Читать книгу Die Worte des Windes - Mechthild Glaser - Страница 16
5 Tanzende Wellen
ОглавлениеMan sollte meinen, dass Fiona, Louisa und ich durchaus in der Lage wären, uns einen Vormittag lang allein zu beschäftigen. Wir waren schließlich keine Kinder mehr. Und wir starben sicher nicht gleich vor Langeweile, wenn mal die Schule ausfiel. In meiner Heimat am Meeresgrund hätten wir in unserem Alter als volljährige Erwachsene gegolten und nicht einmal mehr eine Schule besucht. Geschweige denn, dass man Hexen über zwölf Jahre überhaupt irgendwie pädagogisch betreut hätte. Warum auch, wir konnten doch längst auf uns selbst aufpassen.
Die Menschen, die in vielem anders dachten als die Hexen, sahen das natürlich nicht so. Allen voran Andreas, der noch dazu Spaß daran hatte, uns zu Dingen zu zwingen, die wir nicht tun wollten.
»Och, aber warum denn ausgerechnet Brettspiele?«, murrte Louisa gerade im Wohnzimmer, als ich die WG betrat. »Können wir nicht einfach auf unsere Zimmer gehen? Oder wenigstens einen Film gucken oder so? Ich hasse Mensch ärgere dich nicht.«
»Dann fangt ihr eben mit einem Kartenspiel an.« Andreas warf ein Päckchen Spielkarten auf den niedrigen Couchtisch.
Louisa und Fiona, die beide auf dem Sofa herumlümmelten, rührten sich nicht.
»Los, ein paar Runden Mau-Mau! Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt.«
»Doch«, murmelte Fiona. Sie hielt ihr Handy in der Hand und die Augen fest auf das Display gerichtet.
»Louisa, du mischst. Und jetzt keine Diskussion mehr. Ah, Robin, da bist du ja endlich! Setz dich.« Andreas deutete auf den Sessel ihm gegenüber.
»Nein, danke«, brummte ich und wandte mich in Richtung meines Zimmers.
»Das war keine Frage.«
Ich seufzte. Donnerdrachen nahmen unsere Stadt auseinander und ein Hexer hatte erkannt, was ich war! Ich hatte wirklich keinen Nerv, ein dummes Spiel zu spielen.
»Tut mir leid, aber ich habe im Moment andere Probleme«, sagte ich und verließ den Raum, während Andreas hinter mir hörbar nach Luft schnappte.
»Ihr werdet jetzt, verdammt noch mal –«, begann er, doch ich ignorierte ihn.
Zielstrebig durchquerte ich den Flur. Bereits auf dem Weg hierher hatte ich mit dem Gedanken gespielt, jetzt meinen Kram zusammenzupacken, mir Bo mitsamt Goldfischglas unter den Arm zu klemmen und dann schnurstracks zum Bahnhof zu gehen, um die Stadt zu verlassen. Es würde natürlich nicht leicht sein, sich eine komplett neue Identität zu erschwindeln. Vermutlich müsste ich zumindest wieder für eine Weile das Leben einer Obdachlosen führen. Zu einer wirklichen Entscheidung war ich daher noch nicht gekommen.
Aber allein die Erinnerung daran, wie Aaron mich gemustert und mich auf den Ostwind angesprochen hatte … konnte ich es überhaupt riskieren hierzubleiben? Gab es noch eine Chance, das zu behalten, was ich mir aufgebaut hatte? Oder war es an der Zeit weiterzuziehen? Durfte ich einfach so weiterziehen, wenn derart grauenvolle Dinge wie Andere begannen, dem Meer zu entsteigen und die Menschen um mich herum zu bedrohen?
In jedem Fall brauchte ich Ruhe, um alles gegeneinander abzuwägen. Ruhe und die Chance, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Und keine dämlichen Erziehungsmaßnahmen.
Doch dann erreichte ich meine Tür und rüttelte schon im nächsten Moment vergeblich an der Klinke.
»Andreas hat unsere Zimmer abgeschlossen!«, rief Louisa aus dem Wohnzimmer und nun war ich diejenige, die scharf die Luft einsog. Wie albern war das denn?
Ich kehrte zu den anderen zurück. »Darf ich bitte in mein Zimmer?«, fragte ich genervt.
»Sorry, aber gerade steht eine Gemeinschaftsaktivität auf dem Programm und die ist nun einmal verpflichtend.« Andreas lächelte eine Spur zu süffisant. »Es muss doch möglich sein, dass ihr euch mal für eine halbe Stunde miteinander beschäftigt anstatt mit euren Smartphones.«
Ha, das musste gerade er sagen! Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. »Ich habe nicht einmal ein Smartphone«, sagte ich schließlich leise. »Und außerdem möchte ich bitte, bitte einfach nur allein sein und eine Lösung für … etwas finden.«
»Ach?« Andreas hob die Brauen. »Geht es um einen Jungen?«, fragte er. »Hast du Liebeskummer?« Er seufzte theatralisch.
»Nein«, sagte ich, verdrehte die Augen und sank in den Sessel. Am liebsten wäre ich ins Bad gestürmt und hätte die Tür hinter mir zugeknallt. Etwas in mir drängte sogar immer noch danach, aus der Wohnung zu stürzen und so weit wegzulaufen, wie ich nur konnte. Zu meiner Rolle der Jugendlichen mit sozialen Problemen hätte so ein Verhalten durchaus gepasst …
Dummerweise war es immer schlecht, die Nerven zu verlieren. Besonders wenn die Situation sowieso schon äußerste Vorsicht verlangte. Außerdem war ich nicht der Typ, der eine Szene machte, ich war vielmehr diejenige, die ihre Fähigkeit, unter dem Radar zu fliegen, mit den Jahren perfektioniert hatte. Nur so hatte ich mich an dieses Leben anpassen können, das so ganz und gar anders als alles war, das ich in meiner Kindheit kennengelernt hatte. Je mehr Ärger man machte, umso mehr Fragen begannen die Leute zu stellen …
»Ich … na gut, ich …« Ich senkte die Lider und atmete aus. Verdammtes Wohngruppenleben! »Dann kümmere ich mich eben später darum«, gab ich schließlich klein bei, schnappte mir die Karten und fing an zu mischen.
Erst etwa eine Stunde später erlöste uns Andreas endlich von den Qualen des Spiels. »Na, seht ihr, das hat doch Spaß gemacht, oder?«, fragte er in die Runde und überreichte jeder von uns ihren Zimmerschlüssel, als wäre es ein Preis.
Zur Antwort unterdrückte Louisa ein Gähnen und Fiona verließ wortlos den Raum. Auch ich erhob mich, allerdings hatten sich meine Pläne inzwischen geändert. Sooo furchtbar war das aufgezwungene Mau-Mau nämlich ehrlich gesagt nicht gewesen. Wir alle hatten während des Spielens kaum miteinander gesprochen und das sich immer wiederholende Legen und Ziehen von Karten hatte irgendwie etwas Meditatives gehabt. Zumindest waren meine Gedanken für eine Weile abgeschweift und das hatte mich wohl endgültig vor einer Kurzschlussreaktion bewahrt.
Meine Panik war innerhalb der letzten Stunde sogar beinahe wieder auf ihr übliches Level gesunken. Offensichtlich hatte ich ein Leben, in dem ich Mau-Mau spielen und mich mit einem unsympathischen Sozialarbeiter streiten konnte! War ich nicht inzwischen wirklich nur noch Robin, das Menschenmädchen? Damian hatte nicht eine Sekunde daran gezweifelt, oder? Er hatte mir meine Ahnungslosigkeit zu einhundert Prozent abgekauft.
Und auch wenn dieser Aaron die Überreste der Hexe in mir bemerkt hatte, er war verletzt und vermutlich verwirrt gewesen. Zusätzlich zum Blutverlust hatte er die halbe Nacht unter diesem Betonblock gelegen. Bestimmt hatte dabei auch sein Schädel etwas abbekommen. War es angesichts all dessen nicht sogar sehr wahrscheinlich, dass er mich mittlerweile längst wieder vergessen hatte?
Außerdem würden wir einander eh nie wiedersehen.
Statt also kopflos in mein Zimmer zu hasten und meine Sachen aus den Schränken zu rupfen, angelte ich mir nun, kaum dass Andreas uns entlassen hatte, einen Apfel aus der Schale auf der Anrichte und meinen Schal von der Garderobe, dann war ich auch schon an der Wohnungstür.
»Nanu?«, murmelte Andreas. »Ich dachte, du wolltest unbedingt auf deinem Bett liegen und traurige Liebesgedichte schreiben?«
»Hab’s mir anders überlegt.« Ich zuckte mit den Achseln. »Du weißt doch, wir Teenager ändern unsere Stimmung quasi im Minutentakt.«
»Haha«, machte Andreas und tippte auf seinem Handy, während ich ins Treppenhaus hinaustrat.
Draußen hatte es wieder angefangen zu nieseln und der Wind blies frisch aus nordöstlicher Richtung. Aber das störte mich kaum. Ich biss in den Apfel und schlug den sandigen Pfad ein, der vom ehemaligen Pfarrhaus aus durch die Dünen bis zum Strand hinunterführte. Das Grollen der Wellen war dabei wie immer Musik in meinen Ohren und der süßliche Geschmack des Apfels in meinem Mund beruhigte mich zusätzlich.
Obwohl das Novemberwetter eigentlich nicht dazu einlud, zog ich Schuhe und Strümpfe aus, noch bevor die See in Sichtweite kam. Das letzte Stück des geschlängelten Weges rannte ich barfuß über hölzerne Bohlen und Grasbüschel. Dann versanken meine Zehen endlich im Sand und mein Blick hing an den schiefergrauen Wogen des Ozeans.
Heimat.
Der Geruch von Salz und Seetang stieg mir in die Nase und winzige Tröpfchen der aufgepeitschten Gischt prickelten auf meinen Wangen. Ich konnte das Wasser gar nicht schnell genug erreichen. Wie immer lockte mich das Meer zu sich, rief in mir den Drang hervor, mich einfach hineinzustürzen. Jetzt sofort. In Jeans und Anorak, obwohl die Wellen eisig sein mussten.
Wann immer ich die See erblickte, hatte ich das Gefühl, die Kuppelstädte meiner Mutter unter den wogenden, schillernden Wassern erahnen zu können. Das stimmte natürlich nicht. Die Paläste der Tiefe waren kilometerweit von der Küste entfernt, lagen gut verborgen in den Schluchten und Abgründen des Meeresbodens und die Reise nach Atlantis dauerte selbst in den besten Kesselbooten mehrere Tage. Dennoch bedeckten dieselben Fluten, die hier über den Sand tanzten, auch Fels, Korallen und Muschelkristall des versunkenen Königreichs. Dieselben Fluten, die den Eisglashimmel über den Köpfen meiner Schwestern schützten, kitzelten jetzt gerade vorwitzig die Spitzen meiner Zehen.
Abgesehen davon war die Kälte des Wassers eine Wohltat für meine geschundenen Füße. Auch wenn wir immer noch Menschen waren, unsere Hexenkörper hatten im Laufe der Jahrhunderte ganz langsam angefangen, sich an die Lebensbedingungen unter dem Meer anzupassen. Die Evolution war bereits am Werk. Noch waren es natürlich winzige Veränderungen, kaum der Rede wert, aber doch spürbar: Kälte und Dunkelheit machten uns von Generation zu Generation weniger aus, ebenso wie der Wasserdruck uns nicht mehr schadete. Im Gegenteil: Wenn wir uns zu lange an Land aufhielten, begannen unsere Füße sogar dann und wann zu bluten, weil unsere Haut viel zu dünn und zart war.
In der Regel gab es daher stets irgendeine Stelle an meinen Fersen oder meinen Sohlen, die ich mir wundgescheuert hatte. Als bekäme ich andauernd Blasen von neuen Schuhen, obwohl ich immer nur meine ausgetretenen Sneakers trug. Wie gesagt, es war nichts Dramatisches, man konnte damit leben. Aber es tat so gut, nun durch die Brandung zu laufen!
Ich hatte meine Hosenbeine hochgekrempelt und wanderte langsam am Ufer entlang Richtung stadtauswärts. Irgendwo hinter mir, wo die Dünen zu felsigen Klippen anstiegen und zum Glück längst nicht in Sichtweite, thronte der alte Leuchtturm. Ob Aaron und Damian gerade dort waren und um ein Muschelhorn voller gefrorenen Meerschaums feilschten? Wenn sie schlau waren, verbargen sie Aarons Wunde vor den Händlern, damit die nicht erkannten, wie dringend er auf das Heilmittel angewiesen war. Aber da die beiden behauptet hatten, Sturmjäger zu sein, verstanden sie sich vermutlich aufs Handeln.
Und ich, ich verstand mich darauf, im Verborgenen zu bleiben.
Die Wellen umspielten meine Knöchel und meine Zehen gruben sich bei jedem Schritt in die glitschige Mischung aus nassem Sand, Algen und Muschelscherben. Ich saugte die Seeluft gierig in meine Lunge und spürte förmlich, wie sich der Sturm meiner Ängste und Gedanken bei jedem Atemzug weiter legte.
Ich würde also hier bleiben.
Das Wasser um mich herum glitzerte, wo vereinzelte Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke brachen, als begrüßte es meine Entscheidung.
Das Ganze war selbstverständlich nicht ungefährlich. Der Gebrauch meiner Magie stellte den bisherigen Tiefpunkt meines neuen Lebens dar. Eine unverzeihliche Dummheit, ein Verstoß gegen die wichtigste Regel von allen. Doch wie ich es auch drehte und wendete, die Vorstellung, erneut alles aufzugeben und zu fliehen, erschien mir beinahe genauso grausam wie die Möglichkeit, nach all den Jahren von meiner Familie gefunden zu werden. Und außerdem … Das heute war das erste Mal seit meiner Flucht aus dem Palast gewesen, dass ich mit meinesgleichen gesprochen hatte. Die beiden Hexer hatten mir direkt ins Gesicht gesehen, waren nur eine Armeslänge von mir entfernt gewesen. Aber keiner von ihnen hatte in mir Undina, die siebte Prinzessin, erkannt.
Es kam mir vor wie ein Wunder, doch womöglich war ich mit der Zeit einfach ein bisschen paranoid geworden. Überraschend wäre das bei meiner Vergangenheit jedenfalls nicht.
Ich wirbelte mehr und mehr Wasser auf, während ich nun zügiger voranschritt, als wäre mir plötzlich eine Last von den Schultern gefallen. Weil da eine Hoffnung in mir wuchs, mit der ich nie gerechnet hätte.
Bisher hatte ich immer angenommen, dass selbst die Haarfärbung und die Tatsache, dass ich in den letzten Jahren etwa dreißig Zentimeter gewachsen war, niemanden wirklich täuschen könnten. Mein Gesicht war schließlich für eine lange Zeit auf jede Hagelmünze und jeden ozeanischen Orden geprägt worden. Aber ich hatte mich wohl stärker verändert, als ich geglaubt hatte, und vermutlich –
Etwas Spitzes bohrte sich in meinen rechten Fußballen.
Erschrocken machte ich einen Satz nach hinten, doch zu spät: Blut färbte das Wasser für einen Moment rötlich, meine empfindliche Sohle brannte trotz des kühlen Meeres und das, was da vor mir aus dem Schlick ragte, als sich die Brandung zurückzog, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Mit einem Mal begann ich doch zu frieren. Eine Kälte, die nichts mit dem Wasser oder dem Wind zu tun hatte, fraß sich in meine Magengrube.
Auf den ersten Blick hätte man das Ding für ein Bündel Seetang halten können, in dem sich ein paar Muscheln und Stücke von Treibholz verfangen hatten. Die Menschen wären wohl einfach daran vorbeigegangen. Doch die Algen hatten sich nicht bloß in den Strömungen der Tiefe ineinander verheddert: Sie waren sehr sorgfältig miteinander verknotet worden. Sieben mal sieben Knoten, darauf wettete ich, auch ohne nachzuzählen. Und das waren auch keine Muscheln oder Holzsplitter, die jemand wie Perlen auf die Pflanzenschlingen gefädelt hatte, sondern Knochen. Viele Knochen von unterschiedlicher Größe, längere und kürzere, allesamt glänzend poliert und nadelspitz zugefeilt.
Spitz wie die Zähne eines Donnerdrachen.
Ich schluckte und tat noch einen Schritt nach hinten.
Ein Köder. Die Hexer hatten also nicht gelogen. Jemand versuchte tatsächlich, die Anderen mit Absicht an Land zu locken!
Es war Wahnsinn.
So etwas hatte es in der Geschichte der Wetterhexen noch nie zuvor gegeben! Wer würde gegen das oberste Gesetz unseres Volkes verstoßen und vorsätzlich Menschen in Gefahr bringen?
Wer wagte es, sieben mal sieben Opfer … Blutmagie war verboten, sie war dunkel und gefährlich. Mit ihrer Hilfe konnten starke Zauber gewoben werden, denn sie verstärkte die angeborenen Kräfte einer Hexe. Allerdings nur, wenn man bereit war, eine entsprechende Anzahl an Meeresbewohnern zu töten. Je mehr und je größere Wesen es waren, umso mächtiger die Beschwörung.
Ich fröstelte nun so sehr, dass ich zu zittern begann, während der Köder noch immer vor mir im Sand prangte, eine unaussprechliche Abscheulichkeit, hässlich und böse.
Er musste zerstört werden. Umgehend.
Nein!
Ich seufzte. Das ging nicht. Auf keinen Fall konnte ich schon wieder eine Ausnahme machen und meine Magie benutzen. Verdammt, ich durfte nicht so dumm sein! Es musste eine andere Lösung geben und solange sich kein Mensch in akuter Lebensgefahr befand, konnte ich danach suchen. Ich würde in Ruhe darüber nachdenken und früher oder später … Ja, mir würde schon etwas anderes einfallen!
Ich presste die Kiefer aufeinander, kehrte dem Drachenköder den Rücken und wäre einen Herzschlag später beinahe mit Aaron zusammengestoßen.
»Huch, du hast es aber eilig«, sagte er.
Während ich versuchte, mein Gleichgewicht wiederzufinden, wanderte sein Blick langsam an mir auf und ab.
»Wie …?«, stammelte ich schließlich und starrte ihn ebenfalls an.
Er hatte seine Kleidung gewechselt, statt des zerrissenen Hemdes trug er nun einen Wollpullover. Die Hose hatte er mittlerweile gegen eine helle Jeans eingetauscht und sein Haar glänzte, als wäre es frisch gewaschen. Nur die Stiefel an seinen Füßen waren immer noch schmutzig und mit Salz verkrustet, als wäre er damit bereits viele, viele Male durch die Brandung gestapft.
»Hi«, sagte Damian, der hinter ihm stand. Auch er war sauber und ordentlich gekleidet.
Als wäre überhaupt nichts geschehen …
»Hallo, äh …« Ich wandte mich wieder an Aaron. »W…was ist mit deiner Verletzung?«, fragte ich und deutete auf die Stelle, wo sich die Bisswunde unter seinem Ärmel verbergen musste.
Er zuckte mit den Achseln. »Geheilt natürlich.«
Mein Mund klappte auf und wieder zu. »Aber wie kann das sein?«
Es war keine drei Stunden her, dass ich die beiden auf dem Sportplatz zurückgelassen hatte. Wie waren die Hexer so rasch an den nötigen Meerschaum gekommen? Selbst wenn sie im alten Leuchtturm gleich an den richtigen Händler geraten und sich mit ihm einig geworden wären … es hätte mindestens eine Nacht gedauert, den gefrorenen Schaum aus dem Nordatlantik herbeizuschaffen.
»Wenn man gute Beziehungen hat, geht so manches schneller als gewöhnlich«, war Aarons kryptische Erklärung. »Danke, dass du Damian heute früh geholfen hast.« Er spähte über meine Schulter und zuckte im gleichen Augenblick kaum merklich zusammen. »Ah, ich sehe, du bist auf einen weiteren Köder gestoßen.«
»Tut mir leid, ich weiß wirklich nicht, was –«, begann ich, doch er fiel mir ins Wort.
»Aber du hast gar nichts dagegen unternommen …« Er kniff die Augen zusammen und musterte mich erneut, gründlicher jetzt. Seine Brauen schoben sich hoch. »Wolltest du ihn etwa einfach liegen lassen?« Vorhin hatte bei meinem Anblick noch der Anflug eines Lächelns in seinem Mundwinkel gehangen, doch nun war es plötzlich wie fortgewischt. »Oder hast du ihn gerade dort ausgelegt? Tust du deshalb so, als wärst du keine von uns?«, fragte Aaron scharf. »Ist das deine Masche?«
»Nein!«, rief ich und schüttelte den Kopf. »So etwas würde ich niemals machen! Und ich habe keine Masche.«
Wie unverschämt war dieser Typ eigentlich?
»Hm …« Er verschränkte die Arme vor der Brust. In seinen honigfarbenen Augen blitzte es, unmöglich zu sagen, ob vor Argwohn oder Neugierde. »Nun, wer bist du dann, mysteriöse Hexe, die immer zufällig gerade dort auftaucht, wo ein paar ganz und gar vom Pfad abgekommene Donnerdrachen ihr Unwesen treiben?«
Verdammt! Röte schoss mir ins Gesicht. »Ich … ich«, stotterte ich und spürte im selben Moment, wie die See, die meine Knöchel noch immer umspielte, mir neue Kraft gab. »Mein Name ist Roberta«, log ich schließlich und senkte den Blick. »Aber alle nennen mich Robin. Ich stamme aus dem Ostmeer. Vor ein paar Jahren zerstörte eines der Unwetter dort die Kuppel über unserem Dorf. Mein gesamter Clan kam dabei ums Leben, nur ich wurde an Land gespült und von den Menschen gefunden. Sie nahmen mich bei sich auf und seitdem tue ich so, als wäre ich eine von ihnen, weil …« Ich sah ihm in die Augen. »Na ja, weil alle, die mir etwas bedeutet haben, tot sind und ich nach dieser schrecklichen Nacht nichts mehr mit den Wettern oder der Welt der Hexen zu tun haben will«, presste ich hervor. Ich musste mich nicht einmal anstrengen, ein trauriges Gesicht aufzusetzen, obwohl ich mir das alles gerade aus den Fingern gesogen hatte. Meine Familie war schließlich wie tot für mich.
Und ich für sie.
»Oh«, machte Damian. »Das … tut mir leid. Meine Eltern sind auch gestorben.«
»Ja«, sagte Aaron, seine Lippen bildeten eine schmale Linie. »Trotzdem lockst du deshalb noch lange keine Donnerdrachen an Land, oder, Damian?«
Ich funkelte ihn an, jegliche Traurigkeit schlug augenblicklich in Zorn um. »Wie kannst du es wagen, mir so etwas zu unterstellen?«
»Nun, zuerst treffen wir dich in dieser Unterführung inmitten eines Anderen. Dann tauchst du am nächsten Morgen genau dort auf, wo mehrere Donnerdrachen versucht haben, uns umzubringen. Und jetzt erwischen wir dich hier mit einem Köder.« Aaron schüttelte den Kopf. »Robin, Robin, was denkst du denn, wie das für uns aussieht?«
»Also, erstens habe ich gestern gegen den Anderen gekämpft, und zwar um mein Leben, falls es dir nicht aufgefallen ist.« Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf. »Zweitens wart ihr heute Morgen an meiner Schule und ich war bloß auf dem Weg zum Unterricht. Und drittens habe ich diesen Köder gerade nur zufällig gefunden und war noch am Überlegen, wie ich ihn unschädlich mache.«
»Ganz schön viele Zufälle«, brummte Aaron.
»Tja.« Inzwischen ging der Kerl mir wirklich auf die Nerven. »Dann glaubt mir eben nicht. Allerdings finde ich es viel komischer, dass ihr beiden innerhalb von nicht einmal 24 Stunden ganze drei Mal in meiner Nähe auftaucht«, ging ich nun meinerseits in die Offensive.
»Wir handeln im Auftrag Ihrer Majestät der Tiefe«, sagte Aaron, als wäre allein das Erklärung genug. »Wir jagen Blitzklingen für die Königin und du weißt sicher, aus welcher Art von Stürmen die besten und schärfsten Waffen geschmiedet werden können. Aber natürlich wundern wir uns auch, warum die Biester plötzlich an Land kommen. Deshalb suchen wir die Küste nach Ködern ab und zerstören sie.«
»Toll«, zischte ich und unterdrückte ein Schaudern. Ihre Majestät der Tiefe, meine Mutter höchstpersönlich! Verdammt! Ich versuchte, mich möglichst lässig zum Gehen zu wenden. »Wenn das so ist, dann macht doch am besten gleich hier weiter. Viel Spaß!«
Ich wollte die Hexer stehen lassen, doch dieses Mal hatten sie offenbar mit einem Fluchtversuch meinerseits gerechnet. Noch ehe ich mich an ihnen vorbeischieben konnte, hatte Damian mich gepackt und verdrehte mir derart die Arme auf den Rücken, dass es wehtat. Er war zwar kleiner als ich, aber eindeutig kräftiger.
»Lass mich sofort los!« Ich wand mich hin und her, versuchte vergeblich, mich zu befreien.
»Nicht so schnell«, sagte Aaron und stand plötzlich sehr nah vor mir. Sein Blick bohrte sich in meinen und ich konnte die dunkelbraunen Sprenkel in seiner Iris erkennen. »Robin aus dem Ostmeer«, murmelte er. »Niemand kann dich zwingen, als Hexe zu leben, aber … Ich habe, ehrlich gesagt, noch nie davon gehört, dass jemand von uns freiwillig auf seine Magie verzichtet und sich unter die Menschen gemischt hätte. Und was ist mit deinem Schwur, sie zu beschützen? Den legt man doch wohl auch in den Ostmeeren ab …« Er blinzelte. »Ich verstehe das nicht. Wieso läufst du vor deinem Schicksal davon?«
»Na, weil …« Ich schnaubte. »Das ist echt bescheuert! Könnt ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen?«
»Ich weiß nicht, können wir das? Was meinst du, Damian?«
»Na ja, sie hat uns zwar geholfen, aber sie hat mich heute Morgen auch angelogen«, erklärte Damian in meinem Nacken. »Das war schon irgendwie komisch und … äußerst verdächtig.«
»Höchst verdächtig«, pflichtete Aaron ihm bei.
Ich seufzte und schwieg einen Moment lang. Doch Damian hielt mich noch immer in eisernem Griff gefangen und auch Aaron machte keinerlei Anstalten, mich laufen zu lassen. Mit verschränkten Armen starrte er mich an. Ohne eine Erklärung kam ich hier nicht weg, so viel stand fest.
»Ich habe Angst«, flüsterte ich schließlich ehrlich. »Ich … kann keine Hexe mehr sein, okay?«
Aaron betrachtete mich weiterhin mit dieser undurchdringlichen Miene. Glaubte er mir? »Nehmen wir an, du sagst die Wahrheit und du bist nicht diejenige, die diese Bestien auf die Stadt losgelassen hat«, begann er nach einer Weile. »Es ist nämlich so, hier an der Oberfläche gibt es nicht mehr viele Hexen. Die meisten von ihnen sind uralt und verlassen den Leuchtturm so gut wie gar nicht mehr. Du weißt schon, weil die Meeresspiegel steigen und die Wetter …« Er atmete aus. »Die Alten können kaum noch die normalen Zauber ausführen. Diese Drachenplage wird also wohl oder übel an Damian und mir hängen bleiben und … wir könnten dabei durchaus ein wenig Hilfe gebrauchen.«
»Verstehe«, sagte ich und Aaron nickte.
»Dann bist du dabei? Um die Menschen zu retten, bei denen du lebst?«
Ich presste die Zähne aufeinander und dachte an meine Schule. Wie viele Tote hätte es wohl gegeben, wenn die Donnerdrachen tagsüber anstatt mitten in der Nacht über sie hergefallen wären? Trotzdem … Ich versuchte, Aarons Blick auszuweichen. Das konnte ich einfach nicht tun.
»Du willst also ernsthaft tatenlos dabei zusehen, wie dieser Ort mitsamt all seinen Bewohnern Stück für Stück dem Erdboden gleichgemacht wird?«
Inzwischen biss ich mir so fest auf die Unterlippe, dass ich Blut schmeckte. Als ich blinzelte, verfing sich plötzlich eine Träne in meinen Wimpern. Natürlich konnte ich nicht zulassen, dass Andere diese Stadt zerstörten und Menschen verletzten, aber … Scheiße!
Scheiße, Scheiße, Oberscheiße!
Aaron legte den Kopf schief und während er mich weiterhin unverwandt ansah, stahl sich ganz langsam das Lächeln zurück auf seine Lippen. Es huschte bis zu seinen Augen hinauf und verwandelte sich allmählich zu einem breiten Grinsen, das seine Züge aus dem Gleichgewicht brachte und dieses niedliche Grübchen erscheinen ließ. »Wusste ich’s doch! Schön, dass wir das klären konnten, findest du nicht?«
Ich funkelte ihn an, bis er Damian einen Wink gab und dieser mich endlich losließ.
»Willkommen im Team, Robin aus dem Ostmeer«, sagte Aaron schließlich feierlich und schüttelte meine nun wieder freie Hand. »Dann zeigen wir den Biestern mal, was die Hexenwelt von ihnen hält!« Er wandte sich dem Köder im Schlick zu. »Und als Erstes schicken wir dieses Mistding auf den Grund des Marianengrabens, ha!« Er beugte sich über das Gebilde aus Tang und Knochen.
Ich schluckte und rieb mir die schmerzenden Handgelenke, wo Damian mich gepackt hatte. Derweil rief Aaron bereits nach dem Südwind und ich wusste noch immer beim besten Willen nicht, was ich von alldem halten sollte.