Читать книгу Mäuse-Mina und der Drachenzauberer - M.C. Hermann - Страница 6

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In den folgenden zwei Wochen wurde Mäuse-Mina das Haus am Ende der Straße immer unheimlicher. Sie fühlte sich wie eine Gefangene. Beim Blick aus den Fenstern wirkte die Welt draußen verschwommen, wie aus weiter Ferne gesehen. Die Äste der Bäume bewegten sich langsamer im Herbstwind als sie sollten; das Gras des Rasens schlug seltsame Wellen. Die noch belaubten Zweige eines hohen Busches schaukelten im Wind, streckten sich wie Arme, die aus der Erde herauslangten, schlangenhaft wedelnd, mal nach der einen, mal nach der anderen Seite. Wenn Mäuse-Mina zu lange hinsah, grauste es sie. Es kam ihr vor, als rutschte das Haus immer weiter aus der Welt heraus. Manchmal geriet sie in Panik; fühlte sich, als sinke sie in einen Abgrund. Es schnürte ihr die Luft ab, und wie eine Ertrinkende kämpfte sie sich dann aus dem Haus, das Herz fast schmerzhaft heftig klopfend, und hatte den Eindruck, gerade noch rechtzeitig dem Versinken entronnen zu sein.

Draußen war alles normal. Äste und Grashalme wurden vom Wind geschüttelt und gezaust wie man es erwartete, und alles andere sah auch aus wie immer.

Wenn sie sich beruhigt hatte, ging Mäuse-Mina mit stillem Grausen wieder zurück ins Haus. Es war ihr Zuhause. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie es verlassen sollte. Auch die Mäuse waren unschlüssig, aber für sie wurde es immer gefährlicher. Wegen der Mausefallen trauten sie sich kaum noch ins Treppenhaus. Fast auf jeder Stufe bis hinauf in den dritten Stock stand inzwischen eine. Ständig wurden sie mit frischen Käse- oder Wurststückchen versehen, deren Duft für die Mäuse eine arge Versuchung darstellte. Besonders für Miller war es eine Qual. Er war von Grund auf verfressen, und sein Appetit ausgeprägter als sein Verstand. Die Familie musste ein wachsames Auge auf ihn haben, damit er im Rausch der leckeren Düfte nicht durchdrehte und der Verlockung erlag.

„Dieser Agaskar hat wirklich was gegen Mäuse”, sagte Mintz einmal grimmig, als sie von Mäuse-Minas sicherer Schulter aus einen Blick auf die endlosen Reihen tödlicher Apparate aus Holz und Edelstahl warf. „Das reicht ja aus, um ganze Generationen von uns auszurotten.”

Merkwürdigerweise gab es im Keller zunächst keine Mausefallen. Es war, als scheute Agaskar die dunklen feuchten Gänge. Vielleicht wollte er auch seine auserwählten Feinde dort zusammenpferchen, um den Rest des Hauses für sich zu haben. Eine Weile fühlte sich die Familie im Keller sicher, verfluchte den alten Mann im dritten Stock, schimpfte auf die mörderischen Fallen und versorgte sich wie früher, indem sie die Speisekammern der Häuser weiter die Straße hinauf plünderte, zu denen es aus dem Keller viele enge, nur für Mäuse geeignete Verbindungen gab. Fast ging alles seinen gewohnten Gang. Man verdrängte zähneknirschend Agaskar und die eingeschränkte Bewegungsfreiheit im Haus aus seinen Gedanken und tat so, als wäre alles halbwegs normal.

Mäuse-Mina wusste, es würde nicht funktionieren. Sie hatte keine Zweifel, dass Agaskar böse war. Hinter alldem, hinter seinem Auftauchen im Haus, den Fallen und dem Herstellen der Lakritze, deren Duft Nacht für Nacht das Haus durchdrang, musste ein Plan stecken. Ein böser Plan, der sich für ihre Familie als unheilvoll erweisen würde.

Sie behielt Recht.


Zwei Wochen, nachdem sie Agaskars Namen herausgefunden hatte, tauchte eine Mausefalle im Keller auf.

Direkt an der Kellertür.

Auf der Innenseite.

Erste Treppenstufe.

Die Familie war bestürzt. Man setzte sich am selben Morgen noch, an dem die Falle entdeckt worden war, zusammen, um zu beraten.

„Er hätte uns im Schlaf überraschen können”, sagte der Mäusevater besorgt. „Wir sollten von jetzt an Wachen aufstellen.”

„Was ist, wenn er mich gesehen hat?”, fragte Mäuse-Mina. Der Gedanke ließ sie schaudern. Ihr Lager befand sich in einem der Kellerabteile, aber natürlich hatte sie keine Möglichkeit, es abzuschließen. Vielleicht hatte Agaskar in der Nacht alles durchsucht und überall herumgeschnüffelt.

„Dann hätte er wahrscheinlich nicht einfach nur eine Mausefalle aufgestellt”, meinte Müriel.

„Gibt´s auch Menschenfallen?”, fragte Miller.

Mäuse-Mina antwortete nicht. Sie fürchtete, das Haus selbst war inzwischen eine Menschenfalle.

Abends nahm sie ihre Decken und zog sich weit in einen der Gänge zurück. Halbschwanz hatte die erste Wache übernommen, aber Mäuse-Mina bezweifelte, dass sie überhaupt ein Auge zutun würde. Wie sollte sie in diesem Haus jemals wieder ruhig schlafen? Sie fühlte sich mehr denn je wie in einer Falle. Es konnte so nicht weitergehen. Entweder sie fanden einen Weg, Agaskar loszuwerden, oder sie mussten selber gehen.

Sie döste schließlich doch noch ein, aber mitten in der Nacht wurde sie von Halbschwanz´ aufgeregtem Gepiepse geweckt.

„Er ist da!“, wisperte er. „An der Kellertür.“

Mäuse-Mina war sofort hellwach. „Was macht er?”

„Hat in die Falle gekuckt. Der Blödmann!”

„Wo sind die anderen?”

„Im Gang. Beobachten ihn.”

„Lass uns hingehen. Ich will sehen, was er vorhat.”

In der Finsternis des Gangs stießen sie auf die anderen Familienmitglieder. Mäuse-Mina hockte sich neben sie. Vor ihnen lag ein grauer Fleck in der Dunkelheit, und ein Schatten huschte dort bei der Treppe herum. Die offene Kellertür ließ ein wenig Licht herein, Mondlicht, das sich im Treppenhaus verfangen hatte und dort herumkugelte.

„Ich glaube, er stellt noch mehr Fallen auf”, flüsterte der Mäusevater.

„Das Schwein!”, zischte Halbschwanz voll unterdrückter Wut. „Ich möchte ihn beißen!”

„Mach keinen Quatsch!”, sagte Mintz. „Er darf uns nicht sehen. Schon vergessen? Der Kerl kann Feuer spucken.”

„Aber er versaut uns den Keller mit seinen Fallen! Wie sollen wir hier noch leben? Willst du auf Schritt und Tritt diese Höllenmaschinen vor der Nase haben?”

Mintz schwieg.

„Ich könnte sie einsammeln und wegwerfen”, sagte Mäuse-Mina halbherzig.

„Dann weiß er, dass hier jemand wohnt”, sagte der Mäusevater. „Wer weiß, was er dann macht.”

Wütend und hilflos beobachteten sie, wie Agaskar in der Nähe der Treppe einen Kreis aus Fallen aufstellte.

„Was packt er da bloß rein?”, fragte Miller und zappelte unruhig hin und her. „Das riecht ja köstlich!”

„Reiß dich zusammen, du blöde Nuss!”, zischte Mintz. „Wenn die Falle dir die Rübe abtrennt, wird es gar nicht mehr köstlich riechen.”

Miller wimmerte.

„Mintz, sei nicht so hart zu ihm”, sagte die Mäusemutter. „Er ist nun mal verfressen. Er kann nichts dafür. Alle Mäuse müssen viel fressen, aber bei ihm ist der Bauch doppelt so groß wie bei allen anderen.”

„Wir sollten ihn fesseln”, sagte Mintz gnadenlos. „Wenn er Agaskars Köder noch länger riecht, dreht er durch.”

Mintz´ Befürchtungen waren nicht unberechtigt. Miller trippelte im Kreis herum und hielt immer nur kurz inne, um seine Nase in die Luft zu recken und zu schnuppern. Man hörte regelrecht, wie ihm das Wasser im Maul zusammenlief. Ein leises Schwappen und Schmatzen.

Plötzlich lief er los in Richtung Kellertür.

„Miller!”, rief die Familie leise und entsetzt. Mäuse-Mina reagierte blitzschnell und packte ihren dicken Mäusebruder gerade noch rechtzeitig am Schwanz.

„Lass mich los! Lass mich los!”, rief er und zappelte aufgeregt. „Ich halt das nicht mehr aus! Ich will fressen! Fressen! Fressen!”

Mäuse-Mina hob ihn am Schwanz hoch und hielt ihn sich vors Gesicht.

„Pst!”, machte sie. Sie fürchtete, Millers aufgeregtes Gepiepse würde Agaskars Aufmerksamkeit erregen.

Aber Miller war in seiner unbändigen Fresslust offenbar nicht mehr zurechnungsfähig. Der Appetit schien seine Gedanken zu verwirren, und er kannte nicht mehr Freund noch Feind. Er biss Mäuse-Mina in die Nase, um zu erreichen, dass sie ihn losließ.

Sie quiekte erschrocken. Dann schlug sie sich die Hand vor den Mund.

Alle schauten zur Kellertreppe. Der Schatten dort stand wie erstarrt. Sie konnten Agaskars Gesicht nicht erkennen, aber es war unverkennbar, dass er das Geräusch gehört hatte.

Einige Sekunden lang passierte gar nichts. Dann aber trat Agaskar einen Schritt auf den Gang zu, in dem die Familie sich verbarg.

„Weg!”, rief der Mäusevater.

Alle drehten sich um und rannten den Gang hinunter ohne zurückzuschauen. Mäuse-Mina hatte immer noch Miller gepackt. Sie war wütend auf ihn, aber in seinem Zustand durfte er nicht frei herumlaufen.

Sie nahm eine Abzweigung. Dann noch eine. Sie wusste nicht, ob die Mäuse ihr folgten, aber vielleicht war es besser, wenn sie sich verteilten. Nach einigen Minuten blieb sie stehen, lehnte sich an eine feuchte Wand, versuchte, leise zu atmen, und horchte.

Miller zappelte in ihrer Hand herum und piepste.

„Halt die Klappe!”, zischte sie.

Jetzt, da er außer Reichweite der Gerüche war, die den Fallen entströmten, schien er sich zu beruhigen. Mäuse-Mina lauschte, konnte aber nichts hören. Aus der anderen Richtung wehte ein ungewöhnlich kalter Wind. Es war einer jener Gänge, die nirgendwohin zu führen schienen. Mäuse-Mina fröstelte. Sie hatte diese Gänge immer gemieden, wollte gar nicht wissen, was an ihrem Ende lag. Wenn da überhaupt irgendwo ein Ende war.

Vorsichtig ging sie zurück in Richtung Kellertreppe. Agaskar war nicht hinter ihnen hergestürmt, sonst hätte sie ihn längst gesehen. Wo war der Rest der Familie? Sie traute sich nicht zu rufen. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass der alte Mann sich versteckte und im Dunkeln auf sie lauerte.

Neben ihr raschelte es. Mäuse-Mina ließ vor Schreck Miller fallen.

„Aua!”, rief er nach der unsanften Landung.

„Scht!”, machte es neben ihnen. „Ich bin´s. Zwick.”

„Zwick!”, rief Mäuse-Mina erleichtert. „Hast du Agaskar gesehen?”

„Nee. Ich glaube nicht, dass er uns gefolgt ist. Anscheinend ist ihm der Keller nicht geheuer.”

„Wo sind die anderen?”

„In den Gängen verschwunden. Hast du Miller bei dir?”

„Jetzt nicht mehr. Ich hab ihn fallen lassen. Komm her, Miller!”

Nichts rührte sich.

„Miller?”

Nichts.

Zwick stöhnte. „Hoffentlich ist der Dussel nicht zu den Fallen gelaufen. Verflucht sei seine Fresslust!”

Mäuse-Mina tastete sich voran. „Wir müssen ihn erwischen. Bevor es ihn erwischt.”

Sie erreichten den Hauptgang, der zurück zur Kellertreppe führte, und stießen auf Mintz.

„Hast du Miller gesehen?”, fragte Zwick.

„Glaubst du, ich bin eine Katze und kann im Dunkeln sehen?”, brummte Mintz. „Etwas ist an mir vorbeigesaust. Könnte der Dicke gewesen sein.”

„Verdammt!” Mäuse-Mina schaute unruhig in Richtung Treppe. Am Ende des Ganges befand sich immer noch der graue Lichtfleck, aber von Agaskar war nichts zu sehen. „Wir müssen zu den Fallen.”

Hinter ihnen kamen die Mäuseeltern, Müriel und Halbschwanz heran.

„Was ist los?”, fragte Letzterer. „Wollen wir Agaskar angreifen?”

„Hör auf zu spinnen”, sagte Mintz. „Miller ist uns entwischt.”

„Oh nein!”, rief die Mäusemutter. „Wir müssen ihn finden!”

So schnell sie es wagten und mit so wenig Geräusch wie möglich rannten sie den Gang entlang. Sie waren etwa bis zur Mitte gekommen, als es einen lauten Knall gab. Fast gleichzeitig war ein schrilles Piepsen zu hören.

„Miller!”, riefen alle und blieben erschrocken stehen.

„Es hat ihn erwischt!”, rief Müriel. „Was machen wir jetzt?”

„Wir müssen ihm helfen!”, schrie der Mäusevater.

„Die Falle! Wir müssen die Falle finden!”, drängte Mäuse-Mina. „Ich versuche ihn zu befreien.”

Aber in dem Moment, in dem sie sich wieder in Bewegung setzten, erschien Agaskar in dem grauen Licht bei der Treppe.

Wieder blieben alle stehen.

„Was jetzt?”, fragte Mintz. „Wenn der Miller findet ...”

„Ich greife an!”, sagte Halbschwanz entschlossen.

Aber ehe jemand etwas unternehmen konnte, spuckte Agaskar Feuer in den Gang. Die grünliche Flamme strömte fauchend aus seinem Mund und schwang wie eine Peitsche vor und zurück und hin und her. Mäuse-Mina wandte geblendet die Augen ab.

„Miller!”, schrie Mintz. „Er hat Miller geröstet!”

Agaskars Feuer war über sämtliche Fallen hinweggefegt. Bei den meisten brannte das Holz. Die kleinen Brände erhellten den Gang, und man konnte sehen, dass einige Fallen völlig verkohlt waren.

„Miller ist tot”, flüsterte Müriel entsetzt. „Er kann das Feuer nicht überlebt haben.”

Die Familie stöhnte entsetzt.

„Doch, hab ich”, sagte eine Stimme aus den Schatten am Rand des Ganges.

„Miller!”, rief die Mäusemutter. „Du lebst?”

Sie fiel in Ohnmacht, und Mäuse-Mina musste sie aufsammeln.

„Ist dir wirklich nichts geschehen?”, fragte der Mäusevater. „Wir haben die Falle knallen gehört.”

Miller fing an zu heulen. „Mein Schwanz!”, sagte er. „Ein Stück ist ab. Es tut so weh!”

Ein weiterer Flammenstoß fegte von der Kellertreppe heran. Es roch verbrannt, und der Rauch ließ Mäuse-Mina husten.

Sie hob Miller auf. „Wir müssen hier weg.”

Alle stoben davon, den Gang hinunter, die Hitze des Feuers im Nacken. Das Fauchen der Flammen ließ nicht nach. Anscheinend war Agaskar außer Rand und Band und wollte sichergehen, dass keine Mäuse überlebten.

Erst nach zehn Minuten und tiefer in den Gängen als je zuvor, wagte die Familie es, stehenzubleiben und zurückzuhorchen. Alle waren außer Atem. Mäuse-Mina, in jeder Hand eine Maus, starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Hinter ihnen blieb es ruhig. Keine Schritte. Kein Feuer. Nur in ihrem Herzen brannte die Angst, als hätte die Glut Agaskars es angezündet.

Mäuse-Mina und der Drachenzauberer

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