Читать книгу Wettbewerbs- und Kartellrecht - Meinrad Dreher - Страница 18
1. Das EU-Recht als vorrangiges Wirtschaftsrecht
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a) Das EU-Recht prägt, ungeachtet seiner Ausdehnung in andere Politikbereiche, vor allem das Wirtschaftsrecht. Seine Normen gelten grundsätzlich unmittelbar und gehen dem Recht der Mitgliedstaaten vor. Nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 EU-Vertrag errichtet die Union „einen Binnenmarkt“. Dieser Binnenmarkt „umfasst“ gemäß dem „Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb“, das nach Art. 51 EU-Vertrag Bestandteil des EU-Primärrechts ist, „ein System, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. Diese Regelungen und Art. 101, 102 AEUV, die ebenfalls den Binnenmarkt in Bezug nehmen, sehen den Markt nicht als wirtschaftstheoretisches Abstraktum oder Modell, sondern als lebendiges mercatum, auf dem sich die Kaufleute und ihre Kunden nach den Regeln des Privatrechts begegnen.[1] Infolgedessen setzen die europäischen Verträge das überkommene Privatrecht der Mitgliedstaaten und dessen Institute, insbesondere die Vertragsfreiheit und das Eigentum, voraus und geben gleichfalls der privatautonomen Gestaltung der Einzelnen den Vorrang, lassen aber auch andere, d. h. stärker hoheitlich geprägte Ordnungen, etwa die Agrarordnung, zu.[2] Diese – rechtliche – Seite des Binnenmarktes wird häufig zugunsten einer ökonomisch-politischen Redeweise von Markt und Wettbewerb vernachlässigt, die jedoch nicht bis zu den institutionellen Voraussetzungen des „Marktes“ vorstößt.[3]
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b) Um sein Ziel, den Binnenmarkt der EU-Bürger, zu erreichen, gibt der AEUV diesen die vier Grundfreiheiten, die sich vor allem gegen die staatlichen Beschränkungen richten: Er gewährleistet den freien Warenverkehr (Art. 28–37), den freien Personenverkehr, und zwar sowohl die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45–48) als auch die Niederlassungsfreiheit der Unternehmen (Art. 49–55), die Dienstleistungsfreiheit, also den freien Abschluss z. B. von grenzüberschreitenden Dienst-, Werk-, Versicherungsverträgen etc. (Art. 56–62), sowie die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art. 63–66). Folgerichtig verbietet er den Staaten grundsätzlich auch, durch Gewährung von Subventionen den Wettbewerb zu verfälschen (Art. 107).
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Diese Grundpfeiler des EU-Wirtschaftsrechts haben die Vertragsänderungen in Maastricht (1992), Amsterdam (1997), Nizza (2000) und Lissabon (2009) überstanden. Zwar verfügt die EU seit einiger Zeit über erweiterte Gestaltungsmöglichkeiten, über mehr „Politiken und Aktionen“ (Art. 175 AEUV), aber zugleich und zu Recht bremsen das Subsidiaritätsprinzip und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. Art. 5 EU-Vertrag) die Union stärker als bisher.
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c) Das EU-Wirtschaftsrecht, das mit der Zeit immer schärfere Konturen gewonnen hat, zeichnet sich durch eine große Eigenständigkeit gegenüber den Rechten der Mitgliedstaaten aus. Es entwickelt auf der Grundlage der noch immer divergierenden Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten eigene Konzeptionen und Lösungen, dies nicht zuletzt in der Rechtsprechung des EuGH. Die Wettbewerbsordnung der EU unterscheidet sich deswegen in mancher Hinsicht auch von der Wettbewerbsordnung des deutschen Rechts. In der fundamentalen Bedeutung von Vertrag und Wettbewerb stimmen sie allerdings überein, wenn auch aus teils unterschiedlichen Gründen: Die EU kann jenseits der Gewährleistungen durch die GrCh anders weder den Binnenmarkt noch das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV verwirklichen (weil das Funktionieren von Vertrag und Wettbewerb am ehesten Diskriminierungen vermeidet); das deutsche Recht gewährleistet hingegen in den Grundrechten den prinzipiellen Vorrang der privatautonomen Gestaltung.
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Heute dominiert das EU-Wirtschaftsrecht das innerstaatliche Wirtschaftsrecht. Das einzelne nationale Wirtschaftsrecht bleibt allerdings im Zusammenhang seiner Rechtsordnung bestehen, auch wenn es in wichtigen Bereichen durch die EU harmonisiert wird. Der EuGH greift in das einzelstaatliche Recht nicht ein, wenn die Elemente eines Sachverhalts „sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen“.[4] Die EU kann mithin keinen „vollkommenen Binnenmarkt“ gewährleisten. Umso mehr kommt es darauf an, die beiden wichtigsten Instrumente des EU-Wirtschaftsrechts, das Kartellrecht (Art. 101 ff AEUV) und das Beihilfeverbot (Art. 107 ff AEUV), konsequent anzuwenden. Einen großen Schritt in diese Richtung hat die VO Nr. 1/2003 getan.[5]