Читать книгу Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel - M.E. Lee Jonas - Страница 8
Kapitel 4 Das Wiedersehen
ОглавлениеEndlich ist es so weit!
Der letzte Tag vor den langen Sommerferien ist angebrochen. Im Wohngebäude herrscht schon seit den frühen Morgenstunden ein fröhliches Durcheinander. Koffer, Taschen und Rucksäcke stehen in den Gängen, Müllsäcke und ausrangierte Möbel türmen sich vor dem Eingang, während sich die Bewohner ausgiebigen Verabschiedungszeremonien widmen.
Als J.J. ihrer Freundin heute Morgen erzählen wollte, was sie in ihrem Hort erfahren hat, kam Zoé ihr singend aus dem Bad entgegen und konnte sich anscheinend an nichts mehr erinnern. Sie hat nur überschwänglich gelächelt und nebenbei gefragt, ob J.J. wüsste, wann sie eingeschlafen seien. Den Stein oder J.J.s ungewöhnliche Reisen hat sie mit keinem Wort erwähnt. Also hat J.J. beschlossen, Zoé alles erst nach der Abschlussrede zu erzählen.
Die beiden Mädchen sind auf den Weg in den Park, wo in diesem Jahr die Abschlussfeierlichkeiten stattfinden. Unzählige Stühle stehen in akkuraten Reihen vor der großen Freilichtbühne, von denen der Großteil schon belegt ist. Die Mädchen setzen sich in die hinterste Reihe und verfolgen aufmerksam die Dankesreden und Verabschiedungen der Abgänger. Als der letzte Schüler sein Zeugnis überreicht bekommen hat, stürzen sie sich schnell auf das riesige Büfett, dem eigentlichen Grund, warum sie sich ganz hinten hingesetzt haben. So sind sie die Ersten, die Pippas Köstlichkeiten genießen können. Anschließend suchen sie im Park all ihre Freunde auf, um sich von ihnen zu verabschieden.
Der Moment des Abschieds ist gekommen. Zoés Eltern inspizieren ausgiebig das Zimmer der Mädchen und statten Pippa einen Besuch ab. Nach einer tränenreichen Verabschiedung steigt Zoé in die schwarze Limousine und fährt auf und davon, ohne dass J.J. ihr auch nur ein Wort darüber erzählen konnte, was sie herausgefunden hat!
J.J. steht am Tor und winkt ihrer Freundin traurig hinterher. Dann trottet sie zu William und Felder, deren Familien schon ungeduldig vor ihren Autos warten. Als die beiden den Campus ebenfalls verlassen haben, steht J.J. in der Einfahrt und fühlt sich total verlassen. Alle Schüler sind fort. Nur noch zwei Wagen stehen auf dem Schulgelände, in denen gerade die letzten Koffer verstaut werden.
Britany Hoilding war die Erste, die vom Hof gefahren ist. Während der Abschlussfeier hat sie zwar mehrmals zornig auf J.J. gezeigt, was ein paar sehr missbilligende Blicke ihrer Eltern nach sich zog, aber dabei sollte es auch bleiben.
Zum ersten Mal wird J.J. bewusst, wie einsam sie in den letzten Jahren war.
»Ich musste immer hierbleiben, wenn die anderen nach Hause gefahren sind. Dieses Mal soll das also anders sein.«
Sie rennt ins Wohngebäude und setzt sich nervös aufs Bett.
»Nun, Großmutter. Ich wäre dann so weit«, stammelt sie nervös in den verlassenen Raum.
Ungeduldig geht sie zum Fenster und bekommt plötzlich Zweifel.
»Vielleicht war es doch nur ein übler Scherz und ich warte morgen noch. Vielleicht habe ich das ja nur geträumt. Immerhin hat Zoé auch nichts mehr dazu gesagt.«
Das Klopfen an der Tür reißt sie aus ihren dunklen Gedanken. Sie stockt einen Moment und geht langsam zur Tür. Sie zählt leise bis zehn und drückt die Klinke ganz schnell herunter. Pippa sieht sie traurig an und hält ihr ein großes Päckchen entgegen.
»Ich wollte mich noch von dir verabschieden. Ich habe ein paar von deinen Lieblingskeksen gebacken. In diesen Brief habe ich deiner Großmutter aufgeschrieben, was du magst und ganz wichtig, was du überhaupt nicht leiden kannst! Da steht auch meine Rufnummer, die übrigens Tag und Nacht funktioniert! Ach ja, und eine Regenjacke, da ich gehört habe, dass es auf der Südinsel sehr oft regnen soll!«
J.J. legt die Sachen auf ihre gepackten Koffer und nimmt Pippa fest in den Arm. Beide lassen ihrer Wehmut freien Lauf und weinen. Ihrer ungewöhnlich starken emotionalen Verbundenheit kann auch die Neuigkeit über J.J.s Familie nichts anhaben.
»Pass gut auf dich auf, kleine Jezabel! Auch wenn du den Namen nicht magst, ich finde, dass er gut zu dir passt! So, jetzt musst du aber los! Mrs. Rogan hat eben bei mir angerufen und Bescheid gegeben, dass deine Großmutter bereits in ihrem Büro wartet. Geh schon! Ich kümmere mich um dein Gepäck. Wir sehen uns in vier Wochen und vergiss nicht, mir zu schreiben!«, sagt sie leise, während sie ihr sanft übers Haar streicht.
J.J. bleibt regungslos stehen, da sie große Angst vor dem hat, was jetzt auf sie zukommt. Eigentlich wollte sie Pippa fragen, ob sie sie bis zur Direktorin begleiten würde. Aber nun ist sie sicher, dass ihr der Abschied leichter fällt, wenn sie jetzt einfach geht. Sie küsst Pippa auf die Wange und rennt los. Raus aus dem Wohngebäude, durch den Park, über den Hof in Richtung Schulgebäude. Vor dem Eingang stoppt sie. Ein uraltes, weinrotes Auto parkt davor.
»Das ist nicht ihr Ernst!«, raunt sie entrüstet und schleicht um den ungewöhnlichen Wagen.
Ein paar verschwommene Erinnerungen kochen hoch. Der Geruch von altem Leder und Lavendelsäckchen, das Geräusch des knatternden Motors und das Klappern der Türen, wenn sie über holprige Straßen gefahren sind.
»Ich kenne diesen Wagen! Er gehört meiner Großmutter. Sie existiert also wirklich!«
Nun verschwinden die letzten Zweifel. J.J. rennt in das Schulgebäude durch den leeren Gang hinauf zum Büro von Mrs. Rogan. Sie hält kurz inne, nimmt einen tiefen Atemzug und klopft leise an. Insgeheim hofft sie, dass niemand da ist, da sie plötzlich unsicher ist, wie sie sich verhalten soll. Doch da öffnet Mrs. Rogan die Tür und bittet sie lächelnd herein. Zögerlich betritt sie den Raum und sieht sich nervös um.
Hinter der Glasscheibe von Mrs. Rogans Bürotür, erkennt sie eine markante Silhouette. Doch das ist nicht das, was sie berührt. Da ist dieser betörende Duft und der erfüllt den gesamten Raum.
»Ein Aftershave. Holzig und dennoch leicht.«
Eine leichte Gänsehaut kriecht ihr vom Nacken bis in die Zehen hinab, während ihr Herz vor unbändiger Vorfreude wild pocht. Je weiter sie geht, desto mehr Erinnerungsfetzen kommen zurück.
»Ich kann mich wirklich erinnern! Es war kein Traum! Großmutter, Lincoln und Rosie und …«, denkt sie, als Mrs. Rogan feierlich die Bürotür öffnet und die Person sich langsam erhebt.
Sie ist etwa so groß wie J.J. und leicht untersetzt. Ihr Gesicht kann man nicht gleich erkennen, da sie einen gigantischen, hellbraunen Hut mit einer breiten, kunstvoll verschlungenen Krempe trägt, auf dem zu allem Überfluss noch ein wunderschöner, rosafarbener Schmetterling thront.
J.J. bleibt abrupt stehen, da plötzlich ein uraltes Gefühl der Sehnsucht und Liebe in ihr aufsteigt.
Die unbekannte Person schreitet auf sie zu und je näher sie kommt, desto mehr verblassen die letzten Zweifel. J.J. erkennt ihre Großmutter wieder! Jetzt gibt es für sie kein Halten mehr. Sie fällt der alten Dame, heute in einem pinkfarbenen Hosenanzug gekleidet, in die Arme und fängt furchtbar an zu schluchzen. Dieser Moment nimmt ihr eine schwere Last. Alles, was in den letzten Wochen passiert ist, erscheint ihr nun nicht mehr schrecklich. Das Gefühl, ganz allein auf dieser Welt zu sein, verschwindet. Sie tritt einen Schritt zurück und sieht sich ihre Großmutter genau an.
Die weichen, runden Gesichtszüge haben sich nicht verändert. Nur ihre grauen Augen, die an tiefe Bergseen erinnern, wirken traurig. Sie bemerkt, dass die alte Dame mit den Tränen kämpft.
»Hallo, kleine Jezabel! Ich bin deine Großmutter. Es tut mir leid …«, beginnt sie mit zittriger Stimme zu sprechen, aber J.J. fällt ihr aufgeregt ins Wort.
»Ich kann mich erinnern! Ich habe mit Florence gesprochen«, brüllt sie hektisch los, als sie bemerkt, dass Mrs. Rogan auch im Zimmer ist, und verlegen innehält. Die Direktorin versteht den Wink und lässt die beiden allein.
Der alten Dame huscht ein stolzes Lächeln übers Gesicht.
»Das ist außerordentlich, meine Liebe! Aber was habe ich auch anderes erwartet? Du bist mir eben sehr ähnlich. Ich möchte mich entschuldigen, dass ich dich so überfallen habe. Aber es gibt dringende Gründe, die mich zu dem Entschluss zwangen, dich so plötzlich aufzusuchen. Ich will aber ehrlich sein. Ich bin auch sehr froh, dich endlich wiederzusehen. Du hast uns allen sehr gefehlt!«
Oma Vettel beginnt hemmungslos zu weinen und schnäuzt kräftig in ihr großes Taschentuch. Da springt unerwartet die Bürotür auf. J.J. erhascht einen Schwall des wunderbaren Aftershaves und dreht sich langsam um. Es ist für sie der schönste Duft der Welt und sie weiß nun auch, zu wem er gehört.
In der Tür steht Broaf, ihr Lieblingsdiener, und lächelt sie verlegen an.
»Er war es, der mir das Fahrradfahren, Schwimmen und Seilspringen beigebracht hat.« Feierlich schreitet sie auf ihn zu und haucht ihm ein leichtes Küsschen auf die Wange. So wie sie es früher immer getan hat.
»Hallo Broaf. Ich bin so froh, dich zu sehen!«, flüstert sie, während der Diener eine leichte Verbeugung macht.
»Jezabel, du bist ein wunderschönes Mädchen geworden. Ich bin ebenfalls sehr dankbar für die Chance, dich wiedersehen zu dürfen. Ich habe mir erlaubt, deine Taschen schon ins Auto zu bringen. Wir sollten uns beeilen, da wir noch eine anstrengende Reise vor uns haben.«
Er macht eine leichte Verbeugung und starrt zu Oma Vettel, die ihm zustimmend anlächelt. Nun kommt die Direktorin dazu und sieht gerührt in die Runde.
J.J. geht zögerlich auf sie zu.
»Danke, Mrs. Rogan. Ich denke, nach den Ferien wird es mir besser gehen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Sommer.«
Mrs. Rogan nimmt ihre Hand und lächelt sanft.
»Das werden wir sehen, J.J.! Ich hoffe, dass du ein paar wundervolle Wochen bei deiner Großmutter verbringst und dich dort gut erholst. Wir sehen uns in vier Wochen wieder.«
J.J. nickt und verabschiedet sich, bevor sie gemeinsam mit Oma Vettel und deren eigentümlichen Diener das Schulgebäude verlässt. Broaf öffnet galant die Autotür. Zögerlich setzt sie sich auf die Rückbank, wo sie sogleich Gesellschaft von ihrer Großmutter bekommt. Die Stimmung ist nicht gedrückt oder peinlich, sondern natürlich und bedächtig. J.J. weiß, dass ihr Leben sich nun grundlegend ändern wird.
Der Moment, von dem sie so oft gehört hat, ist gekommen. Dieser eine Augenblick, der alles verändert. Für sie, Josie Jezabel Smith, bedeutet es eine Reise zurück. Zurück in ihre Vergangenheit, die für sie noch ganz neu ist. Doch sie erinnert sich vage, dass sie dieses alte Leben sehr geliebt hat.
Als sie das Schulgelände verlassen, dreht sie sich noch einmal zu Pippa, die mit hängenden Schultern auf dem Schulhof steht und mit einem großen Taschentuch hinterherwinkt. Sie schickt ihr einen Luftkuss und wendet sich schnell wieder um, da sie plötzlich tieftraurig wird.
»Ich bin froh, dass du sie hast. Pippa ist ein selten guter Mensch«, sagt Oma Vettel, die bemerkt, dass ihrer Enkelin dieser Abschied sehr schwer fällt.
J.J. lächelt und genießt den Rest der langen Fahrt nach Havelock. Als sie ungefähr eineinhalb Stunden dem State Highway entlanggetuckert sind, hält Broaf in einer kleinen Parkbucht an.
»So, meine Liebe. Ich denke, es wird Zeit für ein kräftiges Picknick«, sagt Oma Vettel fröhlich, während sie ihrer Enkelin beim Aussteigen behilflich ist.
J.J. steht etwas verloren auf dem staubigen Parkplatz und sieht sich verwirrt um.
»Ich sehe hier weit und breit kein Diner oder eine Tankstelle, wo man etwas essen könnte.«
Verwundert beobachtet sie Broaf, der flink den Kofferraum öffnet und zu J.J.s Überraschung einen Klapptisch, drei Stühle und einen Sonnenschirm heraushievt, die er behände hinter dem Wagen aufbaut.
»Wie passt das alles in diesen Minikofferraum?«
Sie ist überrascht, als er daraufhin noch einen großen Picknickkorb herausholt und den Tisch sorgsam deckt. Im Nu stehen Sandwichplatten, Hühnchen, Salat, Kuchen, Brötchen und Limonade darauf und verbreiten einen köstlichen Duft. J.J. bekommt bei dem Anblick einen wahnsinnigen Appetit und geht mit knurrendem Magen zu der ungewöhnlichen Tafel.
»Nicht schlecht für den Anfang.«
Angetan setzt sie sich neben ihre Großmutter.
»Greif zu, Jezabel. Wir haben ausschließlich Dinge mitgebracht, die du früher immer gern gegessen hast. Wir müssen uns nämlich für die restliche Reise stärken«, sagt Vettel, während sie ihr einen Korb mit herrlich duftenden Brötchen reicht.
Als J.J. sich eins greift, ist sie erstaunt, da sie noch warm sind. Nach einem kurzen Moment der Verwirrung langt sie kräftig zu, auch wenn es ihr irgendwie unheimlich ist, dass selbst das Hühnchen wie frisch aus dem Backofen schmeckt. Ihre Unsicherheit und die Zweifel schwinden jedoch mit jeder Minute, die sie mit den beiden verbringt.
»Wie lange fahren wir eigentlich noch?«, fragt sie nebenbei, während sie noch eins der knusprigen Brötchen aufschneidet.
Ihre Großmutter setzt die Tasse ab und grinst.
»Wir fahren überhaupt nicht mehr! Ich habe keine Lust, meine alten Knochen noch länger in das alte Schätzchen da zu quetschen. Ich denke, wir nehmen ein bequemeres Transportmittel!«
J.J. stopft sich ein großes Stück Kuchen in den Mund und spült es mit einem Schluck der herrlich kühlen Limonade herunter.
»Und was ist das für ein Transportmittel? Ein Bus, ein Flugzeug? Wir müssen doch zur Fähre kommen«, fragt sie fröhlich schmatzend.
Oma Vettel sieht ihren Diener verdutzt an und überlegt.
»Manche Dinge muss sie erst wieder lernen, denke ich.«
Die alte Dame setzt sich kerzengerade hin und nimmt Daumen und Zeigefinger in den Mund, um einen glockenklaren, schrillen Pfeifton zu erzeugen. J.J. erschreckt sich derart, dass ihr das Brötchen aus der Hand fällt.
»Rosinante! Ardogo!«, brüllt ihre Großmutter unvermittelt hinterher.
J.J. sieht sich verstohlen um, da ihr das nun doch irgendwie peinlich ist. Immerhin sitzen sie mit einem ausladenden Picknick in einer Parkbucht, die sich an einem gut befahrenen Highway befindet. Nun dreht sie sich verwirrt um, da sie ein merkwürdiges Zischen hört. So als würde jemand Luft aus einem riesigen Ballon entweichen lassen. Das Geräusch wird lauter und geht schließlich in einen schrillen Pfeifton über. Da kommt plötzlich ein Besen angeflogen, der sich zwischen ihr und Oma Vettel niederlässt. Vor Schreck geht J.J. in Deckung und staunt. Rosinante, so der Name von Oma Vettels Hexenbesen, der seit vielen Generationen der Familie von Winterhardt gehört, lehnt sich lässig an den Tisch.
»Wir reisen so, wie es sich für anständige Hexen gehört. Mit unserem Besen natürlich! Damit sind wir viel schneller, und die Aussicht ist auch viel besser! Zudem ist es gutes Training für die mittleren Muskelpartien«, erklärt Vettel kichernd und klopft zur Bestätigung kräftig auf die Oberschenkel. J.J. lacht und betrachtet skeptisch das sonderbare Fluggerät.
»Wir reiten also zu dritt mitten am Tag auf diesem Besen nach Havelock?«, fragt sie zynisch.
Oma Vettel, die sich gerade ein großes Stück Sahnecremetörtchen in den Mund schiebt, hält inne und stutzt.
»Wo denkst du hin? Nicht wir drei. Broaf muss doch unseren Wagen nach Hause fahren. Wir zwei fliegen mit Rosinante oder hast du etwa Höhenangst?«
J.J. schüttelt den Kopf und nimmt Rosinante in die Hand.
Auf den ersten Blick ist es ein normaler Reisigbesen mit einem circa 1,60 Meter langen Stiel, an dessen Ende ein fünfzig Zentimeter langes Reisigbündel verknotet ist. Im hinteren Drittel ist der Stiel leicht durchgebogen, damit man bequemer sitzen kann. Vielleicht ist er aber auch einfach nur sehr durchgesessen. Er ist dunkelbraun und blank poliert, sodass er wunderbar in der Hand liegt.
J.J. steigt auf, so wie sie es in Büchern oder Filmen gesehen hat.
»Und, mache ich das richtig, Großmutter?«, fragt sie keck.
Oma Vettel klatscht vergnügt und steht auf.
»Sieht gar nicht mal so schlecht aus. Aber das Reisig gehört nach hinten, mein Schatz!«
J.J. sieht verlegen nach hinten und muss dann wegen der komischen Situation lachen.
»Komm her. Ich zeige es dir!«
Ihre Großmutter reißt den Besen an sich und schwingt sich gelenkig darüber. Jetzt, wo sie das sieht, kommt es J.J. gar nicht mehr so abwegig vor, dass diese alte Dame eine Hexe ist. Vettel streicht sanft über den Stiel und schwärmt:
»Früher sind wir viele Touren mit Rosinante geflogen. Du hast dich immer hinter mich gesetzt und mir mit deinen Armen fast die Luft abgedrückt. So fest hast du dich gehalten. Dabei hast du jedes Mal geschrien wie der Teufel. Beim nächsten Ausflug warst du jedoch immer die Erste, die auf dem Besen gesessen hat! Rosinante ist ein gutes Mädchen. Sie gehört mittlerweile seit sechshundert Jahren zu unserer Familie und musste erst zwei Mal repariert werden, weil sie sich so eine bösartige Flechte eingefangen hatte. Ja, das waren wirklich furchtbare Zeiten! Es ist nämlich sehr aufwendig, diese Besen zu reparieren. Es gibt nur einen einzigen Gärtner, der das kann und der lebt im weisen Phad. Da ich dort nicht hinreisen darf, musste ich Rosinante zu Vinillius bringen. Das ist der Wächter der beiden Zauberreichtore und damit neutrale Zone. Er nimmt die guten Stücke und lässt sie per Kurier in den weisen Phad bringen. Wenn die Besen endlich repariert sind, bekommen wir Bescheid und müssen sie bei Vinillius abholen. Das letzte Mal musste ich fünf Wochen warten! Schlimme Zeit war das! Na ja, jetzt ist ja alles wieder gut. Also, mein Kind. Wenn du mit dem Essen fertig bist, können wir starten!«
J.J. trinkt schnell ihre Limonade aus und schnappt ihre Jacke. Als sie ihren Teller abräumen will, fährt Broaf ihr dazwischen.
»Junge Dame, ich wäre ohne Arbeit, wenn du das tun müsstest. Bitte lass mich das erledigen. Ich wünsche dir einen angenehmen Flug!«
Sie lächelt den Diener verschmitzt an und geht schnurstracks zum Besen, auf dem bereits ihre Großmutter sitzt und auf sie wartet. J.J. stockt, da die alte Dame inzwischen eine riesige, braune Fliegerbrille aufgesetzt und ihren Hut gegen eine altmodische Fliegerhaube getauscht hat.
»Die habe ich mir vor ein paar Jahren zugelegt, da ich nicht mehr die besten Augen habe und der Wind mich manchmal schmerzt. Da oben herrscht mitunter ein sehr raues Klima! Wenn ich nicht richtig sehen kann, ist so ein Flug ziemlich gefährlich! Also, komm schon! Setz dich hinter mich. Wir wollen endlich los. Zu Hause werden wir bereits sehnsüchtig erwartet!«
J.J. nimmt Schwung und setzt sich erwartungsvoll auf das magische Transportmittel.
»Forto!«, schreit die alte Hexe laut, als der Besen sich auch schon sacht in die Luft erhebt.
Nicht so steil wie Flugzeuge auf der Startbahn, sondern waagerecht und sanft wie ein Fahrstuhl. Trotzdem schlingt J.J. aus Reflex ihre Arme fest um ihre Großmutter.
Als sie sich ungefähr fünf Meter über den Boden befinden, traut sich J.J. zum ersten Mal nach unten zu sehen. Vorsichtshalber lugt sie nur mit einem Auge, das sie schnell wieder verschließt. Doch dann wird sie mutig und sieht erstaunt hinab. Ein kurzer Schrei entfährt ihr zwar, aber Angst hat sie keine. Fasziniert winkt sie Broaf, der die Picknicksachen längst im Wagen verstaut hat und nun selbst die Heimreise antreten will.
Jetzt beginnt der abenteuerliche Teil ihrer Reise.
J.J. sitzt auf einem Besen und fliegt in schwindelerregender Höhe über den Highway, der sich weit unter ihnen durch die riesigen Wälder schlängelt. Sie sieht Autos, die wie Ameisen auf dem grauen Asphalt herumeilen und anscheinend überhaupt nicht bemerken, dass über ihnen eine Hexe auf einem alten Besen sitzt und wild jauchzend in Richtung Südinsel fliegt.
»Ich werde wahnsinnig! Das ist das Coolste, was ich jemals gemacht habe«, brüllt sie aufgeregt.
Sie lehnt ihren Kopf an den Rücken ihrer Großmutter und betrachtet ehrfürchtig die Landschaft, die sich über und unter ihnen erstreckt. Sie sieht die riesigen Wälder, die wie grüne Teppiche unter ihnen liegen und das endlose Meer, das, je höher sie fliegen, immer blauer zu werden scheint. Sie preschen durch gigantische Wolkengebirge, die unentwegt ihre Formen ändern, als würden sie Scharade spielen. Ab und an sinkt Oma Vettel ein Stück tiefer, damit J.J. Delfine, Wale und sogar ein paar Robben sehen kann.
»Ich bin im Himmel«, jubelt J.J. überschwänglich und genießt den Wind, der ihr sanft durchs Haar streicht.
Als sie nach circa einer Stunde in Havelock landen, ist sie völlig erschöpft, da sie es ja nicht gewohnt ist, auf einem Besenstiel zu fliegen. Aber sie fühlt sich auch total entspannt und glücklich.
Rosinante sinkt langsam hinab und bleibt etwa einen halben Meter über dem Boden in der Luft stehen. Oma Vettel streicht ihr sanft über den Stiel.
»Gut gemacht, Rosinante. Es war uns ein Vergnügen, mit dir zu reisen!«
Erst als die beiden abgestiegen sind, legt sich Rosinante ebenfalls erschöpft hin. Oma Vettel hebt sie auf und sieht sich zufrieden um.
»Wie ich sehe, sind die Bewohner während meiner Abwesenheit sehr fleißig gewesen! Das Haus hat sich heute aber besonders prächtig herausgeputzt! Ich hoffe, ich finde noch irgendetwas wieder«, schimpft die alte Dame los und begutachtet argwöhnisch das Gebäude.
Sie nimmt ihre Enkelin, die sich fasziniert umsieht, vorsichtig an die Hand.
»Und, kannst du dich wieder erinnern, mein Liebes?«, fragt sie besorgt.
J.J. läuft ein Stück über das Grundstück und sieht sich um.
Sie erkennt die endlose Einfahrt wieder, mit der sie sich als kleines Kind so manchen Spaß mit neugierigen Kindern aus dem Dorf gemacht hatte. Seltsame Blumen mit exotischen Blüten, die einen wunderschönen Vanilleeisduft ausströmen, winken ihr fröhlich zu. Die sind J.J. auch nicht sonderlich fremd, da sie etliche davon in ihren Träumen sah. Die Kauribäume, die sich schützend um das Haus reihen, stehen immer noch saftig grün an derselben Stelle wie damals. Die Rosenbäume mit den seltsamen Früchten, die man das ganze Jahr ernten kann, sind jedoch prachtvoller als in ihrer Erinnerung.
Als sie einen Schatten neben sich wahrnimmt, staunt sie nicht schlecht. Der Schmetterling, der Oma Vettels Hut krönte, erhebt sich nun sacht in die Luft und fliegt nah an ihr Gesicht. Er schwirrt einige Sekunden vor ihren Augen, als wolle er sie begrüßen, und fliegt dann zu einem Baum mit wundersamen Pastellblüten, die sich plötzlich in die Höhe erheben. Nun erkennt J.J., dass es keine Blüten, sondern unzählige Schmetterlinge sind, die nach vorn schwirren und sich zu einem großen, blinkenden Herz formieren. Sie halten kurz inne und verschwinden schließlich wieder im Baum.
»Ja, das ist Igor! Er hat es sich nicht nehmen lassen, mich zu begleiten«, sagt Vettel stolz.
J.J. ist verzückt, möchte nun aber endlich in das seltsame Haus hinein. Mit pochendem Herz und ihrer Großmutter an der Hand geht sie auf das prächtige Gebäude zu.
»Das ist also meine Vergangenheit.«
Auf der schneeweißen Veranda begrüßen sie blinkende Luftballongirlanden, die zusammen den Satz »Herzlich Willkommen, liebe Jezabel« bilden.
Sie ist gerührt und gleichzeitig wehmütig. Die Erinnerungen an den letzten Tag in diesem Haus, ihrem sechsten Geburtstag, kommen allmählich zurück und damit die Frage, warum sie es Hals über Kopf verlassen musste.
»Warum musste ich weg von diesem wunderschönen Ort? Und warum durfte ich mich in den vergangenen Jahren an nichts erinnern?«
Sie wendet sich zu ihrer Großmutter, die erahnt, was in J.J. vorgeht.
»Ich sah damals keinen anderen Ausweg. Auf jeden Fall keinen, der verhindert hätte, dass du nach Xestha gehen musst. Ich hätte dich also so oder so gehen lassen müssen. Damals hoffte ich, es sei in deinem Sinne, wenn ich dir ein normales Leben schenke. Ich war verzweifelt, da ich fürchtete, dich niemals wiederzusehen. Das war mein größter Schmerz in den letzten Jahren. Aber die Umstände haben sich geändert und nun muss ich erneut handeln. Das möchte ich dir jedoch später alles in Ruhe erklären. Ich denke, wir sollten jetzt hineingehen. Dort warten ein paar alte Freunde schon ungeduldig auf dich!«
Mit feierlicher Miene schreiten sie gemeinsam die Stufen der Veranda hinauf, während J.J. immer noch von dem Anwesen überwältigt ist.
Vettels Haus hat eine schneeweiße Holzfassade und erinnert an eines der wunderschönen Siedlungshäuser, mit deren prachtvoll verzierten Veranden. Nur, dass dieses hier unglaublich hoch zu sein scheint. J.J. starrt hinauf und versucht die Etagen zu zählen, kommt jedoch nur bis zum vierten Stock, da der Rest im blendenden Sonneschein verschwindet.
»Ja, heute gibt es ein bisschen an. Aber wir mussten in den letzten Jahren auch anbauen, da es inzwischen ein paar Bewohner mehr geworden sind. Komm, wir sehen uns mal an, was sich im Inneren getan hat«, rät Oma Vettel und winkt sie ungeduldig zu sich.
J.J. geht die letzten Stufen langsam hinauf.
»Die fünfte Stufe knarrt immer noch, wenn man auf sie tritt. Es gibt also Dinge, die selbst ein Zauberhaus nicht in den Griff bekommt.«
Neben ihr zerplatzt ein Luftballon und lässt Bonbons auf sie regnen. Oma Vettel hebt eine Handvoll auf und reicht sie ihr.
»Sahnetoffee. Die mochtest du als Kind immer am allerliebsten.«
J.J. nimmt sie und steckt sie in ihre Hosentasche. So wie früher. Dann dreht sie sich zur Haustür und holt tief Luft. Ihre Großmutter eilt voraus und hält sie ihr lächelnd auf.
Nervös tritt J.J. in den Flur.
Das Erste, was sie wahrnimmt, ist ein vertrauter Geruch. Eine Mischung aus Vanille, Lavendel, Rosenblüten und Salbei. Er ist nicht aufdringlich intensiv, sondern sehr angenehm. J.J. geht vorsichtig durch die große, helle Diele und sieht sich zaghaft um. Vor ihr liegt eine breite Treppe mit großen Stufen, die in die oberen Etagen führt. Das prachtvolle Holzgeländer erinnert sie an die alten Gutshäuser in den Immobilienkatalogen von Selenas Vater. An der Wand hängen alte Porträts und viele Fotos. Links und rechts von ihr befinden sich kleinere Flure, die in die unteren Räume führen.
J.J. geht nach links und lauscht. Nach einer Weile geht sie schnurstracks auf eine große Tür zu, hinter der, sofern ihre Erinnerung sie nicht täuscht, sich der große Esssalon befindet, in dem früher die großen Feierlichkeiten stattfanden. J.J. stockt und dreht sich zu ihrer Großmutter, die hinter ihr steht und inzwischen ihren Hut abgenommen hat. Sie erkennt das vertraute, weiße Haar und die Strähne hinter dem linken Ohr, die abwechselnd rosa und grün blinkt. Das hat sie schon auf dem Flug amüsiert, doch da hat sie noch signalrot geblinkt. J.J. bemerkt, dass ihre Großmutter weint. Die legt ihren Hut auf die Ablage und kommt feierlich auf sie zu.
»Willkommen zu Hause, meine kleine Jezabel!«
J.J. entgeht nicht die zittrige Stimme, in der sie Verzweiflung, Hoffnung und Freude zugleich hören kann. Sie nimmt ihre Großmutter fest in den Arm und dann schreiten sie gemeinsam in den Esssalon, in dem J.J. vor acht Jahren ihren letzten Geburtstag in diesem Haus feierte.