Читать книгу Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel - M.E. Lee Jonas - Страница 6

Kapitel 2 Nach dem Vergessen und vor der Erinnerung

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Knapp 8 Jahre später.

Wir schreiben mittlerweile das Jahr 2011 und befinden uns in Marton, einer größeren Ortschaft auf der Nordinsel Neuseelands, die etwa zwanzig Kilometer nördlich der South Taranaki Bight liegt. Niemand Geringeres als der legendäre Seefahrer James Cook soll diesen Boden als erster Mensch betreten haben, weshalb die ansässige Privatschule auch nach ihm benannt wurde. Während des Schuljahres dient das Internat etlichen Kindern und Jugendlichen aus allen Teilen Neuseelands als zweiter Wohnsitz.

Es ist Ende Dezember und die großen Feiertage stehen vor der Tür. Für die meisten Schüler bedeutet das mehr als fünf Wochen Sommerferien, die sie bei ihren Familien verbringen können. Die letzte Unterrichtswoche steht folglich an, wobei die Internatsbewohner in Gedanken schon zu Hause sind. Alle außer Josie Jezabel Smith, die ihre Ferien auf dem Campus verbringt, den sie seit acht Jahren ihr Zuhause nennt. Soweit sie sich erinnern kann, lebt sie schon immer hier, da sie sich an die Zeit davor nicht erinnern kann. Aber J.J., wie sie alle nennen, ist glücklich.

Mittlerweile besucht sie die 8. Klasse und freut sich schon seit Wochen auf ihren 14. Geburtstag. Den will sie mit der Hausdame Pippa und deren Familie feiern, die sie liebevoll wie ein weiteres Familienmitglied behandeln.

J.J. ist für ihre außerordentlich kreative Begabung bekannt und wegen ihrer natürlichen, lockeren Art bei ihren Mitschülern eigentlich sehr beliebt. Das hellblonde Haar, welches ihre graugrünen Augen wie ein kostbares Gemälde umrahmt, wird ihr von vielen Mädchen geneidet. Für ihr Alter ist sie ziemlich groß, weshalb sie auf den ersten Blick recht erwachsen erscheint. Ihre temperamentvolle Art zu sprechen tut ihr Übriges.

Am liebsten trägt sie Jeans und individuelle T-Shirts, die sie selbst schneidert. J.J. ist sehr talentiert. Es spielt keine Rolle, welche Farben und Formen sie kombiniert, am Ende passt alles perfekt zusammen, und braucht den Vergleich mit Designermode nicht zu scheuen.

Seit zwei Jahren teilt sie sich mit Zoé, ihrer besten Freundin, ein Zimmer. Das quirlige Mädchen hat ebenfalls ein Faible für Kunst und individuellen Stil, den sie jedoch weniger in ihrer Kleidung auslebt. Zoé liebt verrückte Frisuren, weshalb sie ihre Freizeit meist mit abenteuerlichen Experimenten verbringt, um ihre Haarpracht zu verschönern. Im Moment trägt sie schulterlange Rastazöpfe, die sie erst vor drei Tagen grell pink gefärbt hat.

William und Felder vervollständigen die Clique um J.J.

William gilt an der Schule als Vorzeige-Nerd, was J.J. lediglich an seiner großen Brille festmachen möchte. Eigentlich ist er nämlich ein lockerer und lustiger Zeitgenosse, der sie mit trockenem Humor ständig zum Lachen bringt. William ist eben nicht der athletische Typ, sondern eher ein Philosoph, wie J.J. immer betont. Felder, der Vierte im Bunde, heißt eigentlich Barnabas Lionel Felder. Da er allerdings keine Lust auf die ständigen Hänseleien wegen seines Vornamens hat, stellt er sich immer nur mit Nachnamen vor. Im Gegensatz zu seinem bestem Freund ist er hochgewachsen und ein absoluter Spitzensportler. Er beschützt J.J. wie ein großer Bruder, ist jedoch seit Jahren heimlich in Zoé verliebt. Im Großen und Ganzen ist es eine Gruppe Teenager mit vielen Träumen und Problemen, wie wir sie in diesem Moment sicherlich an jeder Schule dieser Welt vorfinden würden.

Seit ein paar Monaten hat J.J. allerdings mehr Probleme, als sie gebrauchen kann, und ihre Träume sind alles andere als schön.

»Hey J.J., heute schon ein paar Leute in die Luft gejagt?«

Eine Traube kichernder Mädchen drängt sich dicht an J.J. vorbei. Die kneift genervt die Augen zusammen und holt tief Luft.

»Nein. Heute noch nicht. Aber wenn ihr eine Minute Zeit für mich hättet?«, zischt sie gereizt, bevor sie die Spindtür zuknallt und wütend durch die Gruppe trampelt.

Die Mädchen amüsieren sich köstlich und rufen noch ein paar alberne Beleidigungen hinterher, bevor sie nach anderen Opfern suchen, denen sie auf die Nerven gehen können.

J.J. stampft wütend den Gang hinunter und betritt wortlos den Klassenraum, wo Zoé sie schon sehnsüchtig erwartet.

»Na endlich! Wo warst du denn? Ich warte schon seit einer Ewigkeit auf dich«, fragt sie theatralisch.

J.J. schnaubt und wirft die Bücher auf den Tisch, ohne ihre Freundin anzusehen.

»Ich war bei Mrs. Rogan. Ausgleichsgespräch«, antwortet sie knapp und spitzt dabei die Lippen extra gekünstelt zu einem Schmollmund, sodass Zoé lachen muss.

»Wegen der Geschichte mit Britany?«, fragt sie besorgt.

J.J. räumt ihre Bücher ordentlich zusammen und lässt sich genervt auf den Stuhl fallen. Erschöpft legt sie den Kopf auf den Tisch und grummelt. Zoé starrt sie erwartungsvoll an.

»Ja und was hat sie gesagt?«, blafft sie neugierig.

J.J. mustert die Tischplatte und zuckt ratlos mit den Schultern.

»Britanys Eltern haben bei ihr angerufen und um eine Stellungnahme gebeten. Britany hat ihren Eltern erzählt, dass ich sie in die Luft sprengen wollte, und sie Glück hätten, dass sie noch am Leben sei. Mrs. Rogan wollte wissen, wie ich das angestellt habe. Was sollte ich darauf antworten? Britany äfft mich nach. Ich sage ihr, dass sie das lassen soll, weil ich ihr sonst etwas Schreckliches antue. Britany lacht mich aus. Ich werde sauer und peng, fliegt sie einen halben Meter durch die Turnhalle. Ende! Oh, Zoé. Was stimmt nicht mit mir? Ständig passieren mir irgendwelche dummen Sachen. Vielleicht bin ich verflucht?«

J.J. dreht sich hilfesuchend zu ihrer Freundin, die ihr beruhigend auf die Schultern klopft.

»Mach dir bloß keinen Kopf! Meine Mutter sagt, dass deine Hormone verantwortlich sein könnten. Wir kommen jetzt in diese weltbestimmende Phase und da passieren wohl viele dieser Dinge, die uns verunsichern.«

J.J. richtet sich ruckartig auf und sieht ihre Freundin verwirrt an.

»Du meinst also, meine Hormone sind schuld daran, dass Britany durch die Luft schwebt oder in Thalias Zimmer das Fenster von alleine aufgeht und alle Papiere wild durch das Zimmer fliegen? Oder, dass sich der Wasserhahn verabschiedete, als mich der dumme Joe belästigt hat? Na, dann hoffe ich mal, dass wir nicht alle gemeinsam in diese Phase kommen, sonst gibt das ein ganz schönes Chaos hier!«

Die Mädchen lachen laut auf und ziehen ein paar alberne Grimassen. J.J. ist froh, dass sie Zoé hat, da sie sich immer darauf verlassen kann, dass diese sie wieder aufmuntert. In diesem Moment kommt Mr. Muller, ihr Geschichtslehrer, in die Klasse. Die Mädchen mögen ihn sehr, da er seinen Schülern die Historie sehr lebhaft näherbringt.

J.J. versucht dem Unterricht aufmerksam zu folgen, ihre Gedanken schweifen jedoch immer wieder ab.

»Ich muss aufpassen!«

Ständig meldet sich ihre innere Stimme und befiehlt: »Pass auf dich auf!«

Aus Angst, dass ihr gleich wieder übel wird, stützt sie ihren Kopf in die Hände.

»Wenn ich nur wüsste, was mit mir los ist?«, denkt sie betroffen.

»Solang ich mich erinnern kann, bin ich in dieser Schule und hatte noch nie irgendwelche ernsthaften Probleme. Aber seit ein paar Monaten ist es wie verhext! Ständig gerate ich in kuriose Situationen, die ich mir nicht erklären kann. Mittlerweile tuschelt schon die halbe Schule über mich. Selena hat mich sogar gefragt, ob ich Drogen nehmen würde. Als ich ihr daraufhin ziemlich wütend meine Meinung geigte, ist die Thermoskanne in ihrer Hand geplatzt. Einfach so, in eintausend Stücke zersprungen! Sie hat mich mit großen Augen angestarrt und losgeschrien wie der Teufel. Gott sei Dank hatte sie ihre wasserfeste Jacke an und den heißen Tee nicht auf die Haut bekommen. Das war das erste Mal, dass ich in das Zimmer der Direktorin musste. Aber versuche mal jemandem zu erklären, dass du nichts damit zu tun hast, wenn vierzig völlig hysterische Mädchen das Gegenteil behaupten.

Und dann diese furchtbaren Träume. Ich träume oft ziemlich uncooles Zeug. Da sind diese grässlichen Kreaturen, die mit mir sprechen. Halbe Hunde, Geisterwesen, Krokodile, die fliegen können, Katzen, denen Klingen aus dem Kopf wachsen, und alle verschwinden in diesem schwarzen »Nichts«. Dieses schwarze Ding ist mir unheimlich, denn es scheint nach mir zu suchen. Es ruft mich! Irgendwie bin ich davon aber auch so fasziniert, dass ich ihm antworte und sage, wo es mich findet. Vielleicht werde ich ja verrückt?

Eilmeldung! Josie Jezabel Smith wird im Alter von vierzehn Jahren irre! Super Prognose!«

Ein heftiger Stoß in die Rippen reißt sie aus ihren Gedanken.

»Hallo J.J., alles in Ordnung mit dir?«, fragt Mr. Muller, der mit erwartungsvoller Miene vor ihr steht.

J.J. rappelt sich auf und sieht ihren Geschichtslehrer verlegen an.

»Tut mir leid, Mr. Muller. Ich glaube, ich konnte Ihnen nicht ganz folgen. Worum geht es noch?«

Mr. Muller setzt sich auf ihr Pult und wirft die Kreide leger wie ein Zirkusjongleur durch die Luft.

»Ich dachte eigentlich, dass du beim nächsten Geschichtsseminar deine Klasse vertreten könntest. Aber im Moment scheinst du nicht wirklich daran interessiert zu sein. Vielleicht holt dich ein Referat über die Unabhängigkeitserklärung zurück in unsere heiligen Reihen. Also, ich bin sehr gespannt darauf. In vier Tagen beginnen die Sommerferien. Ich würde ungern fünf Wochen darüber sinnieren, was du so herausgefunden hast. Also denke ich, dass du das Referat bis Donnerstag fertig haben solltest.«

Die Klasse klatscht und jubelt, während J.J. verlegen noch tiefer in ihren Stuhl rutscht.

»Fein, jetzt hat mich auch noch mein Lieblingslehrer auf seiner roten Liste«, denkt sie wütend und katapultiert ihre Bücher in die Tasche, als der Pausengong sie endlich aus dem Unterricht erlöst.

»Hey, wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid. Kein Problem für mich«, bietet Zoé an, während sie krampfhaft versucht, ein natürlich wirkendes Lächeln in ihr hübsches Gesicht zu zaubern. Aber J.J. verdreht nur genervt ihre Augen.

»Ich denke, dass mir niemand helfen kann. Es sei denn, du kannst das Pech von meinen Schuhsohlen kratzen«, blafft J.J. beleidigt zurück.

Zoé sieht ihre Freundin sauer an und hebt abwehrend die Hände.

»Ich meinte eigentlich das Referat, das immerhin in drei Tagen fertig sein muss. Die Mappe für den Kunstunterricht sollen wir auch noch fertigstellen. Ich denke, du kannst mir sagen, wenn du aus dem Meer deines Selbstmitleides wieder herausgefunden hast. Ich gehe so lang schon mal auf unser Zimmer.«

Sie klopft ihrer Freundin noch kurz auf die Schultern und stampft genervt aus der Klasse. J.J. nimmt ihre Tasche und geht verlegen Richtung Speisesaal.

»Mal sehen, was Pippa heute gezaubert hat«, murmelt sie sich aufmunternd zu.

Als sie den großen Speisesaal betritt, bemerkt sie, dass sich die Hälfte der Schüler ein Stück zur Seite setzt, als hätten sie Angst vor ihr. Die hämischen Blicke, die sie sich verstohlen zuwerfen, unterstreichen ihre Annahme. Sie stockt einen Moment und schlendert dann extra lässig zur Essensausgabe. Sie ist heilfroh, als sie Pippa entdeckt, die ihre Kelle wie eine Trophäe in die Luft streckt.

»J.J., mein Liebes! Ich hoffe, du hast ordentlich Appetit mitgebracht! Ich habe heute nämlich dein Leibgericht gezaubert. Spaghetti mit Käsesoße und als Nachtisch gibt es meinen preisgekrönten Obstsalat. Also nimm dir den größten Teller und komm hierher.«

J.J. lächelt Pippa dankbar zu und geht zu dem Tisch mit dem Geschirr, wobei sie automatisch an Britany Hoilding und deren Freundinnen vorbeigehen muss. Nah genug, um die zickigen Bemerkungen ihrer Erzfeindin zu hören.

»Also, meine Eltern haben gesagt, dass ich mir von dummen Personen nichts gefallen lassen soll! Ich soll sie ignorieren, weil sie einfach unter unserem Niveau seien!«

J.J. tut so, als ob sie es nicht gehört hätte, und geht stur an ihnen vorbei. Gereizt schnappt sie sich ein Tablett und Besteck. Als sie damit zur Essensausgabe schlendert, blafft Britany, die lässig ihre frischlackierten Fingernägel begutachtet, weiter.

»Und! Menschen auf hinterlistige Art anzugreifen und durch die Luft zu schmeißen, ist so was von mehr als unter unserem Niveau! Einfach nur abartig und primitiv!«

Britanys Freundinnen nicken ihr bestätigend zu und kichern herablassend in J.J.s Richtung. Die hat die Nase nun gestrichen voll und geht schnurstracks auf Britany zu.

»Haben dir deine Eltern auch beigebracht, das Nachäffen dumm ist? Und! Dass es eigentlich unmöglich ist, dass eine Person, die einen Kopf kleiner ist und mindestens zehn oder zwanzig Pfund weniger wiegt, dich einfach mal eben durch die Luft schmeißt? Es tut mir wirklich leid, dass dieses phänomenale Ereignis stattgefunden hat, als ich gerade neben dir stand, aber ich habe dich noch nicht einmal angerührt! Du bist eine hohle Nuss, Britany Hoilding! Und! Das kannst du jetzt auch deinen Eltern erzählen!«

J.J. nimmt ihr Tablett und lässt Britany und ihre vier Freundinnen, die sie mit offenen Mündern anstarren, einfach sitzen. Kurz vor ihrem Ziel hört sie, wie sich ein Stuhl quietschend über den Boden schiebt, bevor die Stimme ihrer nervtötenden Mitschülerin erneut losdonnert.

»Na, wenigstens habe ich noch Eltern, denen ich etwas erzählen kann«, schreit Britany ihr verachtend hinterher und unterstreicht diesen Schlag mit einem höhnischen Lachen.

J.J. stockt und dreht sich langsam zu ihr. Die Augen aller Anwesenden sind auf die beiden Kontrahentinnen gerichtet und plötzlich ist es mucksmäuschenstill im Saal. Pippa versucht den Konflikt zu lösen und kommt mit erhobener Kelle nach vorn gelaufen.

»Britany Hoilding, du unverschämte, verzogene …«, schimpft sie los, aber J.J. packt sie am Arm.

»Lass gut sein, Pippa. Das ist meine Show«, sagt sie knapp und geht langsam auf Britany zu.

Die steht neben ihrem Tisch und stemmt provozierend die Hände in die Hüften, während ihre Freundinnen albern kichern.

»Und was jetzt? Willst du mich hier vor allen Leuten durch die Luft werfen, oder was?«

Die Stimme von Britany ist schrill und laut, aber J.J. hört sie nicht. Irgendetwas in ihrem Innersten beginnt sich plötzlich zu rühren. Unbekannte, dunkle Worte schießen ihr durch den Kopf und plötzlich weiß sie, dass sie dieses Duell gewinnen wird. Ihr Blut pulsiert. Es ist ein ansteigender Takt, als würde eine Armee singender Soldaten durch ihren Körper marschieren. Zum ersten Mal sträubt sie sich nicht gegen dieses merkwürdige Gefühl.

Dann passiert etwas Unglaubliches. Als sie versucht, ihr Tablett abzustellen, reißt es sich plötzlich los und fliegt wie ein Katapult geradewegs auf Britany zu. Die schreit schrill auf und rettet sich im letzten Moment mit einem Sprung zur Seite. Das Tablett zischt nur knapp an ihrem Kopf vorbei, bevor es, von der Wand gestoppt, laut scheppernd zu Boden fällt.

»Seht ihr. Die ist total irre! Wirft mir doch glatt das Tablett an den Kopf! Pippa, dieses Mal kannst du sie nicht in Schutz nehmen! Alle haben gesehen, was passiert ist!«

Weiter kommt Britany nicht. Eine Mitschülerin reißt sie mit einem gewaltigen Ruck unter einen Tisch, bevor ein ohrenbetäubender Knall den Saal erschüttert. Erst herrscht Totenstille, dann bricht schlagartig Panik aus. Wild schreiend rennen die Schüler zum Ausgang. Manche stolpern über umgefallene Stühle, andere kriechen auf allen vieren zur Tür. Pippa zuckt zusammen und erschrickt, als sie bemerkt, dass einer der großen Leuchter heruntergefallen ist. Lediglich ein großes Loch erinnert daran, wo er vor ein paar Minuten noch hing. Zum Glück ist er genau zwischen zwei Tischen gelandet, sodass er nur die Splitter der Glühbirnen und den Deckenputz unter sich begraben konnte.

»Leute! Beruhigt euch doch bitte. Es ist alles völlig in Ordnung. Lasst uns die Sache wie vernünftige Menschen regeln!«, versucht Pippa zu beruhigen, während sie hinter der panischen Meute herläuft.

J.J. steht immer noch wie versteinert im Saal und starrt Britany mit offenen Augen an. Diese hat sich wieder aufgerappelt und starrt fassungslos auf den Leuchter, bevor sie hysterisch losschreit. Dieser Lärm holt J.J. aus ihrer Starre. Sie blinzelt kurz und schaut sich verwirrt um.

»Was ist denn hier passiert? Ein Erdbeben?«, murmelt sie verstört.

Britany stoppt mit dem Gekreische und trampelt wie eine Hexe auf sie zu. Während sie ihr den Zeigefinger unter die Nase hält, beginnt sie hasserfüllt zu fauchen.

»Du bist eine aggressive Furie!«

Dann schnappt sie theatralisch nach Luft und kreischt weiter.

»Ich werde jetzt sofort meine Eltern anrufen und ihnen sagen, dass du mich umbringen wolltest, und das vor allen Schülern! Dann wird Mrs. Rogan gar nichts anderes übrig bleiben, als dich endlich von der Schule zu werfen! Du gehörst in ein Irrenhaus!«

Noch während sie redet, streicht sie ihr geblümtes Kleid glatt und rennt an J.J. vorbei.

Die dreht sich reflexartig um und packt sie am Arm.

»Britany, ich gebe dir einen guten Rat. Halte dich von mir fern und belästige mich nie wieder!«

Britany holt tief Luft und ringt nach Worten voller neuer Gemeinheiten, als J.J. sie einfach stehenlässt und aus dem Speisesaal stürmt. Den Tumult im Gang ignoriert sie. Sie rennt zum Ausgang, da ihr plötzlich speiübel ist. Als sie endlich an der frischen Luft ist, beginnt sich im Kopf alles zu drehen.

»Mist! Was war das denn?«, japst sie leise, als sie den Schülerauflauf auf dem Vorplatz bemerkt.

Und alle starren sie mit großen Augen an! Entnervt legt sie den Kopf in die Hände und überlegt, ob sie eine Rede halten soll, um dem peinlichen Vorfall einen krönenden Abschluss zu verpassen. Aber Pippa eilt ihr voraus.

»Kommt schon, Leute. Das besessene Tablett haben wir eingefangen. Ihr könnt jetzt also wieder in den Speisesaal zurückkommen und weiteressen. Außerdem ist der Leuchter doch schon heruntergefallen, also braucht ihr vor dem keine Angst mehr zu haben!«

Sie stupst J.J. in die Seite und zwinkert ihr verschmitzt zu. Diese winkt genervt ab und geht stur zu ihrem Wohngebäude. Vor der Haustür dreht sie sich noch einmal um. Die Menge hat sich inzwischen etwas gelichtet, aber die restlichen Schüler starren ihr kopfschüttelnd hinterher.

»Das hält doch echt kein Mensch aus«, denkt sie gereizt und schließt eilig die Eingangstür auf.

Sie rennt den langen Flur entlang und sprintet hinauf in die zweite Etage. Dort, am Ende des Ganges, liegt ihr Zimmer, das sie sich seit ein paar Jahren mit Zoé teilt. Ohne sich umzusehen, knallt sie die Tür hinter sich zu und wirft ihre Tasche in die Ecke. Fassungslos schmeißt sie sich auf ihr Bett.

Zoé sitzt im Schneidersitz auf ihrem Bett und liest unberührt in ihrer Zeitschrift.

»Na, schlechten Tag gehabt?«, fragt sie, ohne von ihrer Lektüre aufzusehen.

J.J. springt hoch und schnaubt.

»Du glaubst nicht, was gerade passiert ist«, beginnt sie hektisch zu erzählen, als Zoé ihr ins Wort fällt. Sie massiert theatralisch ihre Schläfen, während sie die Augen gruselig unter den geschlossenen Lidern hin und her wandern lässt.

»Lass mich raten. Britany hat dich provoziert, worauf du dich entschlossen hast, dein Tablett nach ihr zu werfen. Weil dir das aber nicht dramatisch genug war, hast du gleich noch den Leuchter von der Decke gerissen, sodass alle Schüler in Todesfurcht aus dem Speisesaal gestürmt sind!«, orakelt sie mit hoher, leiser Stimme.

J.J. sieht sie entsetzt an und ringt nach Worten.

»Kannst du Gedanken lesen?«, fragt sie verwirrt.

Zoé lacht und legt ihre Zeitschrift zur Seite.

»Das brauche ich nicht, solange Selena an dieser Schule ist. Ungefähr zehn Sekunden nach dem Vorfall habe ich eine SMS von ihr bekommen. So wie der Rest der Schule auch.«

Seufzend steht sie auf und geht zu ihrer verzweifelten Freundin.

»Was ist eigentlich mit dir los? Ich weiß, dass Britany eine verwöhnte dumme Gans, nein, eine sehr verwöhnte dumme Gans ist. Aber diese Dinge, die dir da ständig passieren, sind schon sehr suspekt. Vielleicht sollten wir mal einen Arzt aufsuchen. Sieh mal, ich fahre in vier Tagen nach Hause, dann bist du hier ganz allein. Na gut, Pippa und ihre Töchter bleiben auch auf dem Campus. Aber hier in diesem Zimmer bist du allein! Vielleicht solltest du doch mit mir mitfahren. Ich könnte meine Eltern gleich fragen. Die freuen sich bestimmt!«

J.J. setzt sich an ihren Schreibtisch und starrt betroffen aus dem Fenster.

»Danke, Zoé. Nimm es mir bitte nicht übel, aber ich habe keine Lust auf Campingurlaub und Marathonwanderungen. Ich bleibe hier bei Pippa. Ich denke, das ist einfach nur der Stress. Wenn ich es gar nicht mehr aushalte, rufe ich dich an. Versprochen!«

Zoé winkt ab und widmet sich wieder ihrer Zeitschrift. J.J. legt sich auf ihr Bett und denkt nach.

»Was hat mich bloß so wütend gemacht? Zoé hat recht. Britany war schon immer eine richtige Nervensäge. Aber ich konnte über ihre Dummheit immer lachen! Sie hat vorhin meine Eltern erwähnt. Das war bestimmt der Grund! Es ist seltsam. In den letzten Jahren habe ich überhaupt nicht mehr an sie gedacht. Es ist irgendwie so, als hätte ich überhaupt keine eigene Familie gehabt oder sie einfach vergessen. Aber so etwas ist doch eigentlich unmöglich! Ich brauche dringend eine Limonade.«

Sie schlendert zum Kühschrank und bemerkt überhaupt nicht, dass sie schon auf dem Weg dorthin ihre Eltern wieder vergessen hat. Entschlossen setzt sie sich an den Zeichentisch, um an ihrem Projekt für die Kunstmappe weiterzuarbeiten. Es ist schon spät in der Nacht, als sie das Licht löscht und sich erschöpft ins Bett legt. In dieser Nacht hat sie wieder einen dieser merkwürdigen Träume:

Sie befindet sich in einem außergewöhnlichen Garten, in dem fantastische Blumen, Sträucher und Bäume wachsen. Der Duft dieser befremdlichen Gewächse ist schwer und betört sie auf angenehme Weise, während er sie an etwas längst Vergangenes erinnert. Eine tiefe Sehnsucht ergreift sie, ohne dass sie weiß, wonach. Verträumt legt sie sich auf die große Blütenschaukel, die zwischen zwei Bäumen mit exotisch anmutenden Früchten hängt, und sieht hinauf in den wolkenlosen Himmel. Plötzlich nimmt sie einen anderen, intensiven Geruch wahr, der ihr seltsam vertraut ist. Ein Aftershave, holzig und dennoch angenehm leicht. Vor ihrem geistigen Auge erscheint eine Gestalt, deren Gesicht sie nicht erkennen kann. Aber sie hat keine Angst vor ihr, sondern eher das Bedürfnis sie zu umarmen. Als sich der Gedanke wie eine flüchtige Wolke auflöst, wird der Geruch stärker. So als würde diese Person direkt hinter ihr stehen. Voller Vorfreude dreht sie sich um, kann jedoch niemanden entdecken. Da wird sie sehr traurig. Etwas völlig Unbekanntes ergreift sie. Ein schmerzliches Gefühl, das sie nur in ihren Träumen einholt. Heimweh. Doch da bemerkt sie einen Schatten.

Neben ihrer Blütenschaukel entdeckt sie einen dunklen Kreis, der mit jeder Sekunde größer wird. Neugierig sieht sie zum Himmel und erkennt einen seltsamen Vogel, der hoch in der Luft seine Kreise zieht und dabei langsam zu Boden sinkt. Schützend legt sie ihre Hände vor die Augen, da die Sonne sie stark blendet.

»Das ist das erste Mal, dass ich ein Lebewesen in diesem Garten sehe«, denkt sie versonnen und beobachtet fasziniert das Geschöpf, dessen Schatten sie mittlerweile umringt.

Eine leichte Gänsehaut überströmt sie, während ihre innere Stimme sagt, dass sie wegrennen soll. Doch dieser Anblick fesselt sie, obgleich dieser Vogel mit jedem Meter, den er hinabsinkt, unheimlicher wird. Langsam und lautlos schwebt er zu Boden. Nun wird J.J. mulmig zumute. Als sie dann auch noch das Gefühl hat, dass sich neben ihr etwas bewegt, springt sie hoch und sieht sich hektisch um.

Da brüllt eine hysterische Stimme los:

»Jezabel, wach sofort auf! Hörst du mich? Er darf dich nicht sehen!«

J.J. springt erschrocken hinter einen Busch und sieht zum Himmel. Als sie den Vogel sieht, erschaudert sie. Dieses gruselige Ding ist bereits so nah über ihr, dass sie die Umrisse klar und deutlich erkennen kann. Und was sie da sieht, gefällt ihr überhaupt nicht!

Die Kreatur hat einen gewaltigen, spinnenähnlichen Körper, an dem sechs lange, haarige Beine hängen, deren Abschluss messerscharfe Klauen bilden. Mächtige, fledermausartige Schwingen tragen dieses Geschöpf lautlos durch die Luft, was dieses Szenario noch unheimlicher wirken lässt. Noch während J.J. nach einem Ausgang sucht, stößt diese fliegende Riesenspinnenfledermaus einen markerschütternden Schrei aus und stürzt sich auf sie.

»Eine Spinne?«, flüstert sie entsetzt und versucht zu fliehen.

Vor Angst kann sie sich jedoch kaum bewegen, außerdem rast ihr Herz und ihre Hände zittern.

»So etwas Abscheuliches habe ich noch nie zuvor gesehen«, flüstert sie und schließt die Augen, in der Hoffnung, dass dieses Ding verschwindet.

Da hört sie erneut diesen grauenvollen Ruf, der ihr versichert, dass es keine Einbildung ist. Als sie die Augen öffnet, sieht sie mit Grauen, dass das Monster auf sie stürzt, wie ein Falke, der seine Beute geortet hat. Aber das ist nicht alles. Auf der Kreatur sitzt eine kleine Gestalt, die Zügel in der Hand hält und die fliegende Spinne scheinbar steuert.

»Was ist das nur?«, flüstert sie ängstlich, bevor sie sich endlich aus ihrer Starre löst und aus dem Garten rennt. Ihre innere Stimme gibt ihr eindringlich zu verstehen, dass dieses Ding sie auf gar keinen Fall finden darf! Also läuft J.J. so schnell sie kann, bis sie vor einem gruseligen Wald steht, um den sie normalerweise einen großen Bogen machen würde. Und auch jetzt beschließt sie, nicht hineinzurennen, sondern Schutz unter einer großen Baumwurzel zu suchen. Vor Anstrengung keuchend, sieht sie sich um.

»Wo bin ich? Hier kommt mir nichts bekannt vor«, denkt sie verstört.

»Träume ich noch oder ist das real?«, keucht sie weiter, als sie plötzlich jemand von hinten an den Schultern packt.

»Jezabel, wach sofort auf! Jetzt!«, ertönt eine grelle Stimme, als sie mit voller Wucht nach vorn geworfen wird. Vor Schreck schreit sie laut auf und versucht sich irgendwo festzukrallen, was ihr nicht gelingt. Sie überschlägt sich schreiend, bis sie hart auf ebenen Boden fällt und liegen bleibt. Schützend hält sie die Hände über den Kopf, während sie Angst hat, dass ihr Atem versagt.

Da wird es plötzlich sehr hell und sie hört hektische Schrittlaute.

»J.J., oh Gott! Alles in Ordnung mit dir? Sieh mich an«, spricht eine panische Stimme, die ihr durchaus vertraut ist. Als sie sicher ist, dass es sich wirklich um Zoé handelt, holt sie tief Luft und dreht sich langsam um. Vorsichtig öffnet sie die Augen. Erleichtert stellt sie fest, dass sie wieder in ihrem Zimmer ist, in dem kein Monster auf sie lauert.

Zoé kniet neben ihr und sieht sie besorgt an.

»Also, du hast mich vielleicht erschreckt! Ich dachte, ein Flugzeug ist in unser Zimmer gestürzt, so laut hat es geknallt. Komm, wir sollten nachsehen, ob du dich verletzt hast«, sagt sie aufgeregt und hilft J.J. auf. Die stöhnt und hält sich den Kopf, der nach dem Aufprall höllisch weh tut.

»Ich hatte wohl einen schlechten Traum und bin aus dem Bett gefallen. Ich denke, mir geht es gut. Nur mein Kopf brummt ein bisschen.«

J.J. setzt sich aufs Bett und begutachtet ihren Körper. Dieser Traum war realistischer als all die anderen, also sieht sie nach, ob sie sich bei dem Sturz verletzt hat. Aber sie findet weder blaue Flecken, noch andere Blessuren. Zoé setzt sich dazu und nimmt ihre Hand.

»J.J., das ist alles mehr als gespenstisch. Du hast im Traum geschrien wie am Spieß und es war nicht das erste Mal, dass du das getan hast. Dann die unheimlichen Dinge, die dir ständig passieren. Du bist völlig fertig und ich weiß wirklich nicht mehr, wie ich dir helfen kann. Was belastet dich nur so sehr?«

J.J. zuckt betroffen mit den Schultern.

»Wenn ich das nur wüsste, Zoé. Es ist, als ob irgendetwas nach mir ruft. Etwas sehr, sehr Dunkles. Das Seltsame ist jedoch, dass es mir überhaupt keine Angst macht. Aber da ist immer noch jemand. Dessen Stimme ist mir vertraut, obwohl ich nicht weiß, zu wem sie gehört, oder wovor sie mich warnen will. Ich habe schon voll die Paranoia. Bin ich vielleicht besessen oder so was? Morgen gehe ich zur Schulschwester. Die hat bestimmt einen Rat.«

Zoé nimmt ihre Freundin in den Arm und legt ihren Kopf auf deren Schulter.

»Ich mache mir große Sorgen um dich, liebe J.J. Was hältst du davon, wenn ich heute Nacht bei dir schlafe? Dann hast du bestimmt keine Albträume! Ich lege mich vorne hin, so kannst du wenigstens nicht mehr herausfallen!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, stupst sie J.J. nach hinten und knipst die Nachttischlampe aus. Die liegt mit dem Gesicht zur Wand und lächelt heimlich über ihre Freundin. Die Gedanken an diesen merkwürdigen Traum beschäftigen sie allerdings so sehr, dass sie den kurzen Rest der Nacht wach bleibt.

Am nächsten Morgen nimmt sie eine eiskalte Dusche und packt ihre Schulsachen zusammen. Heute hat sie Kunstunterricht, ihr Lieblingsfach. Sie schnappt ihre Kunstmappe und rennt hinter Zoé her, die unten im Flur bereits ungeduldig auf sie wartet.

»Komm schon, J.J. Ich will noch frühstücken! Du weißt doch, dass ich ohne meine Cornflakes unausstehlich bin!«

J.J. rennt zur großen Eingangstür und hält sie lächelnd auf. Sie macht einen Knicks und verbeugt sich tief. Zoé geht mit wedelnden, rosa Rastazöpfen an ihr vorbei und lacht. Bevor sie sich guter Dinge auf den Weg zum Schulgebäude machen, nimmt J.J. noch einen tiefen Zug der frischen Morgenluft. Den schrecklichen Traum versucht sie zu vergessen.

Unterwegs sammeln sie William und Felder ein und gehen mit ihnen in den Speisesaal. J.J. geht zögerlich hinter ihren Freunden her und sieht sich nervös um. Der Leuchter wurde repariert und glänzt wieder stolz von der Decke. Trotzdem hat sie Angst, dass ihr wieder irgendetwas Blödes passiert, und sucht vorsichtshalber Britany Hoilding, damit sie ihr gleich aus dem Weg gehen kann. Der Speisesaal ist randvoll mit Schülern, von denen jedoch keiner wirklich Notiz von ihr nimmt. Erleichtert geht sie zur Essensausgabe und sucht Pippa, die gerade mit einer riesigen Schüssel Cornflakes aus der Küche kommt. Das Hausmädchen reißt die Augen freudig auf, als sie J.J. sieht und stellt die Schüssel vor Zoé ab.

»Hier, meine Lieben. Ganz frisch und knackig! Und J.J., wie geht es dir heute Morgen? Das war ja ganz schön spektakulär gestern! Es wurde Zeit, das jemand dieser Britany mal die Meinung sagt! Es geht mir schon lange gegen den Strich, wie die sich hier aufführt. Heute Morgen hat mich die Direktorin übrigens gleich gefragt, was los gewesen sei. Ich habe ihr gesagt, dass Britany unverschämt geworden und dir dabei dein Tablett aus der Hand gefallen ist. Die Halterung von der Lampe war durchgerostet und ist dummer Weise gerissen. Das war also wieder so ein unschöner Zufall, dass sie gerade bei eurem Streit heruntergefallen ist. Na ja, eigentlich hast du Britany ja das Leben gerettet. Wäre sie nämlich sitzen geblieben, wäre der Leuchter genau auf sie gefallen! Nur dass du weißt, was ich erzählt habe!«

Jetzt tritt Pippa ganz nah an J.J. heran.

»Ich weiß nicht, wie du das mit dem Tablett angestellt hast. Aber wenn du es herausfinden solltest, musst du mir diesen Trick unbedingt beibringen!«

Pippa wirft ihren Kopf in den Nacken und lacht schadenfroh los.

»So wie Pippa das sagt, hört sich das gar nicht mehr so schrecklich an«, denkt sie kichernd.

»Danke, Pippa! Ich werde dir berichten, sobald ich etwas herausgefunden habe. Entschuldige bitte das Chaos von gestern!«

Pippa streicht ihr über die Schultern und geht, immer noch schallend lachend, zurück in die Küche. J.J. setzt sich zu ihren Freunden an ihren Stammtisch in der Ecke und isst wie immer Cornflakes mit Orangensaft. Britany kann sie heute Morgen nicht entdecken.

»Wahrscheinlich hat sie noch genug von gestern.«

Die vier Freunde unterhalten sich entspannt über ihre Tagespläne, bevor J.J. und William in den Kunstunterricht gehen. Die Zeit vergeht heute wie im Flug und es passieren Gott sei Dank auch keine außergewöhnlichen Dinge. Nach der letzten Stunde trifft sich J.J. mit Zoé auf dem Schulhof.

»Wie wäre es mit einem kleinen Spaziergang zwecks Frustläuterung? Danach fangen wir mit deinem Referat an!«, flötet das quirlige Mädchen.

J.J. verdreht die Augen und seufzt genervt.

»Ah ja, richtig. Das Referat für Mr. Muller. Wir sollten in die Bibliothek gehen, und wenn wir dort nicht genug Informationen finden, einen Internethilferuf starten!«

Zoé zieht die Augenbrauen streng zusammen und schüttelt energisch den Kopf.

»Du weißt, dass Muller das nicht mag. Er steht auf handgemachte Referate und nicht auf Kopien. Er will deine Meinung hören! Du weißt, dass er das immer als sehr inspirierend empfindet, also enttäusch ihn lieber nicht!«

J.J. zieht ihre Lieblingsschnute und seufzt.

»Okay, dann eben nur die Bibliothek.«

Die Mädchen wollen gerade losgehen, als sie von Felder zurückgerufen werden.

»Hey J.J.! Du sollst bitte zu Mrs. Rogan ins Büro kommen. Sofort!«

J.J. dreht sich genervt um und schnaubt. Resignierend geht sie in die Knie.

»Warum denn jetzt schon wieder?«, fragt sie verzweifelt.

Felder kneift bekümmert die Lippen zusammen.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht wegen der Aktion gestern im Speisesaal? Geh lieber gleich zu ihr. Sonst gibt es nur noch mehr Ärger!«

J.J. drückt Zoé wütend ihre Tasche in die Hände.

»Ich hasse Britany Hoilding! Schreib das in deine Abschlussrede für die Sommerferien: J.J. Smith hasst Britany Hoilding! Nimm bitte meine Tasche mit aufs Zimmer. Ich komme nach, wenn Mrs. Rogan mit mir fertig ist.«

Sie dreht sich kopfschüttelnd um und schlendert gereizt zum Schulgebäude. Zoé sieht ihr traurig nach und seufzt.

»Ich hoffe, dass der Ärger nach den Sommerferien nachlässt. Das kann man sich ja gar nicht mehr mit ansehen.«

Felder nickt zustimmend und nimmt sie fest in den Arm. Als ihre Freundin außer Sicht ist, gehen die beiden langsam zum Wohngebäude.

J.J. steht im Schulgebäude und sieht sich verunsichert um.

»Eigentlich habe ich keine Lust, schon wieder in das Direktorat zu gehen. Ich weiß selbst nicht, was mit mir passiert, also was soll ich Mrs. Rogan erklären?«

Sie vergräbt die Hände tief in ihre Jackentaschen und läuft mit gesenktem Kopf weiter, während sie nach einer plausiblen Erklärung sucht. Außer der Version von Pippa fällt ihr jedoch nichts Passendes ein. Vor dem Büro der Direktorin atmet sie tief durch und klopft leise an.

»Ja, bitte. Es ist offen«, erklingt prompt eine freundliche Stimme.

J.J. drückt vorsichtig die Türklinke herunter und schleicht in das Büro. Mrs. Rogan steht am Kopierer und dreht sich kurz zu ihr.

»Ah, J.J.! Komm doch bitte mit in mein Büro.«

Sie geht durch den Vorraum und betritt seufzend das Büro der Direktorin. Vor dem Schreibtisch bleibt sie stehen und wartet. Mrs. Rogan kommt in das Zimmer getänzelt und zeigt auf den Besucherstuhl.

»Bitte, nimm doch Platz!«

J.J. setzt sich, wie schon so oft in letzter Zeit, auf den unbequemen Stuhl und wartet auf ihre Ermahnung. Mrs. Rogan lehnt sich an den Schreibtisch und starrt J.J. einen Augenblick an. So als ob sie sich noch die richtigen Worte überlegen müsse. Dann beginnt sie leise zu sprechen.

»J.J. ich weiß, wir hatten in den letzten Monaten einige Probleme. Aber ich will dir sagen, dass ich durchaus imstande bin, zu erkennen, wenn jemand in Schwierigkeiten steckt. Britanys Eltern haben mich heute Morgen erneut angerufen. Es ging natürlich um den Vorfall im Speisesaal. Ich habe ihnen die Version von Pippa erzählt und sie darauf hingewiesen, dass ich das Verhalten von Britany, gerade was dich betrifft, moralisch mehr als bedenklich finde. Das ist natürlich keine Entschuldigung dafür, dass du die halbe Schule aus dem Speisesaal verjagt hast! Darüber wollte ich allerdings nicht mit dir reden. Vorhin habe ich zufällig ein Gespräch deiner Freunde mitbekommen. Zoé scheint sich ernsthafte Sorgen um dich zu machen. Die Rede war von schlimmen Albträumen und unerklärlichen Dingen. Willst du mir etwas darüber sagen?«

J.J. rutscht nervös auf dem Stuhl hin und her, da sie damit überhaupt nicht gerechnet hat. Aber sie ist froh, dass sich dieses Gespräch so gestaltet, und nimmt ihren ganzen Mut zusammen.

»Irgendwie ist das alles suspekt. Ich weiß nicht, was da mit mir passiert. Ich habe das Gefühl, dass sich meine Gedanken materialisieren, sobald ich mich aufrege. Bitte nichts Falsches denken! Ich versuche es nur bildlich zu erklären. Ich bin doch überhaupt nicht imstande, einen Menschen durch die Gegend zu werfen oder aus zwei Metern Entfernung Wasserhähne abzureißen. Aber irgendwie passieren mir solche Dinge immer häufiger. Und dann diese Albträume. Die sind echt schlimm! Sie sind so lebendig, dass sie mich den ganzen Tag beschäftigen. Ich habe Angst, Mrs. Rogan, weil ich das nicht kontrollieren kann. Bitte werfen Sie mich nicht von der Schule! Ich werde in den Ferien einen Arzt aufsuchen und mich gut erholen, damit das im nächsten Schuljahr nicht mehr vorkommt.«

Mrs. Rogan setzt sich und lächelt.

»Wo denkst du hin? Ich werfe doch niemanden von der Schule, der über solche kreativen Möglichkeiten der nonverbalen Problemlösung verfügt. Ich wollte dir nur raten, Situationen, die dich emotional so herausfordern, in nächster Zeit aus dem Weg zu gehen. Wenn es dir überhaupt nicht gut geht, kannst du jederzeit nach Dr. Sheldon rufen lassen. Es sind noch drei Tage bis zu den Sommerferien. Ich möchte, dass du mir versprichst, dass du meine Schule bis dahin nicht in die Luft sprengst!«

Mrs. Rogan muss über diesen Satz selbst lachen und reißt J.J. mit.

Sie schüttelt energisch den Kopf. Vor Erleichterung schießen ihr Tränen in die Augen, die sie verlegen wegwischt. Die Direktorin sieht sie verständnisvoll an.

»Na gut. Das war es für heute. Ich hoffe, wir sehen uns erst bei der Abschlussfeier wieder!«

Sie steht auf und streicht ihr sanft über den Kopf. Im selben Moment zuckt ein Blitz durch J.J.s Körper. Ein gewaltiger Stromschlag, der eine schmerzhafte Erinnerung zurückholt, die sie nicht einfangen kann. Mrs. Rogan zieht ihre Hand erschrocken zurück und sieht J.J. verwirrt an. Diese fährt abrupt hoch und verlässt ohne einen weiteren Kommentar das Büro. Dann rennt sie zum Ausgang und versucht dieses Erlebnis zu verdrängen. Seltsamerweise ist sie nun vollkommen entspannt. Sie ist froh, dass sie der Direktorin die Wahrheit sagen konnte, und flitzt ausgelassen in ihr Zimmer. Dort haben sich schon Zoé und die beiden Jungs versammelt, die sie nun erwartungsvoll anstarren.

»Hallo Leute! Bastelt ihr an einer Abschiedsrede für mich oder warum seht ihr so betroffen aus?«

William ist der Erste, der sich fängt.

»Ach Quatsch! Klar hatten wir Angst, dass Britany wieder dafür gesorgt hat, dass du Ärger bekommst. Aber wie ich sehe, geht es dir ganz gut!«

J.J. setzt sich und erzählt ihnen, was gerade im Büro der Direktorin passiert ist.

»Das ist ja abgefahren. Hätte mich auch schwer enttäuscht, wenn sie dich von der Schule geworfen hätte. Wir wollen jetzt alle zur Bibliothek gehen. Vier Köpfe können besser denken als zwei! Also schnapp dir eine Limonade und los geht’s!«

J.J. verdreht die Augen und nimmt widerwillig ihre Unterlagen. Den weiteren Nachmittag verbringen die vier Freunde inmitten unzähliger Bücher. Erst spät am Abend setzt sich J.J. an ihren Computer und beginnt mit ihrem Referat, während sich Zoé erschöpft ins Bett legt.

»Gute Nacht! Wenn irgendetwas ist, weck mich bitte!«

J.J. haucht ihrer Freundin ein Küsschen zu und beginnt zu schreiben. Das fällt ihr leicht, da sie sehr geschickt im Formulieren ist. Gegen ein Uhr nachts tippt sie endlich die letzten Worte. Mitsamt ihrer Kleidung schmeißt sie sich aufs Bett und schläft sofort ein.

Am nächsten Morgen wacht sie ungewöhnlich erfrischt auf. Sie hatte keinen dieser Albträume und deutet dies als Omen für einen sehr guten Tag.

Heute ist Mittwoch, was bedeutet, dass sie nur vier Unterrichtsstunden hat, aber auch, dass es nur noch zwei Tage bis zu den Sommerferien sind. J.J. freut sich also auf einen letzten, gemütlichen Nachmittag mit all ihren Freunden. Die Zeit vergeht dabei heute ungewöhnlich schnell. Nach dem Unterricht rennt sie aufgeregt in das Wohngebäude und zieht sich eilig um. Dann schnappt sie ihre Inlineskates und rennt wie der Teufel die Treppen hinab. Sie will, so schnell es geht, hinaus in die Freiheit. Irgendwie fühlt sie sich heute »besonders«. Anders als in den letzten Tagen und das versetzt sie in ausgelassene Euphorie.

Ihre Freunde warten schon im angrenzenden Park. Als J.J. endlich zu ihnen stößt, tun sie das, was ihnen am meisten Spaß macht. Sie fahren Inlineskates, spielen Basketball oder liegen einfach nur faul in der Sonne. Am Abend bringt Pippa noch ein üppiges Picknick vorbei, bei dem die ganze Schule den gemeinsamen letzten Mittwoch vor den langen Ferien genießt.

»Ach, macht euch doch nicht immer solche Sorgen um J.J.! Ihr wird es wie immer hervorragend gehen! Wir werden viel unternehmen und die Schule putzen. Sie hat gar keine Zeit, euch zu vermissen.«

J.J. verdreht die Augen, als sie das mit dem Schule putzen erwähnt und zieht einen Schmollmund, während sich die anderen über Pippas lockere Art amüsieren.

Seit ungefähr acht Jahren ist sie als Hausdame an dieser Schule angestellt. Aber so sieht sie niemand. Pippa ist die gute Seele der Schule. Sie hat eine sehr mütterliche Ausstrahlung, weshalb sie von den Meisten nur »Mama Pippa« genannt wird. Sie ist vierzig Jahre alt, mittelgroß und hat eine Statur, die Rubens hochgelobt hätte. Sie sagt, dass dies von Gott so gewollt sei, damit die Probleme aller Schüler auf ihren breiten Schultern Platz fänden. Ihr dunkler, kakaofarbener Teint und ihre schulterlangen, schwarzen Haare glänzen immer wie teure Seide. J.J. näht ihr oft wunderschöne, bunte Tücher, die ihr dichtes Haar zusammenhalten. Sie findet, dass Pippa damit wie eine wunderschöne Frau aus dem Alten Orient aussieht. Die Hausdame kümmert sich um die Mahlzeiten und hält die Schule in Ordnung. Außerdem ist sie als Ansprechpartnerin für die unlösbaren Probleme der Kinder nicht mehr wegzudenken.

Für J.J. ist sie so etwas wie eine Mutter. Also, sie sagt immer, wenn sie sich eine Mutter aussuchen könnte, müsste sie wie Pippa sein. Alle Ferien verbringt J.J. mit der Familie der Hausdame und hatte noch nie das Gefühl, eine Fremde zu sein. Auch diese Ferien soll sich daran nichts ändern.

Als der Abend sich langsam sein Revier erkämpft, packen sie alles zusammen und gehen gemeinsam zurück zum Campus. Es war ein sehr schöner Tag für J.J., da es heute keine Zwischenfälle gab und sie hofft, dass dieses Pech sie endlich verlassen hat. Als sie ihr Zimmer betritt, klingelt das Telefon im Flur. Zoé rennt sofort zum Apparat und kommt nach wenigen Sekunden zurück. Betroffen sieht sie J.J. an.

»Ist für dich. Mrs. Rogan«, sagt sie knapp und seufzt, da sie Angst hat, dass J.J. nach diesem schönen Tag nun doch noch irgendwelchen Ärger bekommt. Diese lässt den Kopf hängen und schlurft zum Telefon. Als sie den Hörer in die Hand nimmt, verdreht sie genervt die Augen.

»Ja, Hallo. J.J. Smith am Apparat. Mal wieder!«

Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel

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