Читать книгу Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel - M.E. Lee Jonas - Страница 7

Kapitel 3 Der Gedankenstein kehrt zurück

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Sie hat große Mühe zu sprechen. Ihr Kiefer verkrampft sich derart vor Wut, dass sie die Zähne nicht auseinanderbekommt. Am anderen Ende des Apparats seufzt die Direktorin, ohne auf J.J.s Zynismus einzugehen.

»Hallo J.J. Entschuldige bitte, dass ich an deinem freien Abend anrufe. Aber hier ist soeben ein Paket für dich abgegeben worden. Ich dachte mir, dass du es vielleicht gleich abholen möchtest«, beginnt sie aufgeregt zu sprechen.

J.J. überlegt einen Moment und schüttelt fragend den Kopf.

»Ein Paket für mich? Von wem denn?«, fragt sie verwirrt.

Plötzlich ist sie ganz sicher, dass nun etwas sehr Ungewöhnliches passieren wird. Die Sekunden, bis die Direktorin antwortet, sind deshalb unerträglich. Vor Aufregung knabbert sie an ihren Fingernägeln, was sie seit Jahren nicht mehr getan hat. Als sie gerade den Mittelfinger zum Mund führt, erlöst Mrs. Rogan sie endlich.

»Das kann ich dir nicht sagen, Liebes. Es ist keine Absenderadresse angegeben. Am besten kommst du gleich hierher und holst es ab. Dann weißt du, von wem es ist.«

J.J. legt auf, ohne sich zu verabschieden, und geht verstört ins Zimmer zurück.

In der Tür bleibt sie stehen und überlegt.

»Zoé, da ist ein Paket für mich abgegeben worden. Ich soll es gleich bei Mrs. Rogan abholen. Würdest du mitkommen?«, fragt sie mit zittriger Stimme.

Zoé springt von ihrem Stuhl und jauchzt.

»Ein Paket? Jetzt? Wie aufregend! Na komm, wir holen es sofort ab.«

Ohne auf ihre Freundin zu warten, rennt Zoé in Richtung des Schulgebäudes. J.J. braucht einen Moment, um sich zu berappen, und hastet hinter Zoé her. Völlig aus der Puste erreichen sie schließlich das Büro der Direktorin. Zoé grinst verschmitzt und klopft zaghaft, an die nur angelehnte Tür, an.

Als sie den Vorraum von Mrs. Rogans Büro betreten, bleiben sie erstaunt stehen. In der Mitte des Raums steht ein großer Karton, der in braunes, grobes und teilweise eingerissenes Packpapier eingeschlagen ist. Zusätzlich wurde er noch mit einem Strick verschnürt, was ihn sehr altertümlich wirken lässt. J.J. geht langsam auf das seltsame Paket zu und versucht den Absender zu finden. Aber es steht tatsächlich nichts darauf.

»Es sieht aus, als wäre es schon vor Jahren von einer Postkutsche gefallen.«

»Wer hat das für mich abgegeben?«, fragt sie misstrauisch, da sie befürchtet, dass es sich um eine Verwechslung handele. Die Direktorin holt einen Brief von ihrem Schreibtisch und überreicht ihn ihr.

»Als ich vom Abendessen zurückkam, stand das vor meiner Tür und dieser Brief lag oben drauf.«

J.J. reißt den Brief an sich und dreht ihn um. Aber auch hier findet sie keinen Absender. Auf dem Umschlag steht lediglich:

Bitte diesen Brief und das Paket an Josie Jezabel Smith aushändigen. Persönlich!

»Das wird ja immer unheimlicher. Ich habe keine Ahnung, wer mir schreiben sollte. Alle Menschen, die ich kenne, befinden sich auf diesem Campus.«

Fragend sieht sie zur Direktorin.

»Ich finde das seltsam. Ich habe noch nie Post, geschweige denn ein Paket bekommen!«, sagt sie irritiert.

Zoé, die die gesamte Zeit in der Tür gewartet hat, dauert das alles viel zu lange. Sie geht schnurstracks zum Paket und versucht es anzuheben. Wie ein Gewichtheber zieht sie, bis sie vor Anstrengung einen puterroten Kopf hat.

»Vielleicht ist das ja ein Scherz. Das Ding wiegt bestimmt zwei Zentner!«, japst sie, bevor sie erneut daran zerrt, jedoch das Paket lediglich ein paar Zentimeter in die Höhe hieven kann. J.J. steckt den Brief in ihre Hosentasche und fasst mit beiden Händen unter den Paketboden. Als sie es mit einem kräftigen Ruck nach oben zieht, verliert sie das Gleichgewicht und stolpert rückwärts.

»Sehr witzig, Zoé! Das Paket ist total leicht. Na ja, danke, Mrs. Rogan, dass Sie mich angerufen haben.«

Die Direktorin lächelt und hält ihnen die Tür auf.

»Vielleicht lässt du mich ja wissen, was sich darin verborgen hat. Natürlich nur, wenn es kein Geheimnis ist!«, ruft sie J.J. hinterher, die nur schnell zurücknickt.

Sie ist viel zu gespannt, was sich darin befinden könnte, als das sie auch nur noch eine weitere Minute mit Small Talk verschwenden will. Zoé läuft aufgeregt neben ihr her und spekuliert ohne Pause, welchen Schatz sie gleich entdecken werden. Als sie in ihrem Zimmer ankommen, stellt es J.J. mitten in den Raum und geht ein Stück zurück. Immer wieder umkreist sie das seltsame Paket, während Zoé wie Rumpelstilzchen von einem Bein auf das andere springt und sie ununterbrochen anspornt, es endlich zu öffnen. Aber J.J. ist zu angespannt. Sie steht nur stocksteif da und starrt auf das mysteriöse Objekt.

Zoé rauft sich die Haare.

»Bist du denn gar nicht neugierig? Also ich platze gleich! Komm schon, mach es endlich auf!«, fordert sie ungeduldig.

J.J. lässt das Jammern ihrer Freundin kalt.

»Es ist und bleibt merkwürdig! Ich habe noch nie einen Brief bekommen und gerade jetzt, wo mir ständig diese Dinge passieren, bekomme ich auch noch ein sonderbares Paket. Es ist sehr altertümlich und schäbig verpackt. Und zusätzlich mit einem Strick verschnürt, was heutzutage niemand mehr tut! Ich bin gespannt, was darin ist! Gleichzeitig habe ich aber auch Angst! Vielleicht ist es doch nur ein Scherz von Britany. Ein stinkender Hundehaufen oder Ähnliches. Aber das hätte sie doch niemals vor die Tür der Direktorin gestellt!«, kombiniert sie in Gedanken.

Nun reißt Zoé endgültig der Geduldsfaden.

»Hallo! Erde an J.J. Biiiiiiiiittttte, mach dieses Paket jetzt auf!«, bettelt sie, während sie wie eine Besessene im Kreis herumhopst und vor Anspannung Gift und Galle spuckt.

J.J. begutachtet es aber nur weiterhin kritisch und schüttelt stur den Kopf.

»Findest du es nicht seltsam? Was ist, wenn sich etwas Ekliges oder Gruseliges darin befindet? Immerhin kenne ich niemanden, der mir etwas schicken könnte«, erwidert sie leise.

Zoé stoppt mit dem fröhlichen Herumgehopse, da sie bemerkt, dass J.J. wirklich sehr angespannt ist. Sie presst die Lippen zusammen und stellt sich still neben J.J., die sich nun vor das Paket setzt. Dabei knistert der Brief in ihrer Hosentasche. Sie mustert ihn sorgfältig und stellt fest, dass die Schrift ebenso altertümlich wirkt. Nach kurzer Bedenkzeit nimmt sie allen Mut zusammen und reißt den Umschlag mit einem Ruck auf. Mit zittrigen Händen liest sie.

Meine liebe Jezabel!

Ich weiß, dass du dich nicht mehr an mich erinnern kannst. Aber ich bin deine Großmutter Ophelia. Du hast mich jedoch immer nur Großmutter oder Oma Vettel genannt.

Vor acht Jahren haben wir dieses Paket schon einmal gemeinsam geöffnet.

Das war an deinem sechsten Geburtstag.

Bevor du jetzt zweifelst und den Brief zur Seite legst, möchte ich dich bitten, ihn zu Ende zu lesen. Das ist sehr wichtig!

Ich weiß, dass du dich weder an diesen Geburtstag noch an irgendetwas vor dem Internat erinnerst. Aber ich kann dir das alles noch nicht erklären. Ich habe dich damals weggeschickt, um dich zu schützen. Nun bist du erneut in Gefahr!

Ich möchte deshalb, dass du diese Weihnachtsferien zu Hause bei mir in Havelock verbringst, damit ich dir alles in Ruhe erklären kann.

Bitte vertrau mir!

Ich hole dich am Freitag nach der Abschlussfeier ab.

Ich umarme Dich, kleine Jezabel.

Deine Oma Vettel

PS: Öffne das Paket und erinnere dich!

J.J. liest sich den Brief wieder und wieder durch. In ihrem Kopf ist alles vollkommen durcheinander. Sie versucht krampfhaft, sich an die Zeit vor dem Internat zu erinnern, aber es gelingt ihr nicht. Ein paar Eindrücke, Gefühle, Wörter und Gerüche holen sie kurz ein, zerplatzen jedoch wie zarte Seifenblasen, sobald sie sich darauf konzentriert. Entsetzt dreht sie sich zu Zoé.

»Ich habe eine Großmutter!«, ist das Einzige, was sie sagt.

Dann holt sie eine Schere und versucht den Strick, der das Paket zusammenzurrt, durchzuschneiden. Es dauert eine Weile, bis er endlich nachgibt und sich lösen lässt. Zoé sitzt daneben und hält vor lauter Spannung den Atem an. Als J.J. das braune Papier abgerissen und den Karton geöffnet hat, starren beide auf eine alte Holzkiste.

Diese sieht wertvoll aus und ist mit einem schweren Riegel verschlossen. So als würde sie einen kostbaren Schatz bewahren. Einen Augenblick ist J.J. sicher, dass sie den Inhalt kennt, bis der flüchtige Gedanke wie eine Seifenblase zerplatzt. Ein kalter Schauer zieht ihr über den Nacken. Sie schiebt den Riegel zur Seite und öffnet erwartungsvoll den Kistendeckel. Vorsichtig lugt sie hinein und klappt den Deckel mit einem Ruck zurück. Sichtlich enttäuscht steht sie auf.

Zoé, die gespannt danebensitzt, sieht sie verwirrt an. Nun gibt es für sie kein Halten mehr und sie starrt eine Weile fassungslos in die Kiste.

»Ein Stein? Wer schickt dir denn einen Stein? Kein Wunder, dass das Paket so schwer war!«

J.J. stellt sich neben sie und zuckt ahnungslos mit den Schultern. Zoé hievt den Stein heraus, was ihr einiges an Mühe abverlangt, da er trotz seiner unscheinbaren Größe recht schwer ist. Übermütig wirft sie ihn zu J.J., deren Hände reflexartig nach vorn schnellen und ihn mühelos auffangen. Da passiert das Unfassbare.

In dem Moment, als sie den Stein berührt, befindet sie sich nicht mehr in ihrem Zimmer, sondern in dem seltsamen Garten aus ihrem Traum. Geschockt sieht sie sich um.

»Was? Was ist hier los? Wo bin ich? Zoé?«, flüstert sie ängstlich und versucht wegzulaufen. Aber ihre Beine bewegen sich nicht und auch der Rest des Körpers scheint sich nicht aus der Angststarre lösen zu wollen. Nur ihre Knie sinken leicht nach vorn, sodass sie Mühe hat, die Balance zu halten. Entsetzt starrt sie auf den Stein und schmeißt ihn panisch zu Boden. Sie startet einen erneuten Versuch und rennt los. Doch da steht sie bereits wieder in ihrem Zimmer! Fassungslos versucht sie zu begreifen, was hier vor sich geht. In ihrem Kopf beginnt sich alles zu drehen und sie hat plötzlich Schwierigkeiten zu atmen. Da hört sie ein leises Schluchzen. Erschrocken sieht sie zu Zoé, die am Boden kauert und vor Schmerzen wimmert.

»Zoé!? Was ist denn passiert?«, fragt sie verstört und versucht ihrer Freundin aufzuhelfen. Aber die drückt sie grob zur Seite und blitzt sie mit verweinten Augen an.

»Du hast mir gerade den Stein auf die Füße geworfen. Ich glaube, ich habe mir den kleinen Zeh gebrochen«, antwortet sie mit tränenerstickter Stimme, während sie ihre Hand fest auf den Fuß presst.

J.J. wir übel. Sie versteht überhaupt nichts.

»Was passiert hier? Hatte ich etwa einen Blackout? Träume ich schon wieder?«

»Oh Zoé, das habe ich nicht gewollt! Der Stein ist mir aus Versehen heruntergefallen. Na ja, nicht ganz aus Versehen. Aber ich war wieder in diesem Garten und habe dich gerufen. Der Stein wurde plötzlich heiß und ich bekam Angst. Da habe ich ihn einfach auf den Boden geschmissen. Ich hatte doch keine Ahnung! Komm Zoé, wir müssen zu Dr. Sheldon gehen.«, stammelt sie bestürzt los.

Zoé starrt sie entsetzt an und rückt ein gutes Stück von ihr weg.

»Lass mich sofort los! Ich schaffe das schon alleine. Geh weg! Du machst mir langsam Angst! Was ist nur mit dir los? Ist das ein Trick? Ein Schauspiel? Dein Gesicht hat sich seltsam verändert, als du den Stein aufgefangen hast. Und dann hast du dich gedreht. Ich dachte erst, dass es ein Spaß sein soll. Aber du wurdest immer schneller. Es war einfach nur beängstigend. Es sah aus wie in einem Horrorfilm. Und zur Krönung wirfst du mir diesen Felsbrocken auf die Füße. Schöne Freundin!«, schimpft sie mit tränenerstickter Stimme los.

J.J. steht wie angewurzelt da und sieht ihre Freundin betroffen an. Das, was Zoé da erzählt, ergibt für sie keinen Sinn. Sie schließt kurz die Augen und versucht sich zu beruhigen.

»Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt für eine Ohnmacht! Ich komme nämlich gerade überhaupt nicht klar! Dachte ich in den letzten Wochen, dass die Dinge nicht schlimmer werden könnten, habe ich nun den endgültigen Beweis, dass sehr wohl Steigerungen möglich sind!«

J.J. tritt einen Schritt zurück und versucht ihre Gedanken zu ordnen. Da fällt ihr der Brief ihrer Großmutter wieder ein. Sie überreicht ihn Zoé, die ihn ihr trotzig aus der Hand reißt. Nachdem diese ihn gelesen hat, gibt sie ihn zurück und humpelt zu ihrem Bett.

»Das ist ja schlimmer als in einem Krimi! Erst die verrückten Sachen, die dir ständig passieren. Die Albträume und jetzt noch ein komisches Paket mit diesem dummen Stein von deiner unbekannten Großmutter. Was kommt als Nächstes? Eine Kürbiskutsche?

Ich wusste gar nicht, dass du so einen wunderschönen Namen hast. Du hast mir erzählt, dass du Josie heißt. Aber Jezabel? Warum hast du ihn nie erwähnt?«, fragt sie vorwurfsvoll.

J.J. setzt sich und senkt ratlos den Kopf.

»Erstens hast du nie danach gefragt und zweitens hasse ich diesen Namen! Ich meine, kennst du irgendjemanden auf dieser Welt, der Jezabel heißt? Ich habe mich immer gefragt, woher dieser Name stammt, konnte aber nichts herausfinden.«

Zoé bemerkt, dass J.J. dieses Thema wirklich belastet, und schämt sich fast ein bisschen für ihre forsche Art. Die Freundinnen sitzen einige Minuten stumm da und starren auf die Holzkiste. J.J. löst sich aus ihren Gedanken und nimmt ihre Freundin in den Arm.

»Komm, Zoé. Ich bringe dich zum Arzt. Er soll sich deinen Fuß ansehen. Ich hoffe, dass wirklich alles in Ordnung ist.«

Zoé winkt gelassen ab und humpelt zum Kühlschrank.

»Keine Zeit! Ich packe jetzt einen großen Eisbeutel drauf, dann geht das schon wieder. Also, mal abgesehen von der Tatsache, dass du überhaupt nichts über diese Dame weißt. Warum schickt sie dir einen Stein? Und warum kannst du dich überhaupt nicht mehr an sie erinnern? Vielleicht ist sie eine Verrückte oder so was!«

J.J. sieht zu, wie sich Zoé einen Eisbeutel auf den Fuß packt und ihn mit einer dicken Socke fixiert.

»Ich habe keine Ahnung. Als ich den Stein gefangen habe, da war ... Also, ich war nicht mehr ... Also, was ich sagen will. Ich war an einem anderen Ort!«, platzt es aus ihr heraus.

Zoé hält inne und starrt sie stutzig an.

»Was heißt das?«

J.J. zuckt mit den Schultern und überlegt, wie sie ihrer Freundin am besten erklärt, was passiert ist.

»Als ich den Stein gefangen habe, war ich plötzlich in einem seltsamen Garten. Ich habe nach dir gerufen. Aber außer mir war niemand dort. Ich bekam große Angst und habe ihn weggeworfen. Was soll ich sagen? Schwups, bin ich wieder hier und dieses blöde Ding liegt auf deinem Fuß!«

Zoé betrachtet zufrieden ihren selbst kreierten Eisfuß und humpelt zum Stein. Zuerst berührt sie ihn nur vorsichtig mit dem Zeigefinger. Als sich nichts Besonderes tut, packt sie ihn mit beiden Händen und betrachtet ihn. Die Tatsache, dass J.J. ihn so mühelos auffangen konnte, macht sie stutzig. Der Stein wiegt schon einiges. Jedenfalls für Zoé. Verwundert schüttelt die den Kopf und zieht die Augenbrauen streng nach oben. So wie immer, wenn sie nachdenkt.

»Es ist schon erstaunlich, dass du ihn so spielend auffangen kannst. Das Ding ist doch total schwer! Vielleicht ein besonders dichtes Material? Aber heiß ist er nicht, und wie du siehst, bin ich auch noch hier«, stellt sie verunsichert fest.

J.J. kommt dazu und betrachtet misstrauisch den Stein, der friedlich in Zoés Hand ruht.

»Nein! Ich habe mir das nicht eingebildet! Ich war dort! Von diesen komischen Drehungen habe ich allerdings nichts mitbekommen. Ich war sofort in diesem Garten. Aber wie soll ich das Zoé beweisen? Dieser Stein zeigt keinerlei sonderliche Wirkung bei ihr.«

Plötzlich kommt ihr eine Idee. Es gefällt ihr nicht, dass ihre beste Freundin sie für verrückt hält, also möchte sie etwas ausprobieren.

»Setz dich auf dein Bett. Egal, was passiert, du rührst dich nicht von der Stelle! Du bleibst dort sitzen! Verstanden?«

Zoé sieht ihre Freundin verwirrt an und bleibt trotzig stehen.

»Was soll das? J.J., es ist ein Steeeiiiin«, brüllt sie halb verzweifelt, halb genervt.

Aber J.J. lässt sich nicht beirren. Sie packt ihre Freundin an der Hand und zieht sie zu ihrem Bett.

»Bleib hier sitzen!«, sagt sie in einem deutlichen Befehlston und drückt Zoé aufs Bett. Sie schleicht zurück und hebt nach kurzer Überlegung den Stein mit einem Ruck hoch. Ein triumphierendes Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus, was Zoé leider nicht sehen kann. Denn wie beim ersten Mal findet sie sich augenblicklich in diesem myteriösen Garten wieder. Sie hält den Stein fest in der Hand und holt Luft. Erleichtert stellt sie fest, dass ihre Beine dieses Mal gehorchen, und geht ein Stück weiter. Neugierig sieht sie sich um, während der betörende Duft aus ihren Träumen sie umgarnt. J.J. schließt die Augen und atmet ihn tief ein.

»Vielleicht ist das so etwas wie ein Traumfänger.«

Unsicher geht sie zu dem Baum mit den köstlichen Früchten und jubelt erleichtert.

»Ja! Ich bin definitiv nicht verrückt! Dort müsste jetzt die Blütenschaukel hängen«, erinnert sie sich und geht entschlossen weiter. Ungläubig schüttelt sie den Kopf.

»Das halt ich nicht aus! Was geht denn hier ab?«, flüstert sie fassungslos und schaut sich um.

»Es ist alles da. Die Bäume, die riesigen Blumen, der Duft und …«

Sie stockt und sieht panisch nach oben.

»Puh! Der hässliche Vogel hat heute Gott sei Dank frei«, stellt sie erleichtert fest.

Behutsam setzt sie sich auf die Schaukel und legt den Stein vor ihren Füßen ab. In diesem Moment ist sie auch schon wieder in ihrem Zimmer. Da die Schaukel dort jedoch nicht existiert, fällt sie unsanft nach hinten und schreit auf. Genervt sieht sie auf den Stein, der vor ihr liegt und dann zu Zoé, die immer noch auf dem Bett sitzt und mit offenem Mund zu ihr starrt.

»Was ist passiert?«, fragt J.J. gespannt.

Zoé schüttelt sich, als wolle sie einen schlechten Gedanken loswerden, und presst sich ängstlich an die Wand.

»Ich habe keine Ahnung! Du hast dich wieder gedreht. Erst langsam, dann schneller und zum Schluss bist du in einem schwarzen Wirbel verschwunden. Plötzlich warst du wieder hier und bist nach hinten umgefallen. Ist das so etwas wie schwarze Magie?«, fragt sie J.J., die darüber herzhaft lachen muss.

»Wir sind doch nicht im Kino!«, antwortet sie leicht abfällig und bemerkt, dass Zoé trotzdem noch ein weiteres Stück von ihr wegrutscht.

»Aber das war nicht normal! Wirklich nicht! Was hast du denn gesehen?«, stammelt sie, ohne ihre Lippen zu bewegen, mit angsterfüllter Miene.

J.J. steht auf und betrachtet den Stein aus sicherer Entfernung.

»Es ist doch nur ein schwarzer, runder Stein, der unten abgeflacht ist, damit er nicht wegrollt, wenn ich ihn hinlege. Er schimmert seltsam, sobald ich ihn berühre, und wird warm, je länger ich ihn halte. Aber schwer ist er nicht. Vielleicht ist es ja gar kein Stein?«

»Also, was hast du gesehen, J.J.?«, fragt Zoé nun deutlicher.

J.J. setzt sich zu ihr und lässt den Stein nicht aus den Augen.

»Ich war wieder in dem Garten. Ich kenne ihn, denn ich habe schon oft von diesem Ort geträumt. Ich kann dort alles berühren und es duftet betörend, wie Sommer und Frühling zusammen. Ich kann es nicht anders erklären, aber ich fühle mich dort irgendwie zu Hause. Vielleicht ist das so etwas wie ein Traumfänger? Was denkst du?«

Zoé dreht sich entsetzt zu ihr um.

»Was ich denke? Ich denke, dass ich nicht mehr mitkomme! Ich habe nichts Außergewöhnliches bemerkt, als ich ihn angefasst habe! Ich hatte Mühe, ihn von meinem Fuß zu ziehen. Ich kann ihn ja nicht einmal richtig anheben. Das ist ganz schön unheimlich, meine liebe Jezabel!«

J.J. sieht ihre Freundin brüskiert an und schluckt. Doch dann müssen beide gleichzeitig laut loslachen.

»Und was machen wir jetzt mit ihm?«, fragt Zoé.

J.J. zuckt ratlos mit den Schultern.

»Ich habe keine Ahnung! Versprich mir aber, dass du erst mal mit niemandem darüber redest!«

Zoé macht ein Schwurzeichen, indem sie den Zeigefinger und Mittelfinger ihrer rechten Hand küsst und auf ihr Herz drückt. J.J. geht zu dem Stein und stülpt die Holzkiste verkehrt herum darüber.

»Ich mache mir Sorgen wegen dieser Großmutter, Zoé. Ich kann mich nicht an sie erinnern oder wie sie aussieht. Was ist, wenn ich sie nicht mag oder wenn sie mich nicht mag? Ich kann doch nicht fünf Wochen zu jemandem in die Ferien fahren, den ich überhaupt nicht kenne. Welchen Grund gibt es, dass sie gerade jetzt auftaucht? Weißt du was? Ich werde sie mir ansehen und genau ein Wochenende aus reiner Höflichkeit bleiben! Aber die Feiertage verbringe ich hier, bei Menschen, die ich kenne!«

Zoé humpelt zu ihrer Freundin und nimmt sie in den Arm.

»Gib ihr eine Chance! Vielleicht ist sie ja ganz nett. Dann hast du wenigstens ein bisschen Familie. Nur sie kann dir erzählen, was mit deinen Eltern passiert ist. Nimm es als einmalige Gelegenheit! Ich hole dich von überall ab. Auch von Havelock!«

Plötzlich muss J.J. weinen. Zu viele unangenehme Gefühle bedrängen sie. Trauer, Wut, Heimweh, Freude und Verzweiflung.

»Denk daran, was Pippa immer sagt: Die Welt ist ein magischer Ort und wir sind ihre Feen! Vielleicht findest du etwas sehr Wertvolles wieder. Ich will dann natürlich alles wissen! Wehe, du schreibst mir nicht jeden Tag! Komm, wir gehen hinunter zu Pippa. Sie hat bestimmt einen guten Film und ein paar Chips für uns übrig. Du musst ihr sowieso erzählen, dass du in den Ferien nicht bei ihr bist.«

J.J. patscht sich an die Stirn.

»Richtig, Pippa! Die habe ich ja ganz vergessen. Sie wird sich die alte Dame bestimmt sehr genau ansehen wollen. Wenn ihr auch nur ein Haar nicht passt, lässt sie mich sowieso nicht mitfahren. Du hast recht! Gehen wir hinunter. Sie muss sich deinen Fuß mal ansehen.«

Zoé steht auf und dreht sich auf der Ferse im Kreis.

»Alles gut! Ich kann ja auf der Hacke laufen und außerdem tut er fast nicht mehr weh!«

Die Freundinnen nehmen ihre Lieblingsdecken und machen sich auf den Weg in die untere Etage. Dort lebt Pippa mit ihrer Familie in der Hausmeisterwohnung, die über fünf große Zimmer, eine Küche und zwei Bäder verfügt. Die Schüler treffen sich dort oft zu gemütlichen Fernsehabenden oder zum Karten spielen. J.J. drückt auf den Klingelknopf und wartet. Als Pippa ihr die Tür öffnet, will sie ihr wie immer in die Arme springen, aber sie hält inne, als sie bemerkt, dass das Hausmädchen dicke, rot verweinte Augen hat.

Pippa strengt sich an, ein natürlich wirkendes Lächeln aufzusetzen, was ihr jedoch nicht gelingt. Sie geht zu J.J. und drückt sie fest an sich. Und weil es ihre Art ist, alle Kinder gleich zu halten, nimmt sie Zoé mit dazu.

»Schön euch zu sehen. Aber kommt doch erstmal herein.«

Zoé, von der gerade noch die Augen über Pippas Oberarme ragen, nuschelt:

»Wenn du uns loslässt, wäre das unser Plan gewesen!«

Pippa lacht auf und entschuldigt sich.

»Tut mir leid. Ich habe heute einen schwachen Tag. Nun kommt doch endlich herein!«

Pippas Reich ist das gemütlichste Heim, das J.J. kennt. Zuerst betreten sie die helle Diele, an deren Ende sich die große Küche befindet. Dort sitzen Cassidy und Frida, Pippas Töchter, am Tisch und schnippeln schlecht gelaunt frisches Gemüse. Als sie die beiden entdecken, nicken sie müde und zeigen mit den Köpfen auf die Stühle neben sich.

Die beiden sind zweieiige Zwillinge und gehen in die 7. Klasse. Außer ihren Eltern haben sie eigentlich nicht viele Gemeinsamkeiten. Cassidy ist groß, blond, schlank und kommt ganz nach ihrem Vater. Sie ist immer freundlich, aber sehr ruhig und hilft lieber im Garten als in der Küche. Frida dagegen ist klein, hat kräftige dunkle Haare und ist wie ihre Mutter etwas fülliger. Sie strahlt den ganzen Tag mit der Sonne um die Wette und hilft sehr gern bei den Hausarbeiten. Pippa betont immer, wie sehr Gott sie doch lieben muss. Sie brauchte nur einmal schwanger zu sein und hat gleich zwei wunderbare Kinder zur Welt gebracht, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Dann drückt sie ihren Töchtern immer einen dicken Schmatzer auf die Stirn.

Außer ihnen lebt hier noch Backboard, der kleine Dackel. Er ist mittlerweile schon ein Senior und halbblind. Aber er ist der Campushund und alle Schüler lieben ihn. Schließlich gibt es da noch Fred, Pippas Ehemann, der gleichzeitig Hausmeister und Gärtner des Campus ist. Er ist das ganze Gegenteil von Pippa. Groß, schlank, blond und raucht für sein Leben gerne Zigarren. Mrs. Rogan schimpft immer wie ein Rohrspatz, wenn sie ihn dabei erwischt. Aber Fred ist ein fröhlicher Mensch und läuft stets pfeifend oder summend über den Hof. Jetzt sitzt er im Wohnzimmer und versucht einen großen Berg Weihnachtslichterketten zu entknoten. Zoé und J.J. winken ihm zu und gehen zurück in die Küche, wo Pippa gerade Limonade einschenkt.

»Kommt schon her. Wir kochen ein Gemüsechili und danach gibt es selbstgemachte Chips. Wenn ihr Lust habt, könnt ihr den beiden Mädchen helfen!«

Sie setzen sich und helfen Frida und Cassidy beim Gemüseschneiden. Frida fixiert J.J. eine Weile, bis es plötzlich aus ihr herausplatzt:

»Du verbringst die Ferien also nicht bei uns? Das ist wirklich schade. Wir haben uns schon so darauf gefreut!«

J.J. hält inne und sieht verwirrt in die Runde.

»Woher wisst ihr das? Ich habe den Brief doch erst vor einer Stunde bekommen!«

Sie legt ihr Messer beiseite und sieht zu Pippa, die mit ihren Augen gerade giftige Pfeile in Fridas Richtung sendet.

»Du bist ein altes Plappermaul, Frida! Ich habe euch gebeten, dass ihr mich das alleine machen lasst! Ihr seid echt unmöglich!«

»Ja, das stimmt! Wir sind eben ganz unsere Eltern«, antworten beide Töchter im Chor und lachen los.

J.J. ist nicht zum Lachen zumute. Sie steht auf und geht zu Pippa.

»Also, woher weißt du es?«, fragt sie trotzig.

Pippa eilt zum Küchenschrank und holt einen Brief aus der obersten Schublade. J.J. ist erstaunt, da er genauso aussieht wie der, den sie bekommen hat, nur dass dieser an ihre Ziehmutter gerichtet ist.

Sehr geehrte Frau Pippa.

Ich möchte Ihnen von ganzem Herzen danken, dass Sie sich in den letzten Jahren so aufopferungsvoll um meine Enkelin gekümmert haben! Mrs. Rogan hat mir berichtet, dass Sie ihr stets eine gute Freundin waren und sie behütet haben, als wäre sie Ihr eigenes Kind.

Ich möchte Ihnen versichern, dass ich das bis zum Ende meines Daseins nicht vergessen werde.

Ich kann nicht verlangen, dass Sie verstehen, warum ich mich erst jetzt melde.

Aber ich möchte Sie trotzdem um die Erlaubnis bitten, meine Enkelin diese Ferien zu mir holen zu dürfen. Wie mir Mrs. Rogan berichtete, hat Jezabel die Ferien sonst immer mit Ihrer Familie verbracht und auch die kommenden Feiertage haben Sie wohl mit ihrer Anwesenheit gerechnet.

Deshalb möchte ich mich für diese kurzfristige Entscheidung entschuldigen und hoffe, dass Sie mich eines Tages verstehen können.

Ich werde Jezabel am Freitag gegen Nachmittag abholen, und sofern sich meine Hoffnung erfüllt, wird sie die gesamten Ferien auf meinem Anwesen in Havelock verbringen.

Es grüßt Sie herzlichst

Ophelia V. P. U. Gräfin von Winterhardt

PS: Vielleicht könnten Sie mir einen Tipp geben, was meine Enkelin am liebsten mag.

J.J. faltet den Brief zusammen und drückt ihn Pippa genervt in die Hand. Die streicht ihn sorgfältig glatt und legt ihn zurück in die Schublade.

»Jezabel. So ein wunderschöner Name. Warum hast du ihn mir nie verraten?«, flüstert sie traurig, sodass J.J.sich plötzlich richtig mies fühlt. Bockig stellt sie sich in die Küche.

»Was soll das alles? Ich habe es schon Zoé erklärt. Ich hasse diesen Namen! Ich verstehe nicht, warum sie sich all die Jahre nicht bei mir gemeldet hat und jetzt verlangt, dass ich springe. Es sind Weihnachtsferien! Ich bleibe nur ein Wochenende und komme dann wieder zu euch zurück! Ich kenne sie doch gar nicht!«

Pippa stemmt empört die Hände in die Hüfte.

»J.J. Smith, das ist deine Großmutter! Ich denke, dass du dir erst einmal anhören solltest, was sie dir zu sagen hat! Danach kannst du sie immer noch verurteilen!«, erwidert sie entrüstet.

»Ich bin von Gott mit so viel Glück beschenkt worden. Ich wohne an diesem wundervollen Ort, habe diese wunderschöne Familie und lebe mit den begabtesten Kindern der Welt zusammen. All die Jahre habe ich gebetet, dass du auch ein wenig davon abbekommst. Ich liebe dich wie mein eigenes Kind, J.J. Aber ich kann dir die Antworten, die du brauchst, nicht geben! Die findest du nur dort draußen! Egal, ob morgen oder heute, wichtig ist nur, dass deine Großmutter dich wiedergefunden hat und du sie kennenlernen darfst. Ich bin nur traurig, weil es für mich das erste Mal ist, dass ich in den Ferien einen Teller weniger auf den Tisch stelle. Ich werde dich vermissen. Sehr sogar! Aber ich bin auch sehr glücklich, dass du ein Stück Normalität zurückbekommst!«, fährt sie besonnen fort.

Bei dem Wort »Normalität« muss J.J. schlucken.

»Wenn du wüsstest! In meinem Zimmer liegt ein Stein, mit dem ich in andere Welten reisen kann«, verunsichert sieht sie zu Zoé.

Die rettet die Situation, indem sie ihr Gesicht schmerzlich verzieht.

»Pippa, mir ist vorhin eine Vase auf den Fuß gefallen. Könntest du mal nachsehen, ob er noch zu retten ist?«, wirft sie laut in den Raum und streckt den Fuß mit dem großen Eisbeutel nach oben. Dabei verzieht sie das Gesicht ganz theatralisch. Das ist Pippas Stichwort! Seufzend eilt die Hausdame nach vorn und befiehlt Frida, sofort aufzustehen, damit Zoé den Fuß darauf legen kann. Sacht löst sie den selbst gebastelten Verband und begutachtet die Verletzung. Daraufhin holt sie eine grüne Flasche und saubere Tücher aus dem Medizinschrank.

»Wenn man nicht ständig auf euch aufpasst! Was war das denn für eine Vase, die dir den halben Fuß zertrümmert hat? Beweg doch mal bitte deine Zehen!«, ordnet sie an.

Zoé befolgt die Aufforderung und versucht sich zusammenzureißen, aber es tut höllisch weh.

»Gebrochen ist nichts! Aber die drei Zehen sind verstaucht. Der Nagel vom Kleinen wird sich verabschieden! Ich tupfe dir jetzt das Wunderheilmittel meiner Großmutter darauf und verbinde ihn. Schuhe sind den Rest der Woche verboten! Ab morgen sind Clogs modern! Nach der Schule gehst du aber bitte zur Schulschwester.«

Zoé unterdrückt einen Aufschrei, als Pippa ihr die verletzten Zehen verbindet. J.J. nutzt diese Gelegenheit und geht zum Herd. Sie wirft das kleingeschnittene Gemüse ins Chili und rührt beschäftigt die Zutaten in dem großen Topf um. Sie hat keine Lust mehr auf Erklärungen, da sie selbst nicht weiß, was hier vorgeht.

Als das Mahl vertilgt und das Geschirr weggeräumt ist, nehmen sich alle eine Schüssel Chips und setzen sich ins Wohnzimmer, wo es eine riesige gemütliche Couchlandschaft gibt, auf der sich manchmal über fünfzehn Schüler versammeln. Heute sind sie nur zu fünft. Fred hat inzwischen die Beleuchtung sortiert und bringt sie nach draußen, um sie aufzuhängen. Die Mädchen und Pippa legen sich auf die Couch und schauen zum einhundertsten Mal »Titanic«.

Ab und an wird J.J. wehmütig, wenn sie realisiert, dass sie das in den Ferien missen muss. An diesem Abend geht sie zufrieden ins Bett und hat auch keinen Albtraum.

Am nächsten Morgen hakt sie Zoé unter und geht mit ihr zum letzten Unterrichtstag. Morgen, am Freitag, ist die Abschlussfeier für die Abgänger und da gibt es nur Dankesreden, Catering und jede Menge Tränen. Unterwegs sammeln sie wie immer William und Felder ein. Letzterer löst J.J. ab und trägt Zoé huckepack. Heute albern eigentlich alle Schüler und Lehrer nur noch herum. Es herrscht eine ausgelassene und fröhliche Stimmung in der gesamten Schule. Alle haben Spaß und freuen sich auf den Urlaub bei ihren Familien.

Am Abend sitzen alle Campusbewohner noch einmal im Park zusammen und machen ein großes BBQ. Sie singen völlig alberne Lieder oder vertreiben sich die Zeit mit Scharade. Es ist schon spät, als die Letzten zu Bett gehen.

Zoé und J.J. sind schon ziemlich früh auf ihr Zimmer gegangen, weil sie noch ihre Koffer packen mussten.

»J.J., willst du nicht auch deine Sachen einpacken? Morgen wird es bestimmt stressig«, fragt Zoé, während sie sehr kreativ die letzten T-Shirts in ihren Koffer schmeißt.

J.J. sitzt auf der Fensterbank und lässt verträumt die Beine baumeln. Teilnahmslos starrt sie aus dem Fenster und denkt nach.

»Pippa will mir später helfen. Ich habe noch nie eine Tasche gepackt, um von hier wegzufahren. Auf jeden Fall nicht so lange. Ich warte erst mal ab. Vielleicht kommt ja gar keiner«, antwortet sie leise.

Zoé geht zu ihrem Schrank und holt ein T-Shirt heraus, um das sie eine große, pinkfarbene Schleife gebunden hat.

»Hier, das hat dir doch an mir immer so gut gefallen. Ich habe meine Mutter gebeten, mir noch eins davon zu schicken. Bitte nimm es mit und denk an mich, wenn du es trägst!«, sagt sie fast wehmütig.

J.J. springt überrascht von der Fensterbank und sieht gerührt auf das Geschenk.

»Das ist total genial! Ich werde es jeden Tag anziehen! Oh danke, Zoé. Ich werde dich so vermissen. Aber ich habe gar nichts für dich. Oder warte. Hier, nimm mein Armband. Dann hast du auch etwas, das dich an mich erinnert.«

Die Freundinnen umarmen sich und zurren gemeinsam Zoé’s überquellenden Koffer zusammen. Als Pippa dazustößt, um J.J.s Sachen zu ordnen, sträubt sie sich demonstrativ, die ganzen Ferien wegzufahren. Wenn das Hausmädchen also fünf Pullover herauslegt, legt J.J. zwei in den Schrank zurück. Am Ende hat sie gegen Pippas Argumente jedoch keine Chance. Wehrlos ergibt sie sich dem Schicksal und packt ihre gesamte Sommerkleidung in die Taschen. Als sie anschließend ihr Zimmer aufgeräumt haben, ziehen sich die Mädchen um und legen sich schlaflos ins Bett.

»J.J., wie willst du das mit dem Stein eigentlich machen?«, fragt Zoé plötzlich.

J.J. starrt in die Dunkelheit und denkt konzentriert nach. Sie knipst ihr Licht an und schlägt die Bettdecke zurück. Dann schleicht sie zur Kiste, die sie heute Nachmittag mit Zoés Cello getarnt haben, und umkreist sie. Sie geht rechts herum und links herum, dann zurück und wieder nach vorne. Sie stemmt die Hände in die Hüften, kratzt sich am Kopf, sieht ratlos zu Zoé, geht zum Fenster und öffnet es. Sie setzt sich auf das Bett, legt sich hin, steht wieder auf und geht wieder zur Kiste. Zoé macht das ganz wuschig. Sie steht auf und stellt sich neben J.J.

»Okay. Ich weiß nicht, was das ist. Aber angeblich kannst du mit diesem Stein irgendwohin reisen. Ich werde dieses Ding bestimmt nicht noch einmal anfassen! Aber hier kann er auch nicht liegen bleiben! Wenn du ihn berührst, transportiert er dich sofort in ein Paralleluniversum. Vielleicht geht es ja mit Handschuhen? Oder mit einer Schaufel? Wir müssen diesen Stein doch irgendwie wieder in diese Kiste bekommen.«

J.J. kneift die Lippen zusammen und überlegt.

»Die letzten Wochen waren echt bizarr. Menschen fliegen in meiner Gegenwart durch die Luft. Papiere beginnen, wie von Geisterhand zu schweben. Wasserhähne zerplatzen ohne ersichtlichen Grund und mein Tablett wollte Britany enthaupten. Dann bekomme ich einen seltsamen Brief von einer noch seltsameren Großmutter und dieses Ding. Ich habe im Durchschnitt Bestnoten, also bin ich nicht minderstrukturiert oder verrückt. Lass uns nachdenken, Zoé! Vielleicht hängt wirklich alles irgendwie zusammen. Gib mir noch mal den Brief von meiner Großmutter!«

Zoé holt den Brief aus der Kommode und gibt ihn J.J. Diese liest ihn sich mehrmals durch und schmeißt ihn genervt auf den Schreibtisch. Zoé gibt nicht so schnell auf und liest ihn noch einmal hochkonzentriert. Plötzlich kreischt sie laut auf und rennt zu J.J.

»Was hast du gesagt? Du hast den Garten im Traum gesehen? Bitte halte mich jetzt nicht für verrückt. Aber ich denke, dass du nicht in deinem Traum landest, sondern in deiner Erinnerung! Also in deiner Vergangenheit. Wahrscheinlich träumst du auch nicht irgendetwas, sondern verarbeitest Erlebnisse aus deiner Kindheit. J.J., vielleicht erinnerst du dich langsam wieder!«, stottert sie aufgeregt los.

J.J. stutzt und springt auf.

»Zoé. Ich träume von einem Garten mit sprechenden Blumen, die auf meine Berührungen reagieren. Die Schaukel besteht aus echten Blüten, die dennoch nicht zerreißen, wenn ich mich hineinlege. Vom Himmel kommen riesige Spinnen mit Flügeln herabgeflogen, die fürchterlich Kreischen und mich jagen. Du meinst also wirklich, dass dies meine Vergangenheit ist?«

Zoé überhört den Sarkasmus in J.J.s Stimme und hält ihr den Brief unter die Nase.

»Vielleicht träumst du ja symbolisch. Also, nur stark übertrieben. Damit du dich endlich wieder erinnerst! Lies doch mal richtig. Hier steht: Öffne das Paket und erinnere Dich! Probier es doch noch einmal aus!«

J.J. kann nicht bestreiten, dass sie Zoés These glaubwürdig findet, und fühlt sich irgendwie erleichtert.

»Okay. Wenn ich ihn anfasse, transportiert er mich in diesen Garten. Zumindest meinen Geist, denn mein Körper ist ja noch hier und dreht sich wild im Kreis. Sobald ich den Stein ablege, bin ich wieder hier. Zoé. Setz dich auf dein Bett, und wenn es zu unheimlich wird, renn hinaus!«

Sie nickt und setzt sich stocksteif auf ihr Bett.

»Äh J.J., du hast noch deinen Pyjama an. Ist das egal?«, fragt sie kichernd.

J.J. stockt einen Moment, läuft ins Bad und holt ihre Turnschuhe. Dann sieht sie ihrer Freundin tief in die Augen, hebt die Kiste hoch und betrachtet eine Weile den Stein. Nach einem tiefen Atemzug spannt sie alle Muskeln an und hebt den Stein mit einem Ruck hoch.

Die augenblickliche Veränderung bemerkt sie zuerst nur am Geruch, der ihr einen freudigen Schauer über den Rücken laufen lässt. Als sie die Augen öffnet, ist sie trotz ihrer Erwartung verblüfft. Der Anblick des Gartens ist faszinierend und angsteinflößend zugleich. Die Schönheit dieses Ortes zieht sie sofort in seinen Bann.

»Das ist ja irre. Ich kann teleportieren! Positiv: Ich kann bestimmen, wann ich hierhergehe, und der Garten ist wirklich wunderschön. Negativ: Es ist immer derselbe Ort und ich weiß nicht, wo er sich befindet oder was ich hier überhaupt soll. Neutral: Es weiß niemand davon. Na ja, außer Zoé.«

Sie hält den Stein fest in den Händen und beschließt, sich etwas umzusehen. Sicherheitshalber geht sie erst einmal den bekannten Weg zu der exotischen Blütenschaukel.

»Das ist der absolute Wahnsinn!«, jauchzt sie übermütig und schmeißt sich drauf.

Die großen Blüten umschmeicheln sie sanft und positionieren ihren Körper perfekt, sodass sie sich fühlt, als würde sie schweben. Eine lang gesuchte Ruhe überkommt sie und hält sie für einen Moment gefangen.

»Wenn ich nur wüsste, was ich hier soll«, denkt sie, während sie den Stein fest an sich presst.

Da entdeckt sie neben sich auf einer gelben Riesenblüte einen aprikotfarbenen Schmetterling. Er ist ungefähr so groß wie ihr Handrücken und schwingt leicht hin und her. Dabei scheint ihm ihre Anwesenheit überhaupt nicht zu stören. J.J. beugt sich langsam nach vorn, um ihn besser betrachten zu können. Normalerweise würde sie wahrscheinlich ausflippen, wenn sie so einen mächtigen Schmetterling entdecken täte, aber hier an diesem bizarren Ort ist das anders. Je länger sie in dem Garten verweilt, um so vertrauter kommt er ihr vor.

»Du kannst mir auch nicht sagen, was ich hier soll, oder?«, fragt sie leise, da sie das Tier nicht erschrecken möchte. Der Schmetterling öffnet langsam seine Flügel und dreht sich gemächlich in ihre Richtung. J.J. hat das Gefühl, er starrt sie an, als er sich plötzlich sanft in die Luft erhebt und davon fliegt.

J.J. ärgert sich darüber, dass sie das Geschöpf vertrieben hat, und lacht schließlich leise über sich selbst.

»Vor ein paar Stunden habe ich mich über ein fliegendes Tablett aufgeregt und nun sitze ich in einem magischen Garten und bin traurig, weil ein riesiger Schmetterling nicht mit ihr sprechen möchte.«

Sie wird jäh aus ihren Gedanken gerissen, als plötzlich jemand zu ihr spricht.

»Er kann es nicht! Aber ich kann dir helfen«, sagt die Stimme leise.

J.J. dreht sich verwirrt um, kann jedoch niemanden entdecken. Sie hüpft von der Schaukel und schaut noch ein Mal nach oben.

»Vielleicht hat es sich der Schmetterling ja anders überlegt.«

Aber auch über ihr kann sie kein anderes Lebewesen entdecken. Den Stein fest in der Hand, ruft sie:

»Hallo! Wer spricht denn da?«

Es erfolgt aber keine Antwort.

Sie beschließt, dass diese Reise lang genug war, und will gerade den Stein ablegen, als sie neben sich ein leichtes Rascheln vernimmt. Zu ihrem Erstaunen öffnet sich die Blüte der gelben Blume, auf der eben noch der Schmetterling saß.

J.J. tritt sicherheitshalber einen Schritt zurück. Das wundersame Gewächs ist circa einen Meter hoch und hat große Trichterblüten, die ungefähr so lang wie ihre Arme sind. Mit aufgerissenen Augen beobachtet sie das unheimliche Spektakel, da die Trichter an die Fangarme einer fleischfressenden Venusfliegenfalle erinnern, die sich nun langsam im Kreis drehen. So wie die Windräder, die Kinder im Sommer in ihren Gärten aufstellen. Die Kelche ziehen sich langsam nach oben und geben ein sanftes Gesicht, mit zwei kleinen, kugelrunden, schwarzen Augen und einem zierlichen knallroten Mund frei.

J.J. ist verblüfft, aber fürchten tut sie sich nicht. Die Blume räuspert sich und lächelt sie freundlich an. Dann verneigt sie sich tief, was J.J. etwas verunsichert. Sie überlegt, wie sie diesem Wesen gegenübertreten soll und beschließt, das zu tun, was sie am besten kann: Quasseln.

»Oh, hi! Mein Name ist J.J. Smith und ich freue mich, Sie kennenzulernen Frau, äh, Frau Blume? Ich habe diesen Stein geschickt bekommen, der mich immer wieder an diesen Ort bringt. Jetzt frage ich mich oder besser gesagt Sie, wo ich hier eigentlich bin?«

J.J. redet so hastig, dass man die letzten Worte kaum verstehen kann. Zum Abschluss ihrer Rede setzt sie noch ein entschuldigendes Lächeln auf, während sie den Stein wie ein Beweismittel in die Luft hält.

Die Blume verzieht leicht verzückt den Mund.

»Ich finde deinen richtigen Namen viel hübscher. Was soll das mit den Abkürzungen? Ich meine, bei deinem Namen mag das noch gehen. Aber ich stelle mir vor, du würdest Iris Ifelda heißen. Würdest du dich dann jetzt als I.I. vorstellen? Gar nicht auszudenken, wenn du Alberta Astha heißen würdest …Wenn du erlaubst, nenne ich dich Jezabel. So habe ich es immer getan. Meinen Namen kennst du übrigens auch. Du hast ihn nur vergessen! Aber weil ich dich so mag, werde ich heute auf Ratespielchen verzichten.«

Die Blume verbeugt sich erneut und stellt sich der verdutzten J.J. vor:

»Mein Name ist Florence.«

J.J. räuspert sich.

»Florence! Oh, freut mich dich kennenzulernen oder wieder kennenzulernen. Also, wo wir jetzt das Wichtigste geklärt haben. Kannst du mir vielleicht sagen, wo ich hier bin? Und was heißt eigentlich: So habe ich es immer getan?«, stammelt sie verwirrt.

Florence, das Sonnentrichterorakel, schließt bekennend die Augen und beginnt, feierlich zu erzählen.

»Jezabel, du bist zu Hause! Besser gesagt, in deinem Hort. Das ist der privateste Ort eines jeden Zauberwesens. Hier werden die Dinge aufbewahrt, die niemand außer dir wissen darf. Es ist quasie deine heilige Stätte. Weißt du, für jeden Besitzer eines Hortes gibt es ein bestimmtes Fleckchen Erde, an dem er sich am sichersten fühlt. Nach diesem Vorbild gestalten die Zauberreichbewohner ihren Hort. Deinen hast du an deinem 6. Geburtstag errichtet. Es ist der Garten deiner Großmutter. Das kannst du jedoch jederzeit ändern! Dieser wunderschöne Garten ist ein rein geistiger Ort und kann von niemandem außer dir betreten werden. Es sei denn, jemand würde einen Zwangszauber benutzen. Das wäre allerdings gegen das Gesetz und würde mit der Eliminierung bestraft. Hier werden alle deine Erinnerungen, Gefühle und Erlebnisse aufbewahrt. Der Stein, den du da so krampfhaft in deinen Händen hältst, ist der Wächter dieses Hortes und ohne ihn kommst du nicht hierher.

Vor etwa acht Jahren hat er dich erwählt, aber du hast ihn abgelehnt. Niemand außer dir kann ihn benutzen, da er deine Vergangenheit bewahrt und damit deine Persönlichkeit. Ohne ihn bist du nichts, außer ein gewöhnliches Wesen. Deshalb nennt man ihn auch das zweite Herz der Zauberwesen. Schau, dahinten, neben der Himbeerhecke, da steht eine Marmorsäule, auf der sich ein Granitsteinring befindet. Dort kannst du ihn ablegen. So kannst du hierbleiben, ohne ihn ständig tragen zu müssen. Na los! Leg ihn auf den Kreis. Ich denke, er hat dir viel zu erzählen!«

J.J. schüttelt ungläubig den Kopf.

»Zauberwesen? Ich bin ein Zauberwesen? Na klar! Willst du mich auf den Arm nehmen? Eine bessere Geschichte ist dir wohl nicht eingefallen? Wo gibt's denn so was? Was kommt als Nächstes? Wahrscheinlich besitze ich auch noch übernatürliche Kräfte?«

Sie legt den Kopf in den Nacken und kichert albern los. Das Sonnentrichterorakel sieht beschämt zur Seite.

»Es gibt keinen Grund, beleidigend zu werden. Es sind natürliche Kräfte, die du besitzt, da sie dir angeboren wurden. Weshalb sollte ich mir etwas Derartiges ausdenken? Und wieso ist der Gedanke, dass du ein Zauberwesen bist, so abwegig? Immerhin sprichst du gerade mit einer Blume!«

J.J. starrt betroffen auf den Stein, in ihren Händen und schluckt.

»Es tut mir leid, Florence. Ich wollte dir nicht zu Nahe treten. Aber versteh doch bitte, dass das was du da sagst, ziemlich kurios für mich klingt.«

»Aber die Dinge, die mir in den letzten Wochen passiert sind, waren auch kurios und angsteinflößend.«

Sie geht zur Marmorsäule und hebt ihren Stein über den Granitkreis.

»Aber wie kann er meine Erinnerungen aufbewahren, wenn ich ihn mit sechs Jahren abgelehnt habe?«, fragt sie plötzlich und zieht ihn ruckartig zurück.

Florence seufzt und überlegt einen Augenblick. Die Aufgabe des Sonnentrichterorakels ist, J.J. diesen Ort zu erklären. In die ungeklärten Familienangelegenheiten darf es sich jedoch nicht einmischen.

»Du hast den Stein berührt, als deine Großmutter ihn dir überreicht hat. In dem Moment wurden all deine Erinnerungen gespeichert. Mittlerweile sind es die der letzten dreizehn Jahre und elf Monate. Nur Mut! Er kann dir alle wichtigen Fragen beantworten. Es sind nur deine Erinnerungen!«

J.J. atmet tief durch und setzt den Stein mit einem Ruck auf die Marmorsäule. Als er auf dem Ring sitzt, schießt ein zartes Licht empor, aus dem kleine, funkelnde Sterne tanzen. Daraufhin ertönt ein tiefer, vibrierender Summton, so als würde man leicht an einer Gitarrensaite zupfen. Der Ton breitet sich in großen Wellen aus und dringt tief in J.J. ein. Sie geht einen Schritt zurück und dreht sich verunsichert zu Florence.

»Wenn du bereit bist, kannst du dir jetzt deine Erinnerung zurückholen«, spricht das Sonnentrichterorakel ruhig.

J.J. wartet einen Moment, aber es passiert nichts.

»Und was jetzt?«, fragt sie schnippisch.

Florence seufzt.

»Ach ja, richtig. Vergessenszauber heißt, alles zu vergessen! Auch wie das Lythargium funktioniert. Du musst dir vorstellen, was du sehen möchtest. Zum Beispiel deinen ersten Geburtstag. Dann entscheidest du, wie du diesen Rückblick wahrnehmen willst. Möchtest du sie nur sehen, stell dir eine Kinoleinwand vor oder einen dieser modernen Fernsehapparate. Du kannst deine Erlebnisse so zurückrufen, wie du es möchtest. Du kannst dich auch direkt in eine Erinnerung schleusen und dich mitten in dem Szenario bewegen. Aber davon würde ich dir im Moment noch abraten! Deine Erinnerungen sind noch nicht vollständig und du könntest dich in solch einer Szene verirren. Das ist dir leider schon einmal vor acht Jahren passiert. Fang lieber langsam an. Na los! Probiere es aus!«

J.J. schließt die Augen und seufzt.

»Das hört sich alles ganz schön gruselig an. Okay, ich muss jetzt einfach nur die Nerven behalten! Vielleicht ist es ja doch nur ein Traum.«

Sie atmet tief durch und sagt dann ganz schnell:

»Zeig mir meinen ersten Geburtstag auf einer riesigen Kinoleinwand!«

Etwas Besseres fällt ihr in diesem Moment nicht ein.

Da erscheint dort, wo gerade noch die Himbeerhecken standen, eine gigantische Kinoleinwand, die von zwei schweren, roten Samtvorhängen eingesäumt wird. So wie die in den richtigen Kinos. Vor Schreck tritt sie einen Schritt zurück und sieht sich ängstlich um. Florence und die Bäume sind noch da, aber die Blütenschaukel hat sich in einen mondänen Kinosessel verwandelt. Sie zögert einen Moment und setzt sich vorsichtig in den Sitz, der erstaunlich bequem ist, sodass sie sofort entspannt. Erwartungsvoll wartet sie, was nun passiert.

Als der Garten sich verdunkelt, atmet sie tief durch und starrt gespannt auf die Projektionsfläche. Eine leise Klaviermusik ertönt und sie kann den Geruch von frischem Popcorn wahrnehmen. Da erhellt sich endlich die Leinwand. Vor Aufregung rutscht J.J. tiefer in den Sitz. Sie überlegt, ob sie nicht doch lieber weglaufen soll, da sie vor dem, was sie jetzt sehen wird, auch Angst hat.

Da erscheinen die ersten Bilder und ziehen sie augenblicklich in ihren Bann. Am Anfang bilden tanzende Buchstaben den Satz »Josie Jezabel Smiths erster Geburtstag!«

Als sie verblassen, geht der Film los:

Ein kleines, fröhliches, blond gelocktes Mädchen mit einer glitzernden Krone auf dem Kopf steht vor einer mehrstöckigen Geburtstagstorte. Es ist aufgeregt und klatscht unentwegt in seine Händchen. Es winkt in die Kamera und zeigt wie in einem Werbespot auf die gigantische Geburtstagstorte, auf der winzige Ballerinas um Schlösser aus bunter Sahnecreme tanzen. Fanfarenbläser stehen auf der Spitze und feuern in regelmäßigen Abständen knallbunte Bonbons aus Kanonen ab. Das Mädchen springt aufgeregt herum und versucht sie alle aufzufangen.

J.J. kann sich nicht wirklich daran erinnern. Aber diese Aufregung kommt ihr sehr vertraut vor.

Plötzlich dreht sich das kleine Mädchen um und starrt J.J. direkt in die Augen, so als könne sie sie sehen. Eine Stimme, die J.J. vertraut scheint, lenkt das Mädchen im Film ab.

»So, kleine Prinzessin. Schau mal hierher!«

Das kleine Mädchen macht einen Luftsprung und jauchzt. Die Kamera schwenkt mit und zeigt eine Reihe erwachsener Personen. J.J. lehnt sich nach vorn, da sie ihren Augen nicht traut. Zwischen den Menschen tummeln sich sehr seltsame Wesen. Und da kommt eine junge, blonde Frau ins Bild und nimmt das Geburtstagskind auf den Arm. Sie stellt sich vor die Runde und herzt das Geburtstagskind, das gerade einem gruseligen Wesen einen Luftkuss zuwirft.

»Das ist meine Mama«, flüstert J.J. traurig.

Ein großer, schlanker, dunkelhaariger Mann geht lächelnd auf die beiden zu und stellt sich neben sie. Dann singen Alle ein fröhliches Geburtstagsständchen.

J.J. sieht sich die Runde an und bemerkt, dass sie plötzlich die meisten Menschen und Wesen wiedererkennt. Ihre Erinnerungen erwachen und kehren behutsam zurück, so wie aus einem langen, tiefen Schlaf. Trotzdem hat J.J. Mühe, die Gefühle, die diese Erinnerungen mit sich bringen, zu kontrollieren.

»Da sind Papa und Großmutter Vettel! Und da ist Flick«, ruft sie aufgewühlt und setzt sich noch ein Stück weiter nach vorn, um die Gäste besser erkennen zu können. Alles in ihrem Körper vibriert.

Vor Aufregung bläht sich ihr Magen weit auf, während ihr Puls wie wild rast. Nun beginnen Erinnerungsfetzen, wie Fotografien, vor ihrem geistigen Auge aufzublitzen. Zusammenhanglose Stimmfetzen, Gerüche, Bilder und ein Wirrwarr tiefer, unbekannter Gefühle durchdringen sie und verursachen ein innerliches Chaos. Das ist zu viel für J.J. und um sie herum beginnt sich plötzlich alles zu drehen.

Sie hält sich die Augen zu, da ihr furchtbar zumute ist.

»Aufhören!«

Sie versucht den Brechreiz zu unterdrücken.

In diesem Moment ist der Film vorbei.

J.J. sitzt vornübergebeugt auf der Schaukel und vergräbt ihr Gesicht in den Händen.

»Mir ist furchtbar schlecht«, flüstert sie.

Das Sonnentrichterorakel räuspert sich verlegen.

»Ich sagte ja, dass es besser ist, langsam anzufangen. Brauchst du ein Glas Wasser?«

Sie schüttelt den Kopf und steht vorsichtig auf, da sie Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten.

»Florence, ich kann mich wirklich an manche Dinge erinnern!«

Sie hält inne und beginnt zu schluchzen. Der Baum, hinter der Schaukel, neigt schützend einen Zweig über sie und streicht ihr sanft über den Rücken.

»Ich kann mich wieder erinnern! Meine Mama und mein Papa. Da war dieser Unfall kurz nach diesem Geburtstag. Meine Eltern haben mir gesagt, dass ich mich unter dem Sitz verstecken solle. Sie sagten, es sei ein Spiel. Es gab einen lauten Knall und meine Mama hat furchtbar geschrien. Ich habe mir die Ohren zugehalten und dann wurde es dunkel. Als ich die Augen wieder öffnete, war ich bei Großmutter. Sie sind dabei gestorben, stimmts? Es war kein Spiel. Sie sind geflohen! Sie wollten mich wegbringen. Ich kann mich vage erinnern, dass Papa und Großmutter gestritten haben. Aber es sind nur Fetzen. Ich war noch so klein. Doch ich erinnere mich, dass er gesagt hat, er werde nicht zulassen, dass die mich bekommen. Ich weiß nicht, wer »Die« sind, aber es hat etwas mit dem dunklen Ding zu tun, das ich in meinen Träumen gesehen habe. Es ging um Hexen, nicht wahr?«, schreit sie dem Sonnentrichterorakel entgegen.

Sie muss innehalten, da ihr wieder schwarz vor Augen wird. Vorsichtig setzt sie sich zurück auf die Schaukel.

»Ich muss das alles jetzt erst einmal irgendwie einordnen. Das ist alles ein bisschen viel. Florence, vielleicht klingt es verrückt, aber ich glaube, meine Großmutter ist eine …«

J.J. schüttelt den Kopf und beendet schließlich flüsternd den Satz.

»Ich glaube, sie ist eine Hexe! Wenn mich meine Erinnerungen nicht täuschen, ist sie sogar eine von den Bösen.«

Sie springt auf und lacht hysterisch.

»Aber das gibt es doch alles gar nicht! Hexen und Zauberwesen. Bin ich etwa verrückt? Was ist das für ein Spiel?«

Entrüstet dreht sie sich zu Florence und sieht ihm zornig in die Augen. Das Blumenorakel räuspert sich verlegen. Es wusste, dass es ein schwieriger Moment werden würde, wenn ihre Erinnerungen zurückkommen, aber nun fühlt es sich mehr als unwohl.

»Wieso sollte ich denken, dass du verrückt bist? Weil du dich daran erinnerst, dass deine Großmutter eine Hexe ist? Sieh dich um, Jezabel. Du stehst in einem Zaubergarten und siehst dir einen Kinofilm an. Du redest mit einer Blume! Also, wieso sollte ich denken, dass du verrückt bist? Es ist kein Ratespiel, J.J. Es ist deine Vergangenheit!«

Sie legt den Kopf in den Nacken und prustet los.

»Ich dachte, so etwas gibt es nur in Filmen. Das ist ein Hammer! Meine Biografie ist wirklich einzigartig! Britany Hoilding hat wahrscheinlich recht und ich gehöre in ein Irrenhaus! Zum Glück weiß niemand etwas davon. Noch nicht!«

Sie setzt sich im Schneidersitz auf die Schaukel und schaut dem Sonnentrichterorakel eindringlich in die Augen.

»Meine Großmutter ist also eine böse Hexe und ich gehe davon aus, dass ich auch eine werden soll. Ich erinnere mich an einen anderen Geburtstag. Verbessere mich, falls ich mich irre. Es war in Großmutters Haus und ich war so glücklich. Alle meine Freunde waren da und Broaf, mein geliebter Broaf. Der Geruch seines Aftershaves war der betörende Duft, den ich in meinen Träumen wahrgenommen habe. Auf jeden Fall hat Großmutter mir dieses Päckchen überreicht und da war dieser Stein drin. Ich war stinksauer und dann weiß ich nicht mehr weiter. Aus irgendeinem Grund war ich sehr böse auf sie. Ich bin in den Garten gerannt und … Oh Florence, wie konnte ich das die ganzen Jahre nur vergessen? Ich meine, wie kann man vergessen, dass man eine böse Hexe als Großmutter hat?«

J.J. ist völlig durcheinander. Sie streicht über den Blütensitz und betrachtet den Garten nun mit anderen Augen.

»Was ist damals passiert, Florence? Warum hat Großmutter mich weggeschickt?«, fragt sie leise.

Das Sonnentrichterorakel versucht eine Träne zu unterdrücken, die ihm trotzig über das Gesicht rinnt, und räuspert sich erneut.

»Sie tat es, weil sie dich über alles liebt! Deine Familie ist seit Jahrhunderten dem dunklen Phad verpflichtet. Aber vergiss bitte die Märchen, die sich die Menschen über mächtige Hexen erzählen. Vettel ist keineswegs bösartig! Aber daran wirst du dich hoffentlich bald wieder erinnern. Der Hexenrat hat deine Großmutter einen Tag vor deinem sechsten Geburtstag darüber informiert, dass dein Gedankenstein in Xestha gehoben wurde. Das heißt, du hattest offiziell deine magische Reife erlangt und eigentlich in den dunklen Phad gehen müssen. Aber du warst als Kind schon äußerst konsequent und hast dich vehement dagegen gesträubt. Du wolltest einfach nicht als Hexe leben.

Da deine Großmutter dich über alle Maße liebt, hat sie daraufhin eine Entscheidung getroffen, um dich zu schützen. Deine Urgroßmutter hat einen großen Zauber entwickelt, den wir schlicht den »Vergessenszauber« nennen. Und der macht genau das, was er aussagt. Er raubt dir deine Erinnerungen, und unterdrückt gleichzeitig die Magie, die jedem Zauberwesen innewohnt. Dieser Zauber ist ein mächtiger, dunkler und böser Zauber, da er in den freien Willen eines Lebewesens eingreift.

Darania, die Oberhexe, ist seitdem besessen davon, ihn zu besitzen, da er nur deiner Familie gehört. Deine Großmutter ist nicht so, wie sie nach außen erscheint, meine Liebe. Sie hat mit diesem Zauber schon einigen Wesen das Leben gerettet. Ja, das hat sie! Daranias Späher, die Skulks, können dich aufgrund der Magie, die in dir liegt, überall im Universum orten. Wenn du allerdings alles vergisst und damit auch deine Magie, ist das nicht mehr möglich. Sie wollte dich damit schützen. Sie hatte bei Mrs. Rogan noch etwas gut, also hat sie dich am Abend deines sechsten Geburtstages in das Internat gebracht. Anschließend hat sie zwei Monate nur geweint.«

Das Sonnentrichterorakel seufzt ausgiebig und schüttelt eine weitere Träne aus seinem Gesicht.

J.J. sieht Florence nachdenklich an, während sich ihre Erinnerungen wie ein Puzzle zusammenfügen. Die intensiven, unerträglichen Gefühle und der Druck im Bauch lassen jedoch nach.

»Was ich nicht verstehe. Warum wollten meine Eltern schon fünf Jahre vorher mit mir fliehen, wenn ich erst mit sechs Jahren in den dunklen Phad sollte?«, fragt sie versonnen.

Das Sonnentrichterorakel weiß, dass sie schon viel zu lange in seinem Hort ist und versucht nun, es auf behutsame Weise, darauf aufmerksam zu machen.

»Das ist alles sehr kompliziert, Jezabel. Das muss dir deine Großmutter selbst erklären. Es ist wichtig, dass du ihr vertraust. Sie erwartet dich übrigens schon sehnsüchtig. So wie die restlichen Bewohner auch. Wir haben dich alle sehr vermisst! Am schlimmsten war es allerdings für Lincoln!«

Als J.J. diesen Namen hört, lächelt sie, da sie sich auch an Lincoln erinnern kann.

»Das ist der halbe Hund aus meinen Träumen!«

Florence nickt bekennend und fährt fort.

»Ja, das ist er. Aber wir nennen ihn Halbtagshund.«

Das Sonnentrichterorakel schielt verstohlen zu J.J., die mit weit geöffneten Augen auf der Schaukel sitzt und nachdenkt. Immer wieder blitzen neue Erinnerungen in ihr auf. Sie steht auf und geht zu Florence.

»Ich bin froh, dass ich hier bin. Ich verstehe zwar nicht, warum ich gerade jetzt wieder nach Hause darf. Aber im Moment ist mir das egal. Ich weiß nur nicht, wie ich das meiner Freundin erklären soll. Meinst du, ich sollte ihr sagen, was ich herausgefunden habe?«

Florence sieht J.J. fragend an und beginnt zu grinsen.

»Natürlich solltest du ihr das sagen. Sie wird dir jedoch nicht glauben! Es gibt so viele von deiner Art, die in der realen Welt leben, die es nicht einmal vertuschen, weil die Menschen ihnen sowieso nicht glauben. So ist das in der realen Welt. Seit Anbeginn der Zeit suchen die Menschen nach Wundern und Zauberwesen. Sobald sie jedoch vor ihnen stehen, zweifeln sie deren Wahrhaftigkeit an! Also, geh zurück in dein Internat und erzähle deiner Freundin, dass deine Großmutter eine böse Hexe ist. Sag ihr, dass du auch eine bist! Aber lass mich bitte wissen, wie sie reagiert hat.«

Florence verfällt in leises Gelächter. J.J. versteht, was das Sonnentrichterorakel ihr sagen will, und winkt ab. Sie geht zur Marmorsäule, um ihren Gedankenstein zu holen.

»Aber irgendetwas muss ich ihr doch erzählen. Sie hat gesehen, dass ich mich mit dem Stein drehe. Sie ist meine beste Freundin. Sie wird mir glauben!«

Bevor sie den Stein herunternimmt, dreht sie sich noch einmal zu Florence.

»Sehen wir uns nur hier im Hort?«

Das Sonnentrichterorakel zieht verdutzt die Augen zusammen und schnalzt mit der Zunge.

»Ich bin im Moment nur der geistige Vermittler. Nachdem du dich an deinem sechsten Geburtstag entgegen der Anweisung deiner Großmutter direkt in eine Erinnerung geschleust hast, hat sie entschieden, dass ich dir erst ein paar Dinge erkläre. Ich bin nur in diesem Moment hier. Wenn du ihn das nächste Mal nutzt, bist du allein. Du findest mich in Havelock, wie gewohnt im Garten hinterm Haus. Dort haben wir früher sehr gern über deine Märchenbücher geredet. Aber es wird Zeit! Geh jetzt zurück und lerne deine Großmutter kennen. Wir sehen uns bald wieder, meine Liebe!«

Florence lächelt J.J. zu und verbeugt sich tief.

Sie wartet, bis die trichterförmigen Blüten sein Gesicht wieder verdecken, und nimmt den Stein von der Säule. Sie geht noch ein Stück durch den Garten, bevor sie den Stein behutsam vor ihren Füßen abstellt und sich in ihrem Zimmer wiederfindet.

Im Raum ist es stockduster. Vorsichtig tastet sie sich zu ihrem Schreibtisch und knipst das Licht an.

»Zoé, bist du noch da?«, ruft sie leise, bekommt jedoch keine Antwort. Sie legt den Stein in die Kiste und verschließt sie sorgfältig, bevor sie zum Bett ihrer Freundin schleicht. Erstaunt bemerkt sie, dass Zoé tief und fest schläft, was sie merkwürdig findet.

Nachdenklich legt sie sich auf ihr Bett und starrt auf ihren Wecker. Als sie sieht, wie spät es ist, ist sie mehr als erstaunt.

»23:04 Uhr? Komisch, ich dachte, dass ich mindestens zwei Stunden weg gewesen wäre! Zoé ist trotzdem schon eingeschlafen. Dann erzähle ich es ihr eben morgen früh.«

J.J. löscht das Licht und denkt noch eine Weile über ihr Gespräch mit Florence nach. Sie fühlt sich wohler und nicht mehr so durcheinander wie in den letzten Wochen.

»Ist das abgefahren! Ich bin eine Hexe oder zumindest habe ich wohl das Zeug dazu! Positiv: Das erklärt die komischen Dinge, die mir passiert sind. Negativ: warum ausgerechnet eine dunkle und böse Hexe? Neutral: Es weiß niemand etwas davon.«

Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel

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