Читать книгу Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel - M.E. Lee Jonas - Страница 9

Kapitel 5 Havelock. Zurück nach Hause

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Ohrenbetäubendes Gejohle, gellende Pfiffe, zuckende, helle Blitze und ein Meer von rasselnden Luftschlangen, Glitzerkonfetti und bunten Rauchwölkchen lassen J.J. den Atem stocken. Ihr Puls rast und ihr Herzschlag setzt fast aus. Die Luft ist schwer und riecht nach frischgebackenen Pfannkuchen mit Karamellsoße. Ihre Augen versuchen einen Punkt zu finden, den sie fixieren können, aber die Fülle dieser Eindrücke lässt sie unaufhörlich durch den riesigen Esssalon wandern.

»Willkommen zu Hause, liebe Jezabel! Willkommen zurück! Wir vermissten dich ohne Pause, denn du bist unser Glück«, singt ein gut gelaunter Chor von Wesen und Geschöpfen, die Jezabel unbemerkt die letzten Jahre so schmerzlich vermisst hat.

Dirigiert wird das Spektakel von Henry McMuffel, einem Geisterfrosch, der nach jedem dritten Ton missbilligend den Kopf schüttelt und dabei seine Backen aufbläht, dass man Angst hat, sie würden jeden Moment platzen. Je nach Laune ist er mehr oder weniger durchsichtig. Heute ist er sehr aufgeregt und deshalb muss man in dem ganzen Gewusel auch genau hinsehen, um seine Umrisse erkennen zu können. Lediglich sein überdimensionaler Taktstock, der mit seinen vierzig Zentimetern doppelt so lang, wie der Frosch selbst ist, lässt J.J. erahnen, wo er sich gerade aufhält.

Die Bewohner und Gäste haben sich im Raum verteilt und schauen sie mit großen Augen an. Der Erste, der auf J.J. zugerannt kommt, ist Lincoln der Halbtagshund. Er flitzt so schnell ihn seine Pfoten tragen und springt kräftig nach oben, als er sie endlich erreicht. Leider landet er nur platt auf ihrem Oberschenkel, wo er sich nun hilflos an ihrer Jeans festkrallt. Verlegen starrt er zu ihr hinauf, während er unbeholfen runterrutscht. J.J. kniet sich zu ihm und hilft ihm hoch.

»Ich bin größer geworden, mein Lieber! Da musst du wohl erst noch etwas üben«, sagt sie amüsiert und lächelt den halben Mops an, während sie das Phänomen bewundert, das sie schon als Kind so fasziniert hat.

Lincoln ist ein hellgrauer Mops mit weichen, dunkelgrauen Falten und sehr großen, blauen Augen. So weit ist alles normal. Aber Lincoln ist ein Halfie, also ein Geschöpf, das Opfer eines misslungenen Zauberspruches geworden ist. Bei ihm hatte dieser Unfall leider eine sehr ausdrucksstarke Wirkung, weshalb man ihn auch Halbtagshund nennt. In den ersten zwölf Stunden des Tages sieht man nur seine vordere Hälfte. Also von der Stirn bis etwa zehn Zentimeter hinter den Vorderläufen. In der zweiten Tageshälfte sind dagegen nur seine Hinterläufe, sein Po und sein Stummelschwanz sichtbar. Das ist ihm immer furchtbar peinlich, hat jedoch keinerlei Auswirkung auf seine Fähigkeiten. Es ist ein rein visuelles Phänomen.

J.J. hält den stattlichen Mops auf ihrem linken Arm und streichelt mit ihrer rechten Hand, schöne, zarte Bögen in der Luft. Eigentlich streichelt sie ihm den Rücken, aber da er ab der Körpermitte unsichtbar ist, wirkt es, als würde J.J. die Luft streicheln. Lincoln liegt überglücklich in ihrem Arm und hechelt vor Aufregung, während er sich unaufhörlich über seine platte Nase schleckt.

»Jezabel! Ich kann es gar nicht glauben! Entschuldige bitte den Patscher, aber ich bin mittlerweile nicht mehr der Jüngste. Früher konnte ich aus dem Stand in deine Arme springen! Du bist wirklich groß geworden und noch genau so eine Augenweide wie als Kind. Aber wir wussten ja so ungefähr, wie du aussiehst. Oma Vettel hat uns nämlich jeden Monat ein Foto von dir gezeigt, weil wir dich alle so schrecklich vermisst haben, nachdem du ... Nachdem du an deinem sechsten Geburtstag so plötzlich wegmusstest.«

Der kleine Mops wimmert und kuschelt seinen Kopf an J.J.s Schultern. Sie drückt ihn herzlich an sich und setzt ihn dann sanft zu Boden, da sie die anderen Bewohner ebenfalls begrüßen möchte.

Oma Vettel kommt mit einer großen Ladung Pfannkuchen in den Esssalon getanzt und stellt die Leckereien auf die zwölf Meter lange Tafel.

»Leute. Immer mit der Ruhe! Jezabel hatte einen sehr anstrengenden Tag. Gebt ihr eine Chance, wenigstens ein Mal Luft zu holen! Wir haben ganze vier Wochen Zeit, um uns alles zu erzählen.«

Als sie das mit den vier Wochen sagt, sieht sie verunsichert zu ihrer Enkelin. J.J. nickt und widmet sich dem nächsten, aufgeregten Bewohner. Nachdem sie jeden mindestens ein Mal umarmt hat, steht sie auf und pfeift kurz in die Runde. Sie schaut sich suchend um und wartet. Da erhebt sich der bunt gestreifte Flickenteppich vor ihren Füßen und hüpft unsicher ein Stück zurück.

J.J. klatscht zufrieden in die Hände.

»Hallo Flick! Schön dich wiederzusehen! Darf ich mich auf dich setzen oder bin ich jetzt etwa zu schwer?«

Der Teppich krümmt sich vor Aufregung und lässt dabei aus Versehen ein kleines Staubwölkchen los. Die Bewohner fangen an zu prusten und zu husten und halten sich theatralisch ihre Nasen zu. Sofern sie das Glück haben, eine zu besitzen! Aus Scham rollt sich Flick zusammen. Eigentlich ist er ein fröhlicher Zeitgenosse, aber wenn er aufgeregt ist, bekommt er immer sogenannte Angstblähungen.

»Oh Flick, bitte! Kannst du dich nicht wenigstens vor Jezabel zusammenreißen?«, fragt Diggler, das Werschwein, während er verzweifelt versucht, sich mit seinen Vorderpfoten die Nase zuzuhalten.

Der hüpfende Teppich senkt beschämt den Blick.

»Tut mir leid, Jezabel! Das passiert mir leider immer noch«, antwortet er geniert und lässt sich durchhängen.

J.J. zuckt amüsiert mit den Schultern und geht lachend auf ihn zu. Flick senkt sich herab und breitet sich glatt aus, sodass J.J. auf seinen Rücken steigen und sich im Schneidersitz auf die weiche Oberfläche setzen kann.

»Ich habe Hunger, meine Lieben. Lasst uns jetzt Kuchen essen und danach erzählt ihr mir alles, was in den letzten Jahren so passiert ist. Flick, ich bin bereit, wenn du bereit bist!«

Der hüpfende Teppich erhebt sich sanft und lässt sich wieder nach unten fallen. Flick ist ja kein fliegender, sondern ein hüpfender Teppich. Wer auf ihm reiten will, muss schon eine sehr lange Zeit üben. Aber wenn man den Dreh erst einmal heraushat, verlernt man es genauso wenig wie das Fahrradfahren. J.J. ist als kleines Mädchen sehr oft auf Flick gehüpft, deshalb hat sie nun auch keine Schwierigkeiten, die Balance zu halten und reitet sicher auf seinem weichen Rücken zum Tisch. Dort senkt er sich genau so tief, dass sie bequem sitzen und essen kann.

»Die Tafel ist heute mindestens doppelt so lang wie in meiner Erinnerung.«

Oma Vettel nimmt eine Kuchengabel und schlägt sie leicht an ihr Glas.

»Darf ich einen Moment um Ruhe bitten«, ruft sie laut, damit es auch die weitentfernten Gäste verstehen können.

Die alte Dame steht auf und erhebt feierlich ihr Glas.

»Ich danke euch, meine Lieben. Ich denke, Broaf hat nichts dagegen, wenn wir schon ohne ihn anfangen. Er ist leider noch nicht von der Nordinsel zurück. Ich möchte mich erst einmal bei euch dafür bedanken, dass ihr heute alle gekommen seid und euch solche Mühe mit der Willkommensparty für meine Jezabel gegeben habt. Henry, dein Lied ist wie immer wunderbar gelungen!«

Tosender Applaus unterbricht kurz die Rede von Oma Vettel. Der Geisterfrosch, der eben noch gut sichtbar rechts neben ihr auf einem hohen Hocker thronte, wird deshalb für einen kurzen Moment fast unsichtbar.

»Lange Zeit habe ich nicht zu hoffen gewagt, dass wir uns zu diesem Anlass wieder hier versammeln dürfen. Es ist jetzt acht Jahre her, dass wir uns in fast gleicher Runde hier vereint sahen. Damals wusste auch ich noch nicht, dass es für so lange Zeit das letzte Mal sein würde. Aber das Schicksal geht seine eigenen Wege und wir müssen uns dem fügen. Auch wenn es uns manchmal das Herz bricht. Aber dann gibt es auch solche Tage voller Wunder und Freude! Ich bin überglücklich, dass ich, wenn auch nur für ein paar Wochen, meine kleine Jezabel wieder bei mir haben darf. Wir haben uns noch nicht richtig aussprechen können, deshalb möchte ich euch bitten, während der Kuchenschlacht Jezabel noch nicht all zu sehr mit euren Fragen zu löchern! Sie hat ihren Gedankenstein erst vor zwei Tagen wiederbekommen und wir wissen alle, dass es noch eine Weile dauern wird, bis sie sich vollständig erholt hat. Es ist erstaunlich genug, was sie in der kurzen Zeit alles herausgefunden und angenommen hat.

Jezabel, herzlich willkommen zu Hause! Wir sind überglücklich, dich nach den langen Jahren wieder bei uns zu haben. Ich hoffe, du erholst dich schnell und fühlst dich hier bald wieder so wohl wie früher. So, jetzt habe ich aber lang genug geredet. Lasst es euch schmecken!«

Oma Vettel hebt ihr Glas Milch in die Höhe, was die anderen Gäste am Tisch spontan nachmachen. Dann stürzen sich alle auf die Pfannkuchen mit Karamellsoße, Sahne und Vanilleeis. Jezabel ist zwar noch satt von dem üppigen Picknick, aber die Kuchen zerschmelzen förmlich auf ihrer Zunge, sodass sie nicht aufhören kann zuzugreifen. Zwischendurch schielt sie immer wieder an der Tafel entlang. Links neben ihr sitzt Lincoln, der Halbtagshund, und auf ihrer rechten Seite stopft sich das Werschwein Diggler geraden den fünften Pfannkuchen in seinen Mund, während er wie immer einen Klecks Sahne auf der Nasenspitze hat. Als er bemerkt, dass sie ihn ansieht, hält er verlegen inne und putzt sich mit einer Serviette ordentlich die Nase sauber.

»Ich wollte dir noch etwas sagen, Jezabel. Es lag mir die ganzen Jahre schwer auf dem Herzen! Ich habe damals wirklich nicht in deine Geburtstagstorte gebissen! Ich habe doch dieses Problem. Ich verwandle mich manche Nacht in eine schreckliche Kreatur, die sich durch die Speisekammer frisst und alle Vorräte plündert. Am nächsten Morgen erwache ich meist im Garten und kann mich an gar nichts mehr erinnern! Lincoln und die anderen Bewohner glauben mir nicht und behaupten sogar, ich wäre ein Hypochonder! Aber das stimmt nicht! Ich war sehr traurig darüber, dass ich mich gerade in der Nacht vor deinem sechsten Geburtstag wieder in dieses Monster verwandelte, das etwas von der Torte stibitzte. Es ist mir eine Herzensangelegenheit, dass du das weißt!«

Die Augen des Werschweins ziehen sich zusammen und wirken in Kombination mit seinem Schmollmund, sehr mitleidserregend, sodass J.J. ungewollt loslachen muss. Sie krault ihm die Ohren und versetzt seiner Nase einen leichten Stups.

»Ich denke, ich kann dir verzeihen. Oh, und wenn die anderen dich ärgern, sag mir Bescheid!«

Diggler gibt einen glucksenden Laut von sich und grinst so breit, dass sie seine Zähne zählen kann. Lincoln, der alles mit anhörte, verdreht genervt die Augen und streckt seinem Freund die Zunge raus. J.J. sieht derweil gedankenversunken durch den Raum.

»Merkwürdig. Vor ein paar Tagen habe ich mich noch über ein fliegendes Tablett aufgeregt und jetzt bin ich auf einem Besen zu diesem wundersamen Haus geflogen, wo ich mit einem halben Hund, einem Werschwein, einem Geisterfrosch, sprechenden Blumen und einer Schneefrau an einer prächtig geschmückten Tafel sitze und Kuchen esse. Ich kann mit diesen seltsamen Wesen sprechen und habe einem Schwein mit einem Klecks Sahne auf der Nase die Beichte abgenommen! Nicht zu vergessen: Meine Großmutter ist eine böse, dunkle Hexe! Dennoch fühle ich mich wohl und kann mich nach und nach an alles erinnern. Aber irgendwie ist das alles nicht wirklich real. Eher wie ein Tagtraum. Vielleicht habe ich hohes Fieber und liege in Marton im Bett und halluziniere? Ich habe schon Angst davor, dass ich morgen früh aufwache und wieder im Internat bin.«

Ein Luftballon zerplatzt direkt über ihrem Kopf und reißt J.J. damit grob aus ihren Gedanken. Sie schüttelt sich kurz und sieht zu ihrer Großmutter, die sie unsicher anlächelt.

»Alles in Ordnung, Liebes? Möchtest du noch einen Pfannkuchen oder Orangenlimonade?«

J.J. schüttelt den Kopf und bittet Flick, sie hinüberzubringen.

»Großmutter, ich bin doch ganz schön fertig. Würdest du mich zu meinem Zimmer bringen? Ich würde mich nämlich gern etwas frisch machen«, flüstert sie Oma Vettel ins Ohr, die daraufhin sofort hochschnellt.

Als die anderen Gäste spontan das Gleiche tun, macht J.J. eine besänftigende Handbewegung, das sie sich wieder hinsetzen sollen. Dieser Trubel um ihre Person ist neu für sie und macht sie ganz verlegen.

»Danke für die tolle Begrüßung! Ich möchte mich jetzt ein bisschen ausruhen. Wir sehen uns morgen früh und dann erzählen wir uns alles«, ruft J.J. und winkt noch einmal fröhlich in die Runde, bevor sie vorsichtig von Flick herabsteigt.

»Danke, Flick. Ich bin heute genug geflogen und gehüpft. Ich werde den Rest laufen.«

Der Teppich zieht sich zurück und legt sich am Ende des Esssalons nieder. J.J. hakt ihre Großmutter unter und geht mit ihr in die Diele.

»Ich werde dich morgen früh durch das Haus führen. Ich muss mich auch erst einmal umsehen. Es scheint, als ob es sich vor lauter Aufregung gänzlich umgestaltet hätte. Die Tür dahinten war heute Morgen noch nicht da und der Flur war bis zu meiner Abreise königsblau tapeziert. Ich hoffe nur, dass wenigstens unsere Schlafzimmer noch in der zweiten Etage sind und nicht wieder ganz oben. Das hatten wir erst vor zwei Jahren. Da war mein Schlafzimmer plötzlich in der neunten Etage! Aber es gab einen Lift, das war dann schon lustig.«

J.J. bewundert die Fotos und Porträts, die sich über dem Treppengeländer befinden. Oma Vettel bemerkt ihre Blicke und bleibt mitten auf der Treppe stehen.

»Das sind unsere Vorfahren. Ganz schön konservativ, nicht wahr! Aber sie gehören zu uns, und ohne sie wären wir nicht das, was wir sind. Das hier ist Sir Arthur William McBeefel, dein Ururururgroßvater oder war es Ururururururugroßvater?«

Die alte Dame beginnt, mit den Fingern zu zählen, und schüttelt hilflos den Kopf.

»Ach! Wer weiß das schon so genau? Ich müsste das noch einmal ganz in Ruhe nachzählen. Wichtig ist, dass mit ihm alles anfing! Er hat sich nämlich unsterblich in Yvi Jozlin Vultagi von Winterhardt verliebt und sich auf sie eingelassen. Als er erfuhr, dass sie eine Hexe ist, wollte er die Verbindung sofort lösen, aber da war es schon zu spät! Er musste sie heiraten und in dieser Ehe wurde diese junge Dame geboren. Eliza Gretchen Ufhalis von Winterhardt. Ein Teufelsweib, wie man sich erzählt. Sie hat den größten Teil der mächtigsten Zaubersprüche unserer Familie entdeckt und soll unerbittlich gewesen sein. Sie heiratete einen Mann vom dunklen Phad und sie bekamen einen Sohn Namens Viktor Redgref von Winterhardt. Das war die erste Periode, die unsere Familie ohne Zaubernachkommen ausharren musste. Also lag die ganze Hoffnung auf Viktor. Er heiratete eines Tages die wunderschöne Margret Elaine Shoraia. Meine Großmutter! Sie mussten lange warten, bis sie meine Mutter endlich in ihre Arme schließen konnten. Das ist diese Dame! Josie Elisabetha Darla von Winterhardt, meine Mutter und deine Urgroßmutter.«

J.J. wird bei den vielen ungewöhnlichen Namen schwindelig.

»Wieso hießen sie alle von Winterhardt?«, fragt sie verwundert.

»Oh, das ist einfach so gekommen. Wir sind eine Familie mit adligem Ursprung und der Name hat sich durch den Status immer wieder durchgesetzt. Bis zu deinem Vater.«

J.J. bemerkt, dass der Blick ihrer Großmutter auf einem kleinen Foto verharrt, dass sie wehmütig betrachtet, während sie sanft darüber streicht. J.J. geht hinüber und starrt auf das Bild, auf dem sie ihre Großmutter erkennt. Bildschön, aber noch sehr jung, steht sie stolz neben einem etwa fünfjährigen Jungen, der auf einer Schaukel sitzt und lacht.

»Die beiden wirken so glücklich.«

J.J. wird plötzlich sehr traurig. Sie kann diesen kleinen Jungen zwar nicht mit ihrem Leben in Verbindung bringen, aber sie weiß, dass es ihr Vater ist.

»Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie meine Eltern ausgesehen haben«, flüstert sie betroffen.

Oma Vettel löst sich aus ihrer Starre und seufzt.

»Wir haben viel Zeit, um das alles nachzuholen, mein Kind. Aber das schaffen wir nicht an einem einzigen Tag. Das übersteigt selbst meine Kräfte!«

J.J. fasst ihr leicht an die Schulter und zieht sie weiter. Währenddessen sieht sie das Treppenhaus hinauf und versucht die Anzahl der restlichen Stockwerke zu zählen. Doch das ist unmöglich.

In der zweiten Etage bleibt Oma Vettel stehen. Der Flur ist nicht ungewöhnlich groß, sondern teilt sich lediglich in eine Tür rechts, eine zur Linken und einer schmalen Tür geradeaus. Wenn man um das Geländer herumgeht, erreicht man schon die nächste Treppe, die weiter nach oben führt.

J.J. tritt in den Gang und schmunzelt. An der linken Tür befindet sich eine aufdringliche Leuchtreklame, die abwechselnd die Buchstaben »J E Z A B E L« aufblinken lässt.

»Allmächtiger! Da hol mich doch der schwarze Schatten«, entfährt es Oma Vettel bei dem Anblick. Feierlich stellt sie sich zu J.J. und nimmt sie in den Arm.

»So oft sich das Haus in den letzten Jahren auch veränderte, dein Zimmer ist immer an derselben Stelle geblieben. So als hätte es gewusst, dass du irgendwann wieder nach Hause kommst. Aber das mit der Leuchtreklame ist neu! Sehen wir lieber schnell nach, was es sich ausgedacht hat!«

Oma Vettel geht entschlossen auf die Zimmertür zu und öffnet sie, während J.J. noch tief Luft holt. Aber dann siegt die Neugier und sie springt eilig hinterher. Als sie ihr Zimmer betritt, verschlägt es ihr sprichwörtlich die Sprache. Sie steht in einem ausladenden Raum, der in ihrer Lieblingsfarbe Violett gestrichen ist. An der Wand steht ein riesiges Himmelbett, aus verschnörkeltem, weißem Holz, dass von langen Chiffonbahnen gesäumt wird. Am Kopfende türmen ein Dutzend herrlich weicher Kissen, die auf einer geblümten, sehr wertvoll aussehenden Satindecke ruhen. Es ist das einzige Möbelstück in diesem Zimmer, das wie eine Antiquität wirkt. Der Rest ist hochmodern ausgestattet. Vor dem Fenster steht ein großzügiger, geschwungener Schreibtisch mit einer Glasplatte als Schreibfläche, an dem sich ein vollständig eingerichteter Zeichentisch anschließt. J.J. kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie streicht sanft über die Oberfläche und probiert gleich alle Lichtschalter aus.

»Das ist ja der Hammer! Woher wusstet ihr das?«, fragt sie völlig perplex.

Oma Vettel setzt sich auf das Bett und seufzt.

»Das Haus macht, was es will. Ich denke, es hat dein Zimmer so eingerichtet, wie es sich für einen Teenager mit künstlerischer Begabung gehört. Na ja, wenigstens ist das Bett geblieben und die Truhe mit deinen lebendigen Puppen steht auch noch da. Ach, was soll´s? Man soll ja nicht in der Vergangenheit leben. Du bist jetzt ein Teenager und dieses Zimmer ist dafür mehr als geeignet. Kompliment an das Haus«, stottert die alte Dame wehmütig.

J.J. schleicht zur Tür, die sich neben ihrem Bett befindet, und öffnet sie wie ein Weihnachtsgeschenk. Sogleich kreischt sie wie ein Teenager, der seinen Lieblingspopstar treffen darf, während sie hüpft, lacht und vollkommen überdreht tanzt.

»Ich flippe so was von aus! Das ist der absolute Wahnsinn!«, jubelt sie weiter und sieht sich fassungslos in der traumhaften Wellnessoase um. Das Wort »Badezimmer« wäre hier nämlich schlichtweg untertrieben.

Es gibt ein doppeltes Waschbecken, eine abgetrennte Toilette, eine Natursteindusche, einen Whirlpool, eine Saunalandschaft im Tropendesign und eine Relaxecke im Karibikflair. Das Regal neben den Waschbecken ist dazu mit allem ausgestattet, was sich ein Mädchen ihres Alters wünschen kann.

»Wenn Zoé das sehen könnte! Die würde vor Freude ausrasten!«

Fröhlich tanzt sie durch das Badezimmer und jubelt bei jedem dritten Schritt laut los. Anschließend stürmt sie zurück in ihr Zimmer und sieht sich um.

»Ein paar Dinge erkenne ich wieder. Den Basketballkorb mit Flum, dem Ball, der selbstständig in den Korb springt. Die gelbe Truhe mit meinen lebendigen Puppen und die Spieluhr mit der wunderschönen Musik und der Ballerina, die sich nicht nur drehen, sondern richtige Tänze aufführen kann«, sinniert sie gerade, als sie eine weitere Tür entdeckt. Sie sieht fragend zu ihrer Großmutter, die unwissend mit den Schultern zuckt, und geht hinüber.

Es ist eine zweiflügelige Tür, wie man sie aus alten Filmen kennt. Groß, weiß und verschnörkelt. Vorsichtig drückt sie die schwere Messingklinke hinunter und geht hinein.

»Nein! Nein! Nein! Das gibt es nicht! Das halt ich nicht aus«, hört Oma Vettel J.J. haltlos rufen, bevor sie aus der Tür gestürmt kommt und ihr um den Hals fällt.

Von deren Übermut vollkommen überrascht, stolpert die alte Dame nach hinten, während sie große Mühe hat, sich aus dem euphorischen Würgegriff zu befreien.

»Danke! Das ist unbeschreiblich, Großmutter!«, jauchzt J.J.

Oma Vettel löst sich aus der Umarmung und quält sich japsend nach oben.

»Ich habe keine Ahnung, was das Haus angestellt hat, meine Liebe. Ich habe damit wirklich nichts zu tun! Was ist denn da hinter der Tür?«

J.J. nimmt ihre Großmutter an die Hand und zerrt sie aufgeregt hinter sich her. Nun steht diese ebenfalls geschockt in der Tür und ringt nach Worten.

»Allmächtiger! Da hol mich doch …«, stammelt sie los, kommt jedoch nicht weiter, da J.J. nun erneut hysterisch zu kreischen beginnt.

Oma Vettel legt die Hände an die Brust und ringt nach Luft. Sie befinden sich doch tatsächlich in einem begehbaren Kleiderschrank, der die Größe einer ganzen Kaufhausetage hat! Überladene Kleiderständer mit Hosen, T-Shirts, Kleidern, Röcken und Jacken reihen sich nahtlos aneinander und an den Wänden stehen meterlange Regale mit einer schier unendlichen Auswahl an Schuhen. In der Mitte thronen eine moderne, ausladende Loungelandschaft und ein Tisch, auf dem die neuesten Modemagazine warten.

»Dahinten wurde sogar eine moderne Nähstube eingerichtet!«, kreischt J.J.

Oma Vettel steht fassungslos in der Tür und klammert sich am Türrahmen fest. Nachdem J.J. ein paar Kleidungsstücke inspiziert hat, lässt sie sich auf einen bequemen Loungesessel fallen und schnaubt.

»Einfach abgefahren!«, wiederholt sie merhmals und sieht sich mit glitzernden Augen um.

Ihre Großmutter schüttelt dagegen nur bedächtig den Kopf.

»Ja, das ist es. Ein wenig übertrieben. Aber ich denke, damit wirst du zurechtkommen! Ich werde jetzt mal vorsichtig mein Schlafzimmer aufsuchen. Wie ich sehe, muss ich heute auf alles gefasst sein! Ich hoffe, das Haus hat seinem Größenwahn nur in deinem Zimmer ausgelebt! Ich bin völlig fertig! Ich muss mich etwas hinlegen. Der Tag war doch sehr strapaziös. Wenn du etwas brauchst, kannst du klingeln. Das funktioniert genauso wie früher. Die Glocke steht auf deinem Nachtschränkchen. Wir sehen uns morgen, zum Frühstück!«

J.J. rennt auf die alte Dame zu und fällt ihr um den Hals. Dann gibt sie ihr ein Küsschen auf die Wange.

»Danke für alles, Großmutter! Ich hoffe, dass ich schlafen kann. Jetzt wird alles gut! Ich kann es fühlen.«

Oma Vettel lächelt gerührt und macht sich auf den Weg in ihr Schlafzimmer. J.J. begleitet sie noch bis zur Tür und verabschiedet sich höflich. Als die alte Dame vor ihrer Tür steht, kann sie immer noch die Freudenschreie ihrer Enkelin hören.

Sie lächelt bekümmert und seufzt.

»Schlaf gut, meine kleine Jezabel. Ich hoffe auch, dass jetzt alles gut wird«, flüstert sie und drückt mit zittrigen Händen die Klinke herunter. Zu ihrer großen Erleichterung ist in ihrem Zimmer jedoch noch alles genauso, wie sie es verlassen hat.

J.J. stürmt derweil ins Badezimmer und nimmt eine ausgiebige Dusche. Auch wenn der Tag mehr positive Überraschungen für sie bereithielt, als sie sich vorgestellt hatte, war er am Ende doch sehr anstrengend. Erschöpft schmeißt sie sich auf ihr traumhaft weiches Bett.

»Das ist alles so unglaublich und beängstigend zugleich! Ich kann mich zwar an viele Dinge erinnern, aber irgendwie ist die ganze Geschichte auch unheimlich. Ich muss morgen erst einmal mit Großmutter sprechen. Es muss einen Grund geben, warum ich gerade jetzt wiederkommen sollte. Wenn alles, was ich so erfahren habe, stimmt, gibt es folgende Fakten:

Meine Großmutter ist eine dunkle, böse Hexe und lebt völlig unbehelligt zwischen Menschen in Havelock, obwohl es ein Zauberreich gibt. Mein Vater war kein Zauberer und strikt dagegen, dass ich eine Hexe werde. Bei dem Versuch, mich vor dem dunklen Phad zu bewahren, ist er sogar umgekommen. Ich habe acht Jahre in einem Internat gelebt und konnte mich weder an meine Familie noch an meine Vergangenheit erinnern, weil Großmutter mich an meinem sechsten Geburtstag verhext hat. Natürlich nur, um mich zu schützen! Aber warum bin ich jetzt wieder hier? Ach egal, ich werde sie morgen früh einfach fragen. Jetzt bin ich total müde.«

Sie gähnt und knipst das Licht aus. Ein paar Minuten lässt sie ihren Gedanken noch freien Lauf und schläft schließlich entspannt ein.

In der Nacht erwacht sie, weil ihr Mund trocken ist und ihre Kehle schmerzhaft brennt. Es fühlt sich an, als hätte sie eine Stunde oder länger durchgeschrien. Langsam öffnet sie die Augen und knipst das Licht an. Der kleine Lichtkreis beweist ihr, dass sie nicht geträumt hat und sie tatsächlich in einem Himmelbett in Havelock liegt.

Sie wirft die Bettdecke beiseite und steht auf.

»Ich muss unbedingt was trinken«, raunt sie verschlafen und schlurft ins Badezimmer.

Sie hält ihren Kopf unter den Wasserhahn und trinkt hastig, da sie sich fühlt, als hätte sie die Wüste tagelang ohne Wasser durchquert. Anschließend legt sie noch einen nassen Lappen auf ihren Nacken und geht zurück ins Zimmer. Irgendwie hat sie plötzlich große Sehnsucht nach Zoé, William, Felder und Pippa. Sie zum Schreibtisch und holt ihr Handy aus der Jackentasche, da sie wissen will, wie spät es ist. Dabei stellt sie frustriert fest, dass sie immer noch keinen Empfang hat.

»Das ist nicht cool! Ich kann in meinem eigenen Zimmer einkaufen gehen, aber telefonieren kann ich hier nicht. So ein Mist!«, blafft sie leise.

Sie sieht noch einmal auf das Display: 23:59 Uhr.

»Mitternacht. Ich dachte, ich schlafe bis morgen Nachmittag durch. Gestern war doch total anstrengend. Na ja, ich könnte eine Limonade vertragen. Mein Kopf tut weh. Vielleicht habe ich mir beim Fliegen einen Zug geholt oder sowas. Ich werde mal hinunter in die Küche gehen. Großmutter hat bestimmt was da.«

Sie schlupft in ihre Pantoffeln und schleicht in den Flur. Das Treppenhaus ist sanft beleuchtet. Auf Zehenspitzen trippelt sie bis zur Treppe und dann in die untere Etage. Im Gang bleibt sie kurz stehen und überlegt. Aus dem Bauch heraus beschließt sie, in den linken Flur zu gehen, an dessen Ende sich eine Tür befindet. Leise öffnet sie diese. Da es vollkommen dunkel ist, tastet sie nach dem Schalter und knipst das Licht an. Als sie den Raum betritt, jubelt sie vor Freude los. Verlegen presst sie sich die Hand vor den Mund, da sie niemanden aufwecken will.

J.J. steht in Oma Vettels ausgesprochen uriger Küche, deren Wände aus einzelnen, grauen Felsblöcken bestehen. Auf der linken Seite wurde eine riesige Kochstelle eingelassen, die mit Holz oder Kohlen befeuert werden kann. Darüber hängen an einer langen Leine unzählige Bündel mit getrockneten Kräutern und seltsamen Obst- und Gemüsesorten. J.J. staunt. In der Mitte steht dagegen eine hochmoderne Kochinsel, über der etliche auf Hochglanz polierte Töpfe und Pfannen hängen. Die Schränke und die mondäne Sitzecke, die sich unter einem großen Fenster befindet, sind wahre Designerstücke, die aus sehr wertvollem Kauriholz gefertigt wurden.

»Schlecht verdienen tut man als Hexe anscheinend nicht«, denkt sie und hält überrascht inne, da ihr Blick auf einem raumhohen, dreiflügeligen Kühlschrank hängenbleibt.

»Volltreffer!«, jauchzt sie aus Versehen laut los, während sie neugierig die Tür öffnet. Als sie jedoch den Inhalt sieht, zieht sie einen Schmollmund.

»Wollen die mich veräppeln?«, raunt sie entrüstet, da der riesige Kühlschrank leer ist! Enttäuscht schließt sie ihn wieder und entdeckt ein Display, das in der Kühlschranktür eingelassen wurde. Aus Spaß drückt sie auf eine der vielen Tasten, worauf sich unvermittelt eine freundliche Stimme meldet:

»Hallo! Was darf es denn heute sein?«, fragt diese höflich, während J.J. sich hastig umsieht, da sie befürchtet, dass man sie erwischt hat. Aber außer ihr ist niemand in der Küche. Sie stutzt und schaut sicherheitshalber auch unter der Eckbank nach. Als sie begreift, dass diese Stimme aus dem Display kommt, muss sie kichern.

»Dieses Ding erinnert mich an den Autoschalter einer Fast-Food-Kette«, albert sie und stellt sich nah an die Kühlschranktür.

»Ja, hallo! Ich nehme ein paar Hühnchenburger, ohne Gurken und Ketchup, eine Orangenlimonade ohne Eis und Pommes mit Mayo!«, spricht sie mit spitzen Lippen hinein.

Prompt meldet sich die Stimme erneut.

»Vielen Dank für Ihre Bestellung! Bitte entnehmen Sie jetzt Ihre Speisen! Ich wünsche guten Appetit!«

J.J. stockt und öffnet, eigentlich mehr aus Spaß, nochmal den Kühlschrank. Jetzt vergeht ihr das Lachen! Vor ihr steht ein deckenhoher, dreiflügeliger Kühlschrank aufgefüllt mit Hühnchenburgern, Pommes frites und Orangenlimonade. Hastig schlägt sie die Tür wieder zu und reißt sie noch einmal auf.

»Alles noch da! Ich flippe aus!«

Mit aufgerissenen Augen starrt sie auf die Unmenge an Köstlichkeiten und schluckt. Vorsichtig tastet sie an einen Burger und schüttelt ungläubig den Kopf.

»Die sind ja heiß!«

Sie schnappt sich einen, dazu noch eine Packung Pommes sowie eine Flasche Orangenlimonade und setzt sich auf die Eckbank. Der Burger duftet herrlich und macht ihr großen Appetit. Selig lächelnd beginnt sie zu essen.

Plötzlich bewegt sich die Küchentür. J.J. schreckt hoch und sieht hinüber, kann jedoch niemanden entdecken. Jetzt gruselt es ihr doch ein wenig, obwohl ihr bewusst ist, dass sie sich in einem Zauberhaus befindet. Als sie genauer hinsieht, erkennt sie zwei Hinterpfoten, samt halben Bauch und Po, die fröhlich auf sie zuspaziert kommen. Sie sieht auf das kuriose Gebilde und setzt sich unbewusst ein Stück zurück.

»Hm, hier riecht es aber lecker! Der Duft ist bis hinauf in mein Schlafzimmer gedrungen. Was gibt es denn Gutes?«, fragt die seltsame Gestalt.

J.J. holt erleichtert Luft und macht dem wunderlichen Gesellschafter Platz.

»Hallo Lincoln. Ich muss mich erst wieder daran gewöhnen, dass ich ab sieben Uhr abends mit einem Hinterteil reden muss!«, sagt sie kichernd, was der kleine Halbtagshund leider nicht so amüsant findet. Er hopst auf die Eckbank und seufzt.

»Ich hoffe, es ist dir nicht zu unangenehm! Bevor du in das Internat gebracht wurdest, habe ich bei dir im Zimmer gewohnt. Manchmal durfte ich sogar mit im Himmelbett schlafen! Aber Oma Vettel meint, dass Mädchen in deinem Alter das nicht mehr so gerne mögen. Sie war sehr angespannt in den letzten Wochen. Ich mag sie jedoch lieber aufgeregt als so tieftraurig wie in der Zeit, nachdem du weg warst. Na ja, wir waren alle sehr traurig. Selbst das Haus! Furchtbar war das! Alles war düster, dunkel und kalt. Wenn man an deinem Zimmer vorbeikam, hat es immer unglaublich furchterregende Geräusche gemacht. So wie in diesen Gruselfilmen. Alles nur deshalb, damit bloß niemand hineingeht. Ich habe gehört, dass es dir jetzt ein besonders schönes Zimmer arrangiert hat?«

J.J. nimmt einen Schluck Limonade und schiebt sich an Lincoln vorbei. Sie geht zum Kühlschrank und öffnet die Tür.

»Zimmer ist leicht untertrieben. Es ist eher ein Luxus-Apartment, und wenn du möchtest, kannst du gern wieder bei mir einziehen. Hast du Lust auf Hühnchenburger oder Pommes?«, fragt sie, während sie bis zu den Knien in dem Kühlschrank verschwindet, um sich Nachschlag zu holen.

»Ich nehme nur einen Burger, wenn du einen übrig hast.«

J.J. kommt hervor und zeigt verlegen auf den üppigen Inhalt. Ein paar Sekunden herrscht Stille, dann quietscht der kleine Halfie erschrocken los:

»Ach herrje. Da hast du aber großen Appetit gehabt. Davon werden ja alle Bewohner von Havelock satt! Wie lange soll denn dieser Vorrat reichen?«

J.J. zuckt verlegen mit den Schultern und erklärt ihm, wie es zu der Misere kam.

Jetzt kichert der Halbtagshund.

»Ja, das ist noch ein älteres Modell. Du musst ihm genau sagen, was du haben möchtest. Vorallem auch die exakte Anzahl! Jetzt müssen wir lange Burger und Pommes essen. Das wird Oma Vettel gar nicht gefallen. Sie achtet nämlich streng darauf, dass wir uns ausgewogen ernähren. Soweit ich weiß, erwartet sie morgen Abend auch ein paar Gäste aus dem dunklen Phad. Da braucht sie den Kühlschrank.«

J.J. verdreht die Augen und lässt den Kopf nach vorne fallen.

»Super! Und jetzt?«, fragt sie genervt und sieht gerade noch ein Stummelschwänzchen aus der Tür flitzen.

»Na dann, auf Wiedersehen«, blafft sie Lincoln hinterher und nimmt sich frustriert noch einen weiteren Burger, der mittlerweile nur noch lauwarm ist.

Ein paar Minuten später hört sie ein stetig anschwellendes Gemurmel und Getrappel aus dem Flur, das sich in ihre Richtung zu bewegen scheint! Sie lauscht einen Moment lang angespannt und steht auf, als plötzlich die Tür aufspringt. Diggler, Lincoln, Flick, Henry McMuffel, Bomber, Marley, Bog, Hubert, Geoffrey, Klank, Glubert, Morten aus dem Geisterzoo, Rosie, die Tentakelschlange, und Xinthalius, die Hauskatze, kommen in die Küche gestürmt und stellen sich vor den Kühlschrank. Klank, der Affe, klettert auf Digglers Rücken und öffnet die Kühlschranktür. Daraufhin geht alles sehr schnell.

Der Affe schmeißt der Meute Burger und Pommes frites zu, die sich gierig draufstürzt und sie genussvoll verschlingt. Nach einer halben Stunde ist nichts mehr übrig außer der Orangenlimonade. J.J. sieht mit aufgerissenen Augen zu, wie die Halfies und der Geisterzoo auf oder neben der Eckbank sitzen und die letzten Reste der Burgerparade verspeisen.

»Danke, dass ihr mir aus der Patsche geholfen habt«, sagt sie erleichtert und zwinkert Lincoln dankbar zu.

Dann steht sie auf und beginnt den Müll wegzuräumen.

»Das Papier kannst du Afrim geben«, sagt das Werschwein, als es bemerkt, wie J.J. verzweifelt einen Mülleimer sucht.

»Okay und wer ist Afrim?«

Diggler kommt auf sie zu und nimmt ihr ein Stück Papier ab. Er schleppt es zu der offenen Feuerstelle in der Felswand und legt es in die Öffnung. Danach geht er zurück und holt das Nächste. J.J. sieht zum Feuerloch und traut ihren Augen nicht. Eine kleine, bläuliche Flamme, vielleicht so groß wie eine Streichholzschachtel, kommt angetanzt und stürzt sich auf das Papier. Während sie frisst, wird sie größer und ändert ihre Farbe. Zuerst ist die Flamme blau, schließlich wächst sie und wird gelb. Mittlerweile ist es ein stattliches Feuer, das orangerot glüht. Die Flamme schmatzt und beginnt am Rande des Feuerloches umherzutanzen.

»Das ist Afrim. Er ist ein Feuerdämon. Ich glaube, er wartet auf das Dessert! Gib ihm schnell das restliche Papier, sonst wird er wieder launisch«, meint Diggler und zeigt mit dem Kopf auf die Feuerstelle.

J.J. nimmt zögerlich den Rest Müll und geht hinüber. Sicherheitshalber bleibt sie in einem Meter Entfernung stehen und wirft ihn hastig hinein.

»Bitte schön, Afrim«, sagt sie höflich und stolpert erschrocken zurück, da die Flamme sich plötzlich keuchend vor ihr aufbäumt und zu einer großen, fast menschlichen Gestalt formt! Afrim glüht blutrot und gibt eine schier unerträgliche Hitze frei. Sie weicht zurück und kann sich gerade noch an der Kochinsel abfangen, bevor sie stürzt.

Waren alle Bewohner und Geschöpfe dieses Hauses bis jetzt kauzig, niedlich oder freundlich, so macht ihr dieser Dämon große Angst. Es ist nicht sein Äußeres oder die Gier, mit der er sich auf das Papier gestürzt hat. Es sind die Geräusche, die er dabei von sich gibt. Irgendetwas Unheimliches blitzt in ihr auf. So etwas wie eine unangenehme Erinnerung, die sie abgespalten hat und die nun mit aller Macht versucht, wieder sichtbar zu werden. Aber wirklich einordnen kann sie diese Empfindung nicht. Zudem ist da noch dieser furchtbare Gestank. Er ist schwer und dringt nicht durch die Nase, sondern direkt durch den Mund in ihren Körper, sodass sie ihn als Erstes schmecken muss. Schwefel, Aas, Fäulnis, es ist ein stechend böser Geruch und ein noch ekelhafterer Geschmack! Zum ersten Mal bekommt sie zu spüren, dass sie sich im Haus einer bösen Hexe befindet. Voller Abscheu starrt sie auf den Dämon, der unter der Asche gierig nach Resten sucht und dabei unablässig stöhnt.

»Ekelerregend«, denkt sie und wendet sich ab.

»Ich werde jetzt zu Bett gehen, da ich morgen früh pünktlich beim Frühstück sein will. Danke für deinen Notruf, Lincoln! Du hast mir echt den Abend gerettet. Morgen packst du deine Klamotten und ziehst bei mir ein!«

Sie zwinkert in Richtung der beiden Hinterläufe und geht hinauf in ihr Zimmer. Eilig verschließt sie die Tür und rennt ins Badezimmer. Sie schrubbt sich intensiv die Zähne, weil sie hofft, so diesen widerlichen Geschmack loszuwerden und gurgelt anschließend mehrmals ausgiebig. Nach einer sorgfältigen Nasenspülung, legt sie sich erschöpft ins Bett und dieses Mal lässt sie das Nachtlicht an.

Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel

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