ausgelassenen Trubels, lag verlassen und still da, als wäre alles nur ein Spuk gewesen.
„Das wird nichts”, sagte Mintz, die Mäuse-Mina begleitete, um ihr den Rücken zu stärken. „Du wirst auffallen, sobald du dich dem Zaun näherst.”
„Wir müssen eben Geduld haben”, sagte Mäuse-Mina, vor allem zu sich selbst, denn insgeheim teilte sie die Befürchtungen ihrer Mäuseschwester. „Manche Pausen sind länger. Dann werden sie vielleicht müde, bevor es wieder klingelt.”
In der nächsten Pause ging es zunächst genauso zu wie in der vorigen, doch zu Mäuse-Minas eigener Überraschung traf ihre Vorhersage ein. Das Treiben beruhigte sich nach einer Weile, die Gruppen entfernten sich voneinander und blieben für sich oder lösten sich auf. Manche der Kinder zogen sich zu zweit in eine Ecke zurück, vielleicht um mit dem engsten Freund oder der engsten Freundin Neuigkeiten oder Geheimnisse zu besprechen. Andere blieben allein, aßen ihr Pausenbrot oder starrten wie gebannt auf ihr Handy.
Mäuse-Mina beobachtete alles aufmerksam. In der Nähe der Ecke, die an das Rasenstück hinterm Haus grenzte, stand ein Junge an den Drahtzaun gelehnt. Die Schatten einer Fichte fielen auf sein Gesicht und verbargen seine Gedanken. Man konnte nicht sehen, ob er unbedingt allein sein wollte, aber Mäuse-Mina hatte keine Wahl. Die Pause würde bald zu Ende sein, und dies war vielleicht die beste Gelegenheit, die sich ihr bieten würde.
„Der da?”, fragte Mintz zweifelnd.
„Der da”, sagte Mäuse-Mina.
Mintz rümpfte zweifelnd die Nase. „Aber der hat rote Haare.”
„Na und?“
„Ich kannte mal eine Katze, die solche Haare hatte. Ein widerliches Mistvieh. Hätte mich fast gefressen.”
„Darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen”, sagte Mäuse-Mina entschlossen und schlich unauffällig hinüber zum Zaun. Mintz folgte ihr durch das Gras, blieb aber einige Schritte hinter ihrer Adoptivschwester zurück.
Mäuse-Mina hockte sich in die Schatten der Fichte neben dem Zaun. Außer dem Jungen waren keine Kinder in unmittelbarer Nähe, und niemand achtete auf sie.
„He! Du da!”, rief sie leise.
Der Junge am Zaun blickte kurz zur Seite, ohne Mäuse-Mina zu entdecken.
„Du da! Mit den roten Haaren!”, rief Mäuse-Mina etwas energischer.
Der Junge löste sich vom Zaun und drehte sich um. Als er Mäuse-Mina im Gras sitzen sah, schaute er sich unsicher um.
„Ich?”, fragte er.
„Ja. Komm mal her!”
„Warum?”, fragte der Junge misstrauisch.
„Ich will dich was fragen. Keine Sorge, ich tu dir nichts.”
„Pah!”, machte der Junge verächtlich. „Meinst du, ich hab Angst vor dir, Mäuse-Mina?”
„Na, dann komm doch her.”
„Was willst du denn?” Zögernd ging er zu der Stelle, wo Mäuse-Mina saß.
Sie reichte ihren Karton über den Zaun. „Kannst du mir vorlesen, was da draufsteht?”
Der Junge nahm den Karton. „Kannst du noch nicht mal lesen?”
„Wenn ich´s könnte, würd ich dich ja nicht fragen, du Schlaumeier”, sagte Mäuse-Mina ärgerlich. Es behagte ihr überhaupt nicht, sich von diesem rothaarigen Burschen helfen zu lassen, aber was sollte sie tun? Sie musste wissen, wie der alte Mann hieß.
„Agaskar”, sagte der Junge nach einem Blick auf den Karton.
„Agaskar”, flüsterte Mäuse-Mina. Es klang seltsam. Fremd. So einen Namen hatte sie noch nie gehört. Er musste von sehr weit her kommen.
„Was willst du denn von dem alten Herrn Agaskar?”, fragte der Junge.
„Du kennst ihn?”, fragte Mäuse-Mina erstaunt.
„Klar kenn ich den. Alle kennen ihn. Ein netter alter Mann. Er kommt oft an den Zaun und verteilt Lakritze. Die leckerste Lakritze, die ich je gegessen habe. Sie brennt ein bisschen im Hals, aber sie ist viel süßer als das Zeug, das man sonst bekommt.”
„Du hast davon gegessen?”, fragte Mäuse-Mina alarmiert.
„Na und?”
Mäuse-Mina schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Ich würd´s nicht tun.”
„Wieso?”, fragte der Rothaarige besorgt. „Alle haben davon gegessen. Wo ist das Problem?”
Mäuse-Mina überlegte, was sie ihm sagen sollte. Wahrscheinlich würde er ihr nicht glauben, aber sie hatte das Gefühl, sie müsste ihn warnen.
„Wie heißt du?”, fragte sie, um Zeit zu gewinnen.
„Hannes.”
„Also, Hannes, diese Lakritze ist nicht geheuer.”
„Was meinst du damit?”, fragte Hannes. „Ist sie vergiftet?” Er wurde blass.
Mäuse-Mina zuckte die Achseln. „Weiß nicht. Vielleicht. Er macht sie oben in seiner Wohnung, und wenn sie fertig ist, spuckt er Feuer drauf.”
„Er macht was?”
„Spuckt Feuer drauf.”
Hannes lachte. „Du spinnst. So was gibt´s ja gar nicht.”
„Hab ich auch erst gedacht. Aber Mintz hat´s gesehen.”
„Wer ist Mintz?”
Mäuse-Mina drehte sich zur Seite und zeigte auf ihre Adoptivschwester, die hinter ihr im Gras saß.
„Die Maus da?”, fragte Hannes ungläubig.
„Was ist?”, fragte Mintz. „Warum kuckt der mich so komisch an?”
„Er glaubt das mit dem Feuerspucken nicht”, sagte Mäuse-Mina.
„Geht den doch auch gar nichts an”, meinte Mintz kritisch. „Wieso erzählst du ihm das?”
„Der alte Mann verteilt die Lakritze an die Kinder. Der Junge hier hat auch was davon gegessen. Wir müssen ihn warnen.”
„Was piepst du da so herum?”, fragte Hannes misstrauisch. „Redest du etwa mit diesem Viech?”
„Das ist kein Viech”, sagte Mäuse-Mina ärgerlich. „Das ist meine Schwester.”
Hannes starrte sie mit offenem Mund an. „Du hast sie wirklich nicht alle, Mäuse-Mina.” Er sah aus, als ob er gleich davonlaufen wollte. „Dachschaden. Total plemplem. Ich fass es nicht!”
„Ist ja gut!”, sagte Mäuse-Mina kühl. „Nur weil du die Mäusesprache nicht verstehst, heißt das nicht, dass niemand es kann.”
„Mäusesprache!”, rief Hannes aufgebracht. „So was gibt´s ja gar nicht!”
„Nicht so laut!”, zischte Mäuse-Mina. Ein paar Kinder auf dem Schulhof schauten herüber, und sie duckte sich etwas tiefer in die Schatten der Fichte. „Ob du´s glaubst oder nicht, ist mir völlig egal. Wenn du weiterhin Agaskars Lakritze futtern willst, dann bitte sehr! Ich hab dich gewarnt.” Sie wollte sich zum Haus zurückschleichen.
„He, warte mal!”, rief Hannes leise. „Glaubst du wirklich, da stimmt was nicht mit der Lakritze?”
Mäuse-Mina schnaubte. „Also, ich würde nichts essen, wo der Kerl Feuer drauf gespuckt hat.”
„Hast du´s selber gesehen?”
„Nee. Mintz hat´s gesehen. Hab ich doch gesagt.”
„Ja klar”, sagte Hannes verächtlich. „Die Maus da hat´s gesehen und dir erzählt.”
„Andere haben´s auch gesehen.”
„Noch mehr Mäuse?”
„Na und?”
Hannes schien zu überlegen. „So merkwürdig ist das gar nicht. Das mit dem Feuerspucken. Ich hab so was schon mal gesehen.”
„Wirklich?”, fragte Mäuse-Mina verblüfft. „Wo denn?”
„Bei einem Straßenfest. Da war einer, der hat ´n Schluck aus einer Flasche in den Mund genommen und dann auf eine Fackel gespuckt. Hat ´ne ganz schöne Stichflamme gegeben.”
Mäuse-Mina überlegte. „Aber dann war es das Zeug in seinem Mund, das gebrannt hat. Das Feuer kam nicht aus seinem Innern.”
Hannes schnaubte. „Natürlich nicht. Wie soll denn richtiges Feuer in einem Menschen sein? Das ist Blödsinn.”
„Warte mal.” Mäuse-Mina gab das, was Hannes gesagt hatte, an Mintz weiter. „Meinst du, so könnte es bei Agaskar gewesen sein?”
„Bei wem?”
„Agaskar. So heißt der alte Mann. Hab doch gesagt, ich finde es raus.”
„Aha. Nee, da war keine Flasche. Das Feuer hat er einfach so ausgespuckt.”
„Hört sich total bescheuert an, wie du da rumfiepst”, sagte Hannes. „Kannst du wirklich verstehen, was die Maus sagt?”
„Ja, kann ich. Und die Maus sagt, da war keine Flasche. Das Feuer kam aus seinem Innern.”
Hannes tippte sich an die Stirn. „So was gibt es nicht. Ich an deiner Stelle würde mich nicht auf das verlassen, was eine Maus sagt.”
Mäuse-Mina schwieg verdrossen und zupfte an den Wollfäden ihrer Kappe.
„Was ist, wenn wir uns das selbst ankucken?”, sagte sie dann. Sie hatte es vorgeschlagen, bevor sie richtig darüber nachgedacht hatte. Bislang hatte sie jeden näheren Kontakt mit den Schulkindern vermieden. Andererseits brauchte sie vielleicht Hilfe.
Hannes zog zweifelnd die Nase kraus. „Wie soll das gehen? Willst du Agaskar heimlich beobachten?”
„Genau. Ich will wissen, was das für einer ist. Ich trau dem nicht. Vielleicht stellt sich raus, dass es besser wär, zu verschwinden.” Sie sah Hannes kritisch an. „Und willst du vielleicht weiterhin Lakritze essen, auf die einer Feuer gespuckt hat?”
Hannes schwieg, aber es war offensichtlich, dass ihm die Vorstellung nicht behagte. „Wo wohnt er überhaupt?”
Mäuse-Mina zeigte über ihre Schulter. „Bei mir im Haus. Dritter Stock.”
„Haus?” Hannes runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen. Offenbar hatte er Mühe, das Haus überhaupt zu erkennen. „Ach, das!”, sagte er schließlich verwirrt, als hätte er es lange nicht gesehen.
„Ich versuch ´ne Möglichkeit zu finden, ihn auszuspionieren. Dann sag ich dir Bescheid. Also, was ist, machst du mit?”
„Wieso willst du, dass ich mitkomme?”
Mäuse-Mina schaute zum Haus hinüber. Im grauen Licht des Herbsttages schien es wie aus grauen Schatten gemacht. Es kam ihr vor, als verschwände es allmählich. „Ich hab ein bisschen Angst vor Agaskar. Ich glaube, er ist böse.”
„Ich glaube, du spinnst”, sagte Hannes. „Das ist nur ein alter Mann. Aber meinetwegen. Vielleicht ist es besser, sich mal anzukucken, was er mit der Lakritze macht.”
„Wieso hast du die überhaupt gegessen? Bist ganz schön vertrauensselig, was?”
Hannes zuckte die Achseln. „Manche wollten nichts von einem Fremden annehmen, vor allem die aus den ersten Klassen. Die sind sowieso ziemlich ängstlich. Diejenigen, die zuerst von der Lakritze probiert haben, meinten, das Zeug sei toll. Also haben die meisten zugelangt. Agaskar kommt immer nur in den Pausen, wirft uns ´ne Tüte zu und verschwindet schnell wieder. Wir dachten, das sei einfach ein alter Mann, der nett zu Kindern sein will.” Er schwieg nachdenklich.
„He Hannes! Was machst´n da?”
Ein stämmiger Junge stand einige Meter entfernt und grinste breit. Dann drehte er sich um und winkte ein paar andere herbei. „Kuckt euch das an! Hannes hat ´n Rendezvous mit Mäuse-Mina!”
Die Jungen bauten sich johlend hinter Hannes auf.
„Red doch keinen Quatsch!”, rief Hannes hitzig. „Was kann ich dafür, wenn sie hier rumlungert?”
Die Jungen lachten schadenfroh und machten Kussgeräusche.
„Ich geh jetzt”, sagte Mäuse-Mina.
Hannes würdigte sie keines Blickes mehr und fing eine Schubserei mit dem stämmigen Jungen an. Dann stimmte er in den Chor der Schmährufe ein, mit denen Mäuse-Mina bedacht wurde.
„Die denkt, sie kann mit Mäusen reden!”, schrie er, und alle brüllten vor Lachen.
„Blödmann!”, sagte Mäuse-Mina, als sie mit Mintz zum Haus zurücklief. Zurück in die grauen Schatten, die sich nicht mehr so richtig nach zu Hause anfühlten.
„Hab ich doch gesagt. Diesen Rothaarigen ist nicht zu trauen.”
Mäuse-Mina zuckte mit den Achseln. „Anfangs schien er ganz in Ordnung.”
Sie ärgerte sich. Wer wusste, was er den anderen alles erzählte? Vielleicht würden sie sogar Agaskar von ihr erzählen. Von ihrem Verdacht. Dann würde er wissen, dass sie und die Mäuse ihn beobachtet hatten.
Sie dachte an die Mausefallen und schauderte. Von nun an mussten sie höllisch aufpassen.
„Agaskar“, dachte sie.
Das klang sogar böse.