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4 Entwurzelt

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Am nächsten Morgen kämpfte ich volle zehn Minuten mit meinem Haar. Die Strähnen hatten sich über Nacht dermaßen ineinander verknotet, dass ich mich wieder einmal fragte, warum ich mich nicht endlich von ihnen trennte. Ich betrachtete mein bleiches, spitzes Gesicht im Badezimmerspiegel, während ich versuchte, einen halbwegs ordentlichen Pferdeschwanz zu binden.

Eigentlich war ich rotblond, doch natürlich wäre diese Farbe viel zu auffällig. Eine derart helle, bis fast zur Hüfte reichende Mähne wäre quasi einem Leuchtfeuer gleichgekommen und hätte meine Verfolger sicher im Handumdrehen auf mich aufmerksam gemacht. Also hatte ich schon kurz nach meiner Ankunft an der Oberfläche zu einem Haarfärbemittel gegriffen und damit nicht nur meinen Schopf, sondern auch meine Brauen in einen kräftigen Ebenholzton getaucht. Doch die Farbe stand mir nicht wirklich, sie ließ mich blass aussehen wie eine wandelnde Leiche, fand ich manchmal. Wenn ich hingegen einen rötlichen Kurzhaarschnitt trüge –

»Brauchst du noch lang?« Louisa klopfte an die Badezimmertür. »Der Bus kommt gleich und ich muss mal.«

Seufzend gab ich es auf und legte die Bürste beiseite. Solange mich niemand erkannte, war es sowieso egal, wie ich aussah, oder? Ich räumte meinen Platz vorm Waschbecken.

Kurz darauf hasteten Fiona, Louisa und ich zur Haltestelle am Ende der Straße. Wir waren alle drei keine Frühaufsteherinnen und um diese Uhrzeit daher meistens etwas miesepetrig drauf. Dass der Bus heute auch noch auf sich warten ließ, machte es leider nicht besser.

»Toll, da hätten wir gar nicht so zu rennen brauchen«, beschwerte sich Louisa.

Wir lehnten mit dem Rücken gegen die Wand des Wartehäuschens. Während Fiona auf ihr Handy starrte und vermutlich mit Jonas (der Liebe ihres Lebens und dem auserwählten Wäscher unserer Schmutzwäsche im nächsten Monat) textete, glitt mein Blick die neblige Straße vor uns entlang. Der Sturm war wohl doch ein bisschen heftiger gewesen, als ich zunächst angenommen hatte. Überall hatten sich Pfützen auf dem Asphalt gebildet und dazwischen lagen abgerissene Äste herum. Ein Stück von uns entfernt versperrte eine umgekippte Mülltonne eine Einfahrt. Ihr Inhalt schien sich gleichmäßig über die Vorgärten der Nachbarschaft verteilt zu haben.

»Vielleicht kommt er schlecht durch«, murmelte ich. »Die Straßen sehen nicht gerade frei aus.«

Tatsächlich schienen sogar die Autos Mühe zu haben, eine freie Spur zu finden, und tuckerten nur langsam an uns vorbei.

»Hmpf«, machte Louisa und zog den Reißverschluss ihrer Jacke weiter nach oben. »Ist das Wetter hier im Herbst eigentlich immer so grauenhaft? Oder liegt das am Klimawandel? Ich dachte, ich ziehe in einen Badeort …«

Ich zuckte mit den Achseln. »Kein Ahnung«, log ich.

Selbstverständlich wusste ich genau, welches Wetter diese Stadt an jedem einzelnen Tag der letzten viereinhalb Jahre gehabt hatte. Ja, die globale Erwärmung bereitete meiner Mutter schon seit geraumer Zeit Probleme, aber die seit einer knappen Woche anhaltenden Stürme und Regengüsse waren dennoch ungewöhnlich. An der See schlug das Wetter normalerweise recht schnell um, so nah an den Kesseln meines Volkes wechselten sich Wolkenbrüche quasi im Minutentakt mit sonnigen Phasen ab und der Wind wehte zwar oft kräftig, aber das hier … So schlimm war es noch nie gewesen. Seit meiner Begegnung mit dem Anderen beschlich mich ohnehin das Gefühl, dass irgendetwas vor sich ging. Etwas Wichtiges, das mit den Hexen zu tun haben musste …

Als der Bus schließlich mit viertelstündiger Verspätung auftauchte und ächzend vor dem Wartehäuschen hielt, schoben wir uns rasch zwischen die anderen Schüler. Unsere Erleichterung über das Auftauchen des Busses hielt sich jedoch in Grenzen, als wir feststellten, dass es im Gedränge des überfüllten Innenraumes kaum noch Sauerstoff gab. Die Scheiben waren bereits komplett beschlagen. Noch dazu stand ich eingequetscht zwischen Fiona und einem Typen aus dem Basketball-Team, sodass ich selbst bei klarer Sicht nicht hätte rausgucken können.

Stattdessen blieb mir nichts anderes übrig, als an der Achsel der Sportskanone vorbei auf den schmalen Gang zwischen den Sitzreihen zu spähen, wo ich schließlich Vivien und Marie entdeckte. Beide waren ziemlich bleich um die Nase und zuckten bei jedem Stoppen und Schlingern des Busses (der Fahrer hatte offenbar Schwierigkeiten, seiner Route zu folgen) alarmiert zusammen. Tatsächlich schienen sie so sehr in ihren Gedanken gefangen zu sein, dass sie nicht einmal den Fünftklässlern um sich herum das Taschengeld abknöpften oder sie wenigstens so lange in die Rippen boxten, bis diese ihnen ihre Sitzplätze überließen.

Als Vivien dann, kurz bevor wir endlich die Schule erreichten, zufällig in meine Richtung schaute, wurde sie noch eine Spur blasser und hakte sich schutzsuchend bei Marie unter. Mit gesenkten Köpfen hasteten die beiden schließlich an mir vorbei ins Freie und ich wollte schon die Verfolgung aufnehmen, um ihnen irgendeine fadenscheinige Geschichte aufzutischen. Zum Beispiel von halluzinogenhaltigen Zigaretten, die ich ihnen gestern bei unserer Auseinandersetzung angeblich untergejubelt hätte oder so.

Doch dann bog ich um die Ecke und verschwendete plötzlich keinen einzigen Gedanken mehr an Marie oder Vivien, sondern blieb vor lauter Überraschung einfach stehen. Genau wie meine Mitschüler, die sich schockiert vor dem Schultor versammelt hatten.

Denn uns bot sich ein Bild der totalen Verwüstung.

Offenbar musste der Schulhof das Zentrum des Sturms gewesen sein. Überall lagen die zerbrochenen Schindeln des zur Hälfte abgedeckten Schuldachs herum, unzählige Bäume waren entwurzelt worden und wie Mikadostäbchen übereinandergepurzelt. Dazwischen ragten Teile der Fensterrahmen und eine aus den Angeln gerissene Tür hervor. Jemand, vermutlich der Hausmeister, hatte das gesamte Gelände notdürftig mit rot-weiß gestreiftem Flatterband abgesperrt. Daran hing ein Schild, auf dem stand, dass der Unterricht bis auf Weiteres leider entfallen müsse und die Sekretärin noch dabei sei, alle Eltern zu benachrichtigen.

In der Ferne war eine Sirene zu hören, die langsam lauter wurde.

»Vielleicht ist irgendwas explodiert«, vermutete ein Junge mit Kopfhörern in den Ohren und Kaugummi im Mund inmitten einer Gruppe Sechstklässler, die sich in einer Traube um das Flatterband gedrängt hatten. »Megacool, es dauert bestimmt Wochen, das alles zu reparieren.«

»Ob Schwimmen im Südbad dann auch nicht stattfindet?«, wollte ein Mädchen zu seiner Linken wissen und schlenkerte einen Sportbeutel.

»Eine defekte Gasleitung?«, überlegte derweil ein anderer Junge. »Oder kann das der Sturm gewesen sein?«

Ich nickte. »Sollte man nicht meinen, oder?«, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu den rätselnden Unterstufenschülern. Noch immer starrte ich fassungslos auf das Chaos vor uns. Das konnte doch nicht wirklich passiert sein! Stand denn seit gestern die ganze Welt kopf? Diese Bäume waren jedenfalls nicht einfach nur von einer kräftigen Bö aus dem Erdreich gerissen worden. Ihre Rinden trugen Einkerbungen, wo etwas sie gepackt haben musste. Tiefe Striemen waren das, Spuren von … Klauen!

»Okay«, sagte Louisa zu mir und seufzte. »Wenn wir uns beeilen, erwischen wir den Bus zurück in zwei Minuten.« Fiona hatte sich natürlich längst zusammen mit Jonas aus dem Staub gemacht und auch Louisa hielt nichts an diesem Ort der Zerstörung. »Wie wäre es mit einem zweiten Frühstück und dann legen wir uns noch ein wenig hin?« Sie gähnte und versuchte, mich hinter sich herzuziehen.

Doch ich rührte mich nicht vom Fleck.

Auch nicht, als in diesem Moment unmittelbar hinter uns ein Löschzug der Feuerwehr hielt und die mit Motorsägen bewaffnete Mannschaft kurz darauf begann, alle versammelten Schüler fortzuscheuchen.

»Ich brauche noch ein bisschen frische Luft«, erklärte ich Louisa. »Fahr du ruhig schon, ich komme dann zu Fuß hinterher, ja?«

Louisa hob eine Augenbraue, als wollte sie etwas fragen. Mir war klar, dass ich noch ungesünder als sonst aussehen musste. Doch dann nickte sie und ließ mich los. »Sicher, bis später«, sagte sie. »Aber ruf mich an, falls dir wieder schwindelig wird oder so.«

Einen Herzschlag später verschwand sie in der Menge meiner menschlichen Mitschülerinnen und Mitschüler, die sich nun geballt auf die beiden ramponierten Bushaltestellen um die Ecke zuschoben.

Ich wandte mich erneut dem Unfassbaren zu.

Auch der Asphalt des Schulhofs trug tiefe Kratzspuren und sogar die Fassade war links neben dem Haupteingang zum Teil aufgerissen worden. Dabei schienen sich Tiefe und Breite der Kerben ein wenig voneinander zu unterscheiden, als wären mehrere Donnerdrachen am Werk gewesen. Zwei oder drei, vielleicht sogar vier, überlegte ich, während ich mich über das Flatterband beugte und die Augen zusammenkniff, um die Furchen besser begutachten zu können.

»Junge Dame, das gilt auch für dich«, riss mich einer der Feuerwehrmänner aus meinen Ermittlungen. Ich fuhr herum und sah mich einem imposanten Kerl mittleren Alters gegenüber. »Hier ist es nicht sicher. Der Rest des Dachs könnte jeden Moment einstürzen. Also ab mit dir«, erklärte er. »Außerdem brauchen wir Platz zum Arbeiten.«

»Ach so«, entgegnete ich. »Natürlich, äh, Entschuldigung. Dann werde ich mal …«

Mein Gestammel ging im Aufheulen seiner Motorsäge unter und ich brachte ein paar Schritte Abstand zwischen mich und die Absperrung. Für einen Moment tat ich sogar so, als wollte ich ebenfalls zum Bus gehen … Ich versicherte mich mit einem raschen Blick über die Schulter, dass der Typ mir nicht nachsah. Im nächsten Augenblick hechtete ich bereits zwischen zwei einsame (und seit heute Nacht noch dazu schrottreife) Autos auf dem Lehrerparkplatz. Durch eine zerbrochene Windschutzscheibe beobachtete ich, wie ein paar der Feuerwehrmänner weiteres Equipment abluden und Warnschilder aufstellten, während andere sich bereits mithilfe ihrer Motorsägen einen Weg auf das Gelände zu bahnen versuchten.

Schon bald würden die Spuren der Nacht unkenntlich sein, ich würde mich also ranhalten müssen. Mit der einen Hand zog ich das Haargummi um meinen hoffnungslos zotteligen Zopf fester, mit der anderen fuhr ich mir über die Augen, so als könnte ich dieses ganze Durcheinander einfach fortwischen. Als wäre das alles bloß ein weiterer wirrer Albtraum. Aber das war es nicht. Ich blinzelte und die Lage veränderte sich kein bisschen. Noch immer entdeckte ich überall um mich herum Hinweise auf Donnerdrachen. Wütende Donnerdrachen, um genau zu sein.

Was immer im Reich der Hexen vor sich ging, wenn die Biester sich tatsächlich bis hierher wagten, ohne dass sie jemand daran hinderte, musste es übel sein. Übel und gefährlich. Vielleicht war auch mein Versteckspiel an der Oberfläche in Gefahr?

Ich atmete aus. Sobald Donnerdrachen in den Gebieten der Menschen auftauchten, war jedenfalls nichts und niemand mehr sicher. Erst recht nicht jemand wie ich. Falls ich weiter unentdeckt bleiben wollte, musste ich also dringend herausfinden, was los war. Um meine Tarnung anzupassen und mich notfalls wenigstens verteidigen zu können …

In geduckter Haltung schlich ich hinter dem Auto entlang und sprintete kurz darauf in den schmalen Durchgang zwischen dem Schulgebäude und der Sporthalle. Hier gab es einen weiteren Eingang, der zum Sekretariat und zum Lehrerzimmer führte. Doch wenn man weiterging, gelangte man auf den Schulhof, und zwar aus genau entgegengesetzter Richtung zu den sich vorarbeitenden Feuerwehrmännern.

Auch hier lagen überall Dachziegel herum. Ganz zu schweigen von all den Bäumen und den Trümmern der zerschmetterten Tischtennisplatte. Ich kam nur langsam voran, musste den Kopf einziehen und klettern und riss mir die Hände an gesplittertem Holz und Steinen auf. Außerdem hielt ich immer wieder inne, um die Spuren der Donnerdrachen genauer zu betrachten.

Dabei fand ich nicht nur Kratzer, sondern auch Klauenabdrücke im Asphalt, als wäre dieser unter der Hitze eines Blitzes geschmolzen. Herrje, das da an der Tribüne des Sportplatzes, waren das etwa … Bisse? Und wieso, bei allen Kesseln, war der Ascheplatz so aufgewühlt, als hätte ein Maulwurf von der Größe eines Elefanten dort die Erde umgegraben?

Ich hatte davon gehört, dass Donnerdrachen auf hoher See zuweilen in Horden lebten. Aber unser Schulgelände erweckte nicht den Eindruck, als hätten die Biester auf der Durchreise nur eine Rast eingelegt. Nein, die Spuren erzählten eine andere Geschichte. Und auch wenn ich inzwischen gar nichts mehr verstand, nicht den blassesten Schimmer hatte, was das alles bedeutete, eines stand fest: Hier hatte es einen Kampf gegeben.

Und das machte mir eine Heidenangst.

Im Näherkommen erkannte ich, dass die Ränge am Rand des Sportplatzes nicht nur von Bissspuren gezeichnet, sondern darüber hinaus auch komplett niedergerissen worden waren. Wieder und wieder mussten die Donnerdrachen nach den hölzernen Bänken geschnappt haben. Die Sitzflächen waren kaum noch zu erahnen, selbst der Beton darunter war an vielen Stellen aus der Verankerung gerissen worden. Doch was hatte die Biester zu dieser Zerstörung getrieben? War es schlichte Raserei gewesen oder hatten sie dort gar etwas gesucht?

Ich bemerkte die Bewegung zunächst nur aus dem Augenwinkel. Jemand regte sich zwischen den Trümmern zu meiner Linken, etwa auf halber Höhe des Schuttberges, der einmal die Westtribüne gewesen war. Holz knackte, Betonkrümel rieselten zu Boden. Der Jemand hatte eher die Größe eines Menschen als eines Donnerdrachen.

Dennoch war mein erster Impuls natürlich zu fliehen.

Blindlings wirbelte ich herum und stürzte zurück in den schützenden Schatten zwischen den Gebäuden. Dort atmete ich tief durch, bevor ich vorsichtig um die Ecke lugte und den Jungen von gestern erkannte: Es war der kleinere der beiden Hexer, die den Donnerdrachen erlegt hatten. Er kroch gerade mitten aus einem Haufen Schutt hervor. Staub klebte in seinen Haaren, seine Kleidung hing in Fetzen an seinem mageren Körper und wo die dunklen Flecken auf dem Stoff herkamen, wollte ich lieber gar nicht erst wissen. Ächzend machte der Junge sich sogleich an einem der größeren Trümmer zu schaffen und versuchte, ihn zu bewegen. Jedoch ohne Erfolg.

War das, was die Donnerdrachen gesucht hatten, womöglich immer noch dort?

Mit aller Kraft zog und zerrte der Hexer nun an dem Ding, das vielleicht einmal Teil der Betonstufen in der Mitte der Tribüne gewesen war. Sein Kopf wurde vor Anstrengung unter all dem Schmutz rot. »Komm schon«, knurrte er. »Komm schon!«

Seine Stimme wirkte noch kindlicher als sein Äußeres. Tatsächlich verwandelte sich sein Knurren nach einer Weile in eine Art wütendes Schluchzen.

Ich konnte derweil nicht anders, als mich ein Stück aus meiner Deckung zu wagen und ihm zu nähern. Der Kleine hatte mir ohnehin den Rücken zugewandt und ich musste einfach wissen, was genau er da eigentlich vorhatte. Als Hexer hätte er schließlich den Wind herbeirufen können, um das schwere Trümmerstück zu bewegen. Doch er tat es nicht.

Stattdessen mühte er sich immer verzweifelter ab. »Beweg dich endlich«, raunzte er den Betonbrocken an. »Verdammt! Du musst durchhalten, Aaron! Ich hole dich raus. Hör nur nicht auf zu atmen, ja?«

Aaron? War das der zweite Hexer, dieser große, dunkelhaarige Typ? Hatte der Schutt ihn begraben?

Wie immer, wenn anderen Gefahr drohte, legte irgendetwas in meinem Innern einen Schalter um, der all meine Vernunft, all meine Vorsätze binnen eines Wimpernschlags verpuffen ließ. Eine Eigenschaft, die mich mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte. Ich sollte es inzwischen also wirklich besser wissen …

»Brauchst du Hilfe?«, hörte ich mich trotzdem bereits im nächsten Augenblick fragen.

Der Junge fuhr herum. »Ja, bitte!«, sagte er. »Kannst du mal mit anfassen? Mein Freund ist hier eingeklemmt.«

Ich stieg die letzten Meter zu ihm hinauf und entdeckte eine fast schwarze Haarsträhne zwischen den Holzsplittern. Ja, das musste der andere Hexer sein, eindeutig. Und offenbar blutete er, denn um die Strähne hatte sich eine glitschige rote Pfütze ausgebreitet.

»Ist er bei Bewusstsein?«, fragte ich, während ich meine Arme um den Betonbrocken schlang.

»Nein. Aber zumindest atmet er noch«, meinte der Junge. »Jedenfalls hoffe ich das«, fügte er düster hinzu.

»Okay«, sagte ich. »Bist du bereit? Dann bei drei. Eins – zwei – drei!«

»Drei!«, presste auch der Junge hervor.

Gemeinsam schafften wir es, den Brocken ein Stück anzuheben und schließlich von Aarons Brustkorb zu rollen. Zum Vorschein kamen ein von einer dicken Staubschicht bedecktes, auffallend ebenmäßig geschnittenes Gesicht sowie noch mehr Blut. Das Hemd des Hexers war zerrissen und seine muskulöse Schulter zierten grauenvolle Zahnabdrücke. Noch immer sickerte dunkles Rot aus der Wunde, bei jedem Herzschlag ein bisschen mehr. Eines der Ungeheuer musste ihn erwischt haben. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte (und dass der Arm noch dran war). Doch seine Brust hob und senkte sich tatsächlich in regelmäßigen Abständen und außer der Bisswunde konnte ich keine weiteren Verletzungen erkennen.

»Ich rufe einen Krankenwagen«, sagte ich und kramte mein Handy hervor. Es war eines dieser uralten Teile, die man aufklappen und mit echten Tasten bedienen musste. Und ich brauchte immer noch erschreckend lange, um es zu benutzen. Die moderne Technik der Menschen war für mich nämlich fast genauso schlimm wie ihr leerer Himmel. Einfach komplett unverständlich. Ich starrte auf das Display und versuchte, mich daran zu erinnern, wie man das Mistding entsperrte.

»Nein«, meinte derweil der Kleine. »Danke, ich kümmere mich schon um ihn. Er … kann Krankenhäuser nicht leiden.«

»Aber die Wunde sollte unbedingt versorgt werden«, murmelte ich, den Blick immer noch auf das Handy in meiner Hand gerichtet. Musste man erst die Raute drücken oder …? Auch ich bezweifelte zwar, dass man in einem Menschenkrankenhaus wusste, wie man den Biss eines Donnerdrachen behandelte, aber offiziell hatte ich ja keine Ahnung, was diese beiden Jungen waren, geschweige denn, welche Art von Bestie sie angegriffen hatte. Und vielleicht war ja doch einer der Ärzte eingeweiht und konnte irgendwie gefrorenen Meerschaum organisieren?

Jedenfalls hatte ich mich bereits viel zu weit vorgewagt, indem ich überhaupt nur mit dem Kleinen redete. Unter allen Umständen musste er mich weiterhin für ein gewöhnliches Menschenmädchen halten und Menschen riefen eben Krankenwagen.

»Bitte.« Der junge Hexer legte eine schmutzige Hand auf meinen Arm. »Ich kriege das jetzt allein hin, versprochen.«

Ich musterte ihn einen Moment lang. In seinem Blick lag definitiv ein Anflug von Panik, doch er biss sich mit aller Kraft auf die Unterlippe, um sie vor mir zu verbergen. Mir fiel auf, dass da eine kleine Lücke zwischen seinen Vorderzähnen war, durch die er erleichtert die Luft ausstieß, als ich das Handy zuklappte und wieder einsteckte.

»Geht ihr eigentlich auf unsere Schule?«, fragte ich, weiter die Unwissende mimend. »Was ist denn überhaupt passiert?«

»Wir sind nur zum … also eigentlich, um …« Er räusperte sich. »Wir sind zu Besuch in der Stadt und waren die ganze Nacht über im Regen unterwegs«, erklärte der Hexer, während er begann, seinen reglosen Freund von Holzsplittern zu befreien. »Zufällig haben wir hier ein paar, äh, Bekannte getroffen und dann wurden wir leider von diesem, äh, Anderen, äh, ich meine natürlich von diesem krassen Unwetter überrumpelt.«

Ich nickte. Offenbar war er noch nicht häufig an der Oberfläche gewesen und es nicht gewohnt, sich unauffällig in der Menschenwelt zu bewegen. Ich zog mein Sweatshirt über den Kopf und reichte es ihm. »Versuch, die Wunde damit abzubinden, wir müssen den Blutverlust eindämmen«, sagte ich. »Und außerdem soll die Seeklinik, das ist das Krankenhaus in der Nähe des alten Leuchtturms, sehr gut sein. Vielleicht überlegst du es dir ja.«

Beim Wort »Leuchtturm« hatte sich der Ausdruck im Gesicht des Kleinen verändert. Neue Hoffnung flammte auf einmal in seinen runden braunen Augen auf. »Dann werde ich Aaron dorthin bringen. Hab Dank für deine Hilfe, Menschenmädchen.«

Ich zuckte mit den Achseln und tat so, als hätte ich das »Menschenmädchen« nicht registriert. »Gern geschehen. Aber darf ich fragen, mit was für Bekannten man sich mitten in der Nacht ausgerechnet an unserer Schule trifft?«

»Och, n…nur ein paar …«

Aaron stöhnte auf. Seine Lider flatterten und die Hand seines gesunden Arms zuckte, als wollte er nach einer unsichtbaren Blitzklinge greifen. »Die Drachen«, wisperte er heiser.

Der kleine Hexer räusperte sich.

Doch Aaron fuhr fort: »Damian, hilf mir, beeil dich. Wir müssen die Drachen davon abhal–«

»Oh, super. Er kommt zu sich«, sagte der Junge eine Spur zu laut. »Wir, äh, kriegen das dann ab jetzt wirklich ohne dich hin.« Er schob sich vor seinen Freund, um mir die Sicht zu versperren.

Auf der einen Seite wäre es bestimmt klug gewesen, schleunigst zu verschwinden. Bevor ich mich noch verplapperte oder einer der beiden sich womöglich an die verräterische Prinzessin mit dem spitzen Gesicht erinnerte … Aber andererseits hielten sie mich für ein normales Menschenmädchen, nicht wahr? Da würde es doch sicher nicht schaden, nur noch einen Moment zu bleiben und ein paar unschuldige Fragen zu stellen. Diese Typen hatten die Biester bekämpft und … in die Flucht geschlagen? Sie mussten einfach mehr über diese ganze Sache wissen!

»Also hat euch der Sturm ganz plötzlich überrascht oder –«, begann ich.

»Es war ein Hinterhalt«, nuschelte der gut aussehende Hüne und hustete. »Eigentlich sind wir Sturmjäger. Wir waren auf dem Weg in die Tiefe, um knapp einhundert Blitzklingen auszuliefern. Aber dann entdeckten wir gestern mitten in der Stadt dieses Rudel Donnerdr–«

»Herrje, er redet wirres Zeug«, unterbrach Damian ihn. »Wahrscheinlich hat ihn der Betonklotz auch noch am Kopf getroffen.«

Aaron linste benommen an den Beinen des Kleinen vorbei und es sah beinahe so aus, als zwinkerte er mir zu. »Oh, hallo! Wir kennen uns doch, oder?«

»Nein«, sagte ich. »Und das ist außerdem der älteste Spruch der Welt.«

Er schloss die Augen und lächelte schwach. »Hast recht, auf meiner Prioritätenliste sollte wohl gerade anderes stehen. Zum Beispiel, dass ich ohne Meerschaum bald verbluten werde. Oder zumindest die Frage, wer diese Drachenköder am Strand –«

»Drachenköder?«, entfuhr es mir, während Damian gleichzeitig »Aaron!« rief und seinem Freund schockiert einen Stoß in die Seite verpasste. »Sie ist ein Mensch!«

Drachenköder. Mir wurde schwindelig. Ich hatte davon gehört. Natürlich. Unsere Vorfahren hatten sie einst verwendet, um die Rudel auf die See hinauszulocken. Doch nun hatte jemand es andersherum gemacht und die Bestien auf eine Stadt losgelassen? Wer würde denn so etwas Schreckliches tun? Warum? Und wenn ich mich richtig erinnerte, brauchte man für die Herstellung eines solchen Köders mehr als nur ein einziges Blutopfer …

Aaron versuchte, sich hochzustemmen. »Verdammt, findest du nicht, dass ich schon angeschlagen genug bin?«, blaffte er Damian an und rieb sich den rechten Rippenbogen.

»Halt einfach die Klappe, Mann! Sie ist keine von uns und –«

»Nicht?«

»Äh, also, ich habe echt keine Ahnung, wovon du da sprichst«, beeilte ich mich zu sagen. »Außerdem muss ich los, mein, na ja, mein Bus kommt gleich.«

Ich wollte mich zum Gehen wenden, doch etwas an Aarons Ausdruck hielt mich davon ab. War das etwa Belustigung, die da über seine Züge flackerte? Wenn er grinste, wurde sein Gesicht leicht asymmetrisch, weniger perfekt, aber auch offener. Er bekam da so ein charmantes Grübchen auf der linken Wange und … Ich schüttelte den Kopf, um diesen unsinnigen Gedanken zu vertreiben.

»Nun ja.« Er räusperte sich. »Wäre ich gerade nicht halb tot, hätte ich mir definitiv einen besseren Spruch für dich einfallen lassen«, sagte er und presste meinen Pullover mit seiner gesunden Hand fester auf die Wunde. Für einen Moment schien er Mühe zu haben, bei Bewusstsein zu bleiben, dann fing er sich jedoch wieder. »Aber mal im Ernst, wir sind uns wirklich schon begegnet, stimmt’s?«, fuhr er flach atmend fort. Das Grinsen war verschwunden.

Intuitiv machte ich einen Schritt rückwärts. »Tut mir leid, du musst mich wohl verwechseln«, murmelte ich und biss mir auf die Lippe.

Verdammt, verdammt, verdammt!

Wie konnte es sein, dass ich viereinhalb Jahre lang die perfekte Tarnung aufrechterhielt und nun innerhalb von zwei Tagen plötzlich alles zunichtemachte? Na gut, ich hatte bei der Wahl meines Verstecks nicht damit rechnen können, dass Stürme dieser Art jemals das Festland heimsuchen würden, allerdings –

»Gestern in der Unterführung, das warst doch du an der Treppe!« Aaron runzelte die Stirn. »Wieso bist du abgehauen? Wir hätten deine Hilfe gut gebrauchen können. Das Vieh hatte, wie du hier siehst, noch ein paar Freunde dabei, die gar nicht erfreut –«

»SIE IST KEINE HEXE!«, brüllte Damian und sah so aus, als hätte er seinen Freund am liebsten k. o. geschlagen, traute sich jedoch nicht, weil das Aaron wohl endgültig den Rest gegeben hätte.

»Und wie konnte sie dann den Ostwind befehligen?«, erkundigte sich Aaron.

Nein!

Ich taumelte weiter nach hinten, fort von den beiden. Ich musste weg, nichts war mehr sicher. Wenn sie wussten, was ich war, dann wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie erkannten, wen sie vor sich hatten. Oder?

»Was?«, fragte Damian. »Das soll sie gewesen sein?«

»Also, ich habe ihn gestern Nachmittag jedenfalls nicht herbeigerufen und du –«

Damian schnaubte.

»Entschuldigt, aber ich verstehe immer noch nicht …«, log ich mehr schlecht als recht. »Ach, vergesst es. Geht einfach ins Krankenhaus und lasst diese Wunde versorgen.« Ich wandte mich zum Gehen.

»Warte!«, rief Aaron. »Bist du sicher, dass du heute Nacht nichts auf den Kopf bekommen hast? Ich meine, ich bin doch nicht blöd. Ich habe dich gestern gesehen und heute tauchst du schon wieder an einem Ort auf, an dem ein Anderer gewütet hat. Soll das etwa ein Zufall sein?«

»Ich … nein … ich …«, stotterte ich, dann gab ich es auf. Statt zu antworten, stürzte ich einfach davon, vorbei an den Überresten der Tribünen und zurück in den Durchgang zwischen den Gebäuden. Das hier war viel zu viel. Und viel zu gefährlich. Was war nur in mich gefahren? Ich durfte nicht mit diesen Typen reden! Hexer! Meinesgleichen! Ich musste den Verstand verloren haben.

»Wer bist du?«, versuchte es Aaron weiter, doch Damian redete bereits auf ihn ein. Ich bog um die Ecke der Sporthalle und seine Worte gingen im Dröhnen der Motorsägen unter, die sich nun auch hier ihren Weg durch das Dickicht zu fressen schienen. Das Geräusch schwoll mit jedem meiner Schritte weiter an, bis ich schließlich den Lehrerparkplatz erreichte und einen ganzen Haufen Feuerwehrmänner vor mir fand.

Beinahe hätte ich ausgerechnet den Typen umgerannt, der mich bereits vor dem Haupteingang davongescheucht hatte. »Verdammt, ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt!«, schrie er mich nun an. »Mädchen, du musst von hier verschwinden!«

»Ich weiß«, keuchte ich und lief schon im nächsten Moment die Straße hinunter, als ginge es um mein Leben.

Leider standen die Chancen gut, dass es tatsächlich so war.

Die Worte des Windes

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