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2. Das Wettbewerbs- und Kartellrecht innerhalb der Gesamtrechtsordnung

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a) Im Kontext der Gesamtrechtsordnung, von dem aus der Jurist jede einzelne Norm und jedes Rechtsgebiet verstehen muss, findet das „Wettbewerbs- und Kartellrecht“ schon deswegen nicht leicht seinen rechten Ort, weil die beiden Teilgebiete, wie gezeigt, in mancher Hinsicht heterogen sind.[1] Die traditionelle dichotome Systematisierung des gesamten Rechts, die den Rechtsstoff in das Privatrecht einerseits und das öffentliche Recht andererseits teilt, scheint jene Zusammenfassung sogar zu verbieten, ja vielleicht nicht einmal die – vom Gesetzgeber doch vorgesehene – Einheit des Kartellrechts selbst zu dulden; gehört das Kartellrecht doch teils dem Privatrecht, teils dem (Wirtschafts-)Verwaltungsrecht und dem Ordnungswidrigkeitenrecht an.

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Die zweidimensionale Systematik, die jener Dichotomie bewusst oder unbewusst zugrunde liegt, entspricht jedoch, wenn sie überhaupt je richtig war, nicht mehr dem geltenden Recht.[2] Die moderne Rechtsordnung wird nämlich von mehr als den zwei fundamentalen Gedanken getragen, nach denen der gesamte Rechtsstoff – wie im 19. Jahrhundert – in die beiden großen, voneinander getrennt gesehenen „Gebiete“, das Privatrecht und das öffentliche Recht, aufgeteilt wurde. Einer dieser „modernen“ Grundgedanken ist der des Wirtschaftsrechts, wie ihn schon Art. 151 WRV formuliert hat.[3] Danach hat der Staat für eine „Ordnung des Wirtschaftslebens“ zu sorgen, die den „Grundsätzen der Gerechtigkeit“ entspricht und die „Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle“ zum Ziele hat. Noch umfassender wird dieser Auftrag durch das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes und die europäischen Verträge ausgestaltet und, namentlich durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs, konkretisiert.

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Daraus und aus dem Kontext der Verfassung ergeben sich die Grundgedanken des Wirtschaftsrechts: Einerseits wird es bestimmt durch den Vorrang und die Gewährleistung privatautonomer Gestaltung auf der Grundlage der Eigentums- und Vertragsfreiheit. Andererseits wird es in vielfältiger Weise durch hoheitliche Elemente mitgestaltet, die nicht nur die individualrechtliche Richtigkeit, sondern auch die gesamtwirtschaftliche Gerechtigkeit des wirtschaftlichen Handelns sichern sollen. Der Einsatz hoheitlicher Elemente wie gesetzlicher Verbote, behördlicher Aufsicht oder gerichtlicher Kontrollen verlangt freilich vom Gesetzgeber eine – den Verhältnissen einer höchst komplizierten Sozial- und Rechtsordnung entsprechende – außerordentliche Sorgfalt, sollen die vom Grundgesetz gesteckten Ziele erreicht werden. Erst wenn dem Gesetzgeber dies gelingt, kommt es zu dem sinnvollen Zusammenspiel privatautonomer und hoheitlicher Elemente, das ein modernes Wirtschaftsrecht charakterisiert.

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b) Das Kartellrecht gehört zu den wichtigsten Teilen des – für alle Branchen einheitlichen –[4] Allgemeinen Wirtschaftsrechts. Für die Wirtschaftsordnung der Marktwirtschaft ist der Wettbewerb der zentrale Koordinierungsmechanismus, das Kartellrecht daher für das Wirtschaftsrecht der Marktwirtschaft die zentrale Rechtsmaterie. Zwar setzt der wirtschaftliche Wettbewerb die Rechtsinstitute des Privatrechts voraus, insbesondere das Unternehmensrecht, das Recht der Güterzuordnung (Sachenrecht, geistiges Eigentum), das Vertragsrecht. Zudem unterliegt er den Einflüssen des überwiegend öffentlich-rechtlichen allgemeinen Lenkungsrechts durch Globalsteuerung (z. B. Geld- und Kreditpolitik) oder Einzelsteuerung (z. B. Subventionen). Doch ist das primär gegen privatautonome Beschränkungen des Wettbewerbs gerichtete Kartellrecht für das Wirtschaftsrecht der Marktwirtschaft konstitutiv.

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Die Vergabe öffentlicher Aufträge steht seit jeher unter dem Wettbewerbsprinzip, das den Vergabeverfahren zugrunde liegt.[5] Die EU-rechtlichen Vorgaben für diese Verfahren, die Aufträge bestimmter Größenordnungen betreffen, setzt der deutsche Gesetzgeber seit dem Jahr 1998 im Vierten Teil (§§ 97 ff) des GWB um und hat die Vergabe öffentlicher Aufträge damit aus dem Haushaltsrecht gelöst. Inzwischen hat das Kartellrecht die Praxis des Vergaberechts nicht unerheblich beeinflusst.[6] Der – sachlich ursprünglich durchaus naheliegende – Gedanke, ein eigenes und umfassendes Vergabegesetz zu erlassen, das dann den Vierten Teil des GWB ersetzen würde, ist unter anderem aufgrund der Durchsetzung des Wettbewerbsgedankens im Kartellvergaberecht mittlerweile nicht mehr zu verfolgen.[7] Da das Kartellvergaberecht mit den Sonderregeln für bestimmte Auftraggeber systematisch zu dem Besonderen Wirtschaftsrecht gehört, wird es im vorliegenden Zusammenhang nicht dargestellt.

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Das Unlauterkeitsrecht wird im Allgemeinen nicht zum Wirtschaftsrecht gezählt. Teilt es doch mit den Rechtsmaterien des Privatrechts den individualschützenden Charakter und – jedenfalls bis in die jüngere Vergangenheit – den Verzicht auf administrative Befugnisse. Von den Rechtsmaterien des Privatrechts, die rechtsinstitutionelle Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Wettbewerb schaffen, ohne sich auf diesen zu beschränken, unterscheidet es sich freilich dadurch, dass es ausdrücklich nur für die in § 2 UWG legaldefinierten „geschäftlichen Handlungen“ konzipiert ist. Zudem schützt es – insofern mit dem Kartellrecht übereinstimmend – auch „das Interesse der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb“ (§ 1 UWG). Zwar ist die einschlägige Fallgruppe („allgemeine Marktbehinderung“ oder „Marktstörung“) klein, sind die Anwendungsfälle selten. Doch ist „das Interesse der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb“ ein typisch wirtschaftsrechtlicher Wertungsgedanke, der auch das Unlauterkeitsrecht in den Kontext gesamtwirtschaftlicher Richtigkeit einbindet.

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c) Das Wettbewerbs- und Kartellrecht wird danach von den Wertungen und Systemzusammenhängen des Wirtschaftsrechts überwölbt. Sie geben den Rahmen für jede juristische Arbeit im Wettbewerbs- und Kartellrecht. Dies hat der Rechtsanwender immerfort zu bedenken. Die Erkenntnis Philipp Hecks, dass der Richter, wenn er den Einzelfall entscheidet, die „ganze Rechtsordnung“ anzuwenden hat,[8] gilt auch und gerade für die Normen des Wettbewerbs- und Kartellrechts. Dies ist deshalb zu betonen, weil das Wettbewerbs- und Kartellrecht zunehmend europäisiert und zum Betätigungsfeld von Spezialisten (besondere Gerichte, spezialisierte Anwälte und Ökonomen) geworden ist, die in der Gefahr stehen, den Kontext der übrigen Rechtsordnung und insbesondere des Wirtschaftsrechts aus dem Blick zu verlieren.[9]

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Auch der de lege ferenda tätige Gesetzgeber tut gut daran, sich den Kontext der übrigen Rechtsordnung und insbesondere des Wirtschaftsrechts zu vergegenwärtigen, wenn er im Wettbewerbs- und Kartellrecht tätig wird. Zwei historische Beispiele mögen dies belegen. So hatte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Transformationsprozess der Länder Mittel- und Osteuropas nicht der Erlass eines Kartellgesetzes höchste Priorität, sondern ein Unternehmens-, Vertrags- und Verfahrensrecht, das zunächst die Voraussetzungen für das Funktionieren von Vertrag und Wettbewerb zu schaffen hatte und den unternehmerischen Wettbewerb ins Leben rufen musste.[10] Auch bei der (De-)Regulierung gewisser Branchen (Versicherung, Kredit, Energie, Verkehr) in Deutschland bestand die Hauptaufgabe zunächst nicht in der Beseitigung oder Einschränkung der sog. Bereichsausnahmen im GWB,[11] sondern in der Eindämmung und Beseitigung der branchenspezifischen Regelungen mit Wettbewerbsbezug im Besonderen Wirtschaftsrecht außerhalb des GWB.[12]

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In der Lehre ist das Wirtschaftsrecht, das sich seit dem I. Weltkrieg als eigenes Rechtsgebiet entwickelt hat und bereits in der Weimarer Zeit zum unangefochtenen Kanon gehörte, bedauerlicherweise zurückgedrängt worden.[13] Unter dem Einfluss des EU-Rechts hat es jedoch wieder an Bedeutung gewonnen.

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d) Das hier betonte Postulat systematischen Arbeitens unterscheidet sich wesentlich von einer allein oder weitgehend auf ökonomische Argumente gestützten Rechtsanwendung. Es fordert die konsequente Eigenständigkeit des Rechts und insbesondere den uneingeschränkten Vorrang der anerkannten juristischen Auslegungsmethoden auch im Bereich des Wettbewerbs- und Kartellrechts. Die (rechts-)politische Frage (nach dem besseren Recht) sowie die ökonomischen Probleme (der Wettbewerbstheorie und -politik) hat der Rechtsanwender zwar häufig in Betracht zu ziehen, aber grundsätzlich nicht zu seiner Aufgabe zu machen, oder, was noch gefährlicher wäre, sie mit seiner eigentlichen Arbeit zu vermischen. Für ihn ist das Kartellgesetz in erster Linie die Magna Charta des Unternehmers.[14]

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Das Postulat der Eigenständigkeit des Rechts im Wettbewerbs- und Kartellrecht ist stets Gefährdungen ausgesetzt gewesen und in Gefahr, aufgeweicht zu werden. In der Vergangenheit war es namentlich gegen die Vertreter „ordnungspolitischer“ Argumentationen zu behaupten, die die Bahnen des rechtlichen Denkens oft zu früh verließen und auf ökonomisch-politische Argumentationen einschwenkten.[15] Auch den jüngeren Forderungen nach einer primär ökonomischen Ausrichtung des Kartellrechts im Sinne eines more economic approach ist das Postulat entgegenzuhalten.[16] Die „Anreicherung“ der rechtlichen Argumentation mit ökonomischen Argumenten hat im Rahmen der teleologischen Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe ihre Berechtigung. Juristen und Ökonomen denken jedoch in unterschiedlichen Kategorien. Die ökonomische Argumentation gerät daher leicht in die Gefahr, sich zu verselbstständigen sowie die methodischen und systematischen Zusammenhänge der Rechtsordnung aufzulösen. Der damit verbundene Verlust an Rechtskultur trifft nicht nur Rechtsberater, Behörden und Gerichte, sondern vor allem die an Rechtssicherheit interessierten Unternehmen und ist deshalb im Sinne des Wettbewerbs als rechtlichem Ordnungsprinzip auf das ersichtlich Erforderliche zu beschränken.[17]

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Dem de lege ferenda tätigen Gesetzgeber steht es freilich zu, „ordnungspolitische“ Zielvorstellungen zu verfolgen oder seine Gesetze auf sonstige ökonomische Gründe zu stützen. Er sollte sich dabei jedoch nicht von unrealistischen Modellannahmen leiten lassen und auf die Praktikabilität der von ihm verwendeten ökonomischen Kriterien bei der Rechtsanwendung durch Unternehmen, Rechtsberater, Behörden und Gerichte achten.

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