Читать книгу Prophezeiung - Melanie Baumann - Страница 6
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Als ich erwache, ist der Tag noch lange nicht angebrochen und ich fühle mich wie erschlagen. Ein Blick auf mein Handy lässt meine Laune auch nicht steigen. Die Anzeige demonstriert mir, dass ich über 1 Stunde zu früh wach bin und ich fühle mich direkt noch müder als zuvor. Jeder Versuch, noch einmal einzuschlafen, schlägt fehl. Schlussendlich stehe ich frustriert auf und ziehe mich an. Das einzig Positive an der Sache ist, dass ich mehr als genug Zeit habe, um mich für meinen ersten Schultag der neuen Woche fertig zu machen.
Ich setze mich also vor meinen Schminktisch und sehe dem Grauen ins Gesicht. Oje, ja das ist das Grauen. Ich werde viel Concealer und Kaffee brauchen, um nicht auszusehen wie ich mich fühle.
Bei jedem Schritt muss ich meine Finger und Arme überreden ihre Arbeit zu machen und so brauche ich eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mein Spiegelbild endlich einigermaßen akzeptabel finde. Ich kann von Glück reden, dass ich heute nicht direkt Sport habe und mein Make-up damit ruiniere.
Fertig gestylt, schnappe ich mir meine Tasche und begebe mich in die Küche. Meine Eltern schlafen noch. Verständlich um 5 Uhr morgens und ich bin ziemlich neidisch auf die Zwei. Sie liegen in ihrem kuscheligen, warmen Bett, während ich die Kaffeemaschine böse anstarre. Das doofe Ding ist einfach zu langsam für meinen benötigten Konsum.
Ermüdend sehe ich, wie die Maschine Tropfen für Tropfen, meines heutigen Überlebenselixiers in die Kanne abgibt. Ich hole mir alles für ein karges Frühstück aus dem Kühlschrank, setze mich an die Theke und starre wieder gereizt auf die Maschine, welche die Kanne für meinen Geschmack weiterhin viel zu langsam füllt.
Wie ferngesteuert, schmiere ich mir mein Brot und öffne die Instagram App auf meinem Handy, um mir die neuesten Beiträge anzusehen.
Auch die lustigen Sprüche, die meistens voll ins Schwarze meines Lebens treffen, können mich nicht aufheitern.
Unbewusst verschlinge ich 3 ganze Scheiben Brot, wenn ich nicht aufpasse, kann ich bald zur Schule rollen oder muss Diät halten. Etwas, dass ich so wieso nie durchziehen würde.
Endlich macht die Kaffeemaschine die letzten, glucksenden Geräusche und ich frage mich nicht zum ersten Mal, wieso wir so ein Oldschool Ding haben müssen. Wieso haben wir nicht so eine Siebträgermaschine? Wo man ordentlichen, starken Kaffee bekommt, der ein bisschen nach Italien schmeckt. Mom und Dad haben echt jeden Scheiß, der das Leben leichter machen soll. Saugroboter, Fensterroboter, Mähroboter, Alexa, und, und, und, aber die älteste Kaffeemaschine auf diesem Gott verdammten Planeten. Dabei schwärmen sie immer noch von unserer letzten Italien Rundreise, dem traumhaften Kaffee und demGelato. Aggressiv fülle ich meine Tasse randvoll mit diesem schwarzen Gold und verbrenne mir vor lauter Gier die Zunge. Ach was für ein Scheißtag! Wie soll der sich den bitte noch steigern?
Ich stelle die böse Tasse zur Seite und bekleckere mich prompt durch mehr Schwung, als ich mir selbst zugetraut hätte. Na toll, jetzt kann ich mich umziehen. Das war mein Lieblingsshirt verdammt. Das kommt davon, wenn man seinem Arm keine genauen Anweisungen gibt. Möglichst leise stapfe ich wieder in mein Zimmer und wühle mich durch meinen Kleiderschrank, bis ich etwas gefunden habe, das zu meinem Make-up, meinen Schuhen und meiner Tasche passt.
Frisch umgezogen und zurück in der Küche, sehe ich noch einmal zur Tasse und befehle ihr jetzt artig zu sein.
>> Keine Sauerei mehr, klar? <<
Soweit ist es schon gekommen, ich rede mit meiner Kaffeetasse.
Um mich wiederaufzubauen, setze ich mich wieder ans Handy und lese mir die Kommentare zu meinem letzten, eingestellten Buch durch.
Das hätte ich lieber lassen sollen.
Irgend so ein Idiot, der keinerlei Ahnung von der Story hat, macht meine Empfehlung total zunichte. Wahrscheinlich ist das so ein Analphabet, der sonst immer nur Comics anschaut, weil echte Bücher zu wenig Bilder haben.
Ich bin kurz davor, diesem Deppen eine gepfefferte Antwort auf seine bösartigen Worte zu schicken, als mein Blick auf die Zeitanzeige des Handys fällt. Vor Schreck wäre ich fast vom Stuhl gerutscht.
Verflixt, wo ist die Zeit geblieben? Ich lasse alles stehen, was mir mit Sicherheit eine Standpauke einbringen wird. Angeblich finde ich nie den Weg zur Spülmaschine. Ohne weiter nachzudenken, schnappe ich mir Handy und Tasche und stürme aus dem Haus. Im Laufschritt überwinde ich die Distanz zur alten Linde, an der meine Freundin schon nervös hin und her wippend, nach mir Ausschau hält.
>> Was ist denn mit dir passiert? Hast du verschlafen? <<
>> Schön wär’s. << japse ich nach Luft ringend.
>> Oje. So kannst du nicht zur Schule gehen, wir müssen dich erst noch ein wenig herrichten. << erklärt sie und drückt mich auf die Parkbank, vor dem Baum.
Soviel zu, kein Sport. Es ist 7 Uhr und wir haben bereits knappe 20 Grad. Das, zusammengerechnet mit meinem Tempo von eben, lassen direkt den Wunsch nach einer Dusche in meinem Kopf entstehen. Wahrscheinlich ist vom Schweiß mein ganzes Make-Up verlaufen und meine Mühe war umsonst.
>> Sieht es echt so schlimm aus? <<
Sie schüttelt stumm ihren Kopf und sagt mir so auch ohne Worte, welche Katastrophe sie vor sich sieht.
>> Ich mach das schnell, die zwei Minuten haben wir jetzt auch noch. <<
Sie zieht konzentriert ihre rechte Augenbraue nach oben, während sie bereits ihr Notfallkit aus der Tasche zieht. Ich bin echt nicht eitel, aber selbst ich habe soviel Stolz, dass ich nicht am ersten Tag einer neuen Woche, als Vogelscheuche in die Schule gehe.
Leicht verwundert, wie frisch ich aussehe nachdem sie ihre Arbeit getan hat, gebe ich ihr einen Kuss auf die Wange.
>> Vielen Dank, was würde ich nur ohne dich machen? Mein Morgen hat ganz bescheiden angefangen. <<
Sie lächelt mich selbstbewusst an und hakt sich bei mir unter, während ich ihr auf dem restlichen Weg alles erzähle.
>> Na das heißt doch lediglich, ab jetzt kann es nur besser werden. <<
Ahh, Motivations-Tami ist am Start.
Genau zum Gong betreten wir unseren Klassenraum und sind überglücklich, Frau Doktor Specht unsere Klassenlehrerin in Mathe, Englisch und Französisch, nicht vorzufinden.
Es herrscht aufgeregtes Geschnatter und Carolin, meine Sitznachbarin, erklärt mir direkt was das zu bedeuten hat.
>> Wir bekommen gleich neue Schüler einer Austauschklasse, weswegen die Specht sich verspätet. << gackert sie beinahe hysterisch. Ich hoffe, sie wird nicht gleich anfangen zu hyperventilierten. Die freien Plätze sind in U-Form um die belegten Tische verteilt.
Alle wollen möglichst nah am Fenster sitzen und keiner in der ersten Reihe. Beim Gedanken, warum das so ist, überkommt mich sofort Mitleid, mit denen, die das Los treffen wird. Ich sitze in der letzten Reihe am Fenster. Frau Doktor Specht, ja sie besteht auf die volle Anrede, hat mich höchst persönlich auf diesen Platz verbannt. Eigentlich saßen Tami und ich zusammen, doch letzte Woche ist sie, nachdem ich ihr erzählt habe, wie Thomas in Chemie fast Herrn Schröder in die Luft gesprengt hatte, in einen hyänenartigen Lachanfall verfallen. Dieser verursachte zudem Tränen und zu allem Überfluss, die phänomenale Tatsache, dass sie vom Stuhl gefallen ist. Frau Doktor Specht ist bei dieser Vorstellung in erboste Schnappatmung geraten. Das hat uns Nachsitzen, einen Eintrag ins Klassenbuch und eine Zwangstrennung auf Lebenszeit eingebracht.
Mir macht es nicht so viel aus wie Tami, die regelmäßig bei mir abschreiben durfte, aber so ist es schon um einiges ruhiger.
Mit meinen schulischen Leistungen bin ich im Großen und Ganzen zufrieden. Zwar bin ich nicht gerade ein Überflieger, aber ich befinde mich im vorderen Drittel, das ist ein ganz guter Schnitt.
Die beiden Gründe, weshalb es gut ist nicht in der ersten Reihe zu sitzen, besonders bei den derzeitigen Temperaturen, heißen Herr Ostenwald und Frau Fischer-Brühl. Herr Ostenwald, unser Lehrer in Sport und Geografie, ist zwar schon etwas in die Jahre gekommen, aber sehr nett. Jedoch sind, zu unser aller Leidwesen, seine weniger hervorzuhebenden Attribute, seine stark ausgeprägte Schweißbildung und der damit einhergehende Geruch.
Es ist nicht übertrieben, wenn jemand meint, dass seine körperlichen Ausdünstungen vom letzten Knobi- Zwiebeldöner, Übelkeit verursachen. Je wärmer und je länger der Sportunterricht vorher war, um so intensiver ist das Aroma, welches er ausstrahlt. Vor 2 Jahren hat Angelika ihn gefragt, was er zum Frühstück isst und er sagte tatsächlich, er verspeise jeden Morgen eine rohe Zwiebel, die würde ihm Kraft bringen und ein langes Leben.
Ich denke, es ist nicht weiter erwähnenswert, dass sich auch das ein oder andere, unangenehme Lüftchen aus Herrn Ostenwald’s Körper bewegt, dass nichts mit seinem Schweiß oder Atem zu tun hat.
Bei Frau Fischer-Brühl, Lehrerin für Musik und Physik, hat man das Gefühl in einem fortwährenden leichten Sprühregen zu sitzen. Selbst in der zweiten Reihe, ist man vor der starken, lispelnden Ausdrucksweise, die Frau Fischer-Brühl an den Tag legt, nicht immer sicher. Aus diesem Grund hat die zweite Reihe auch ein Päckchen Kleenex vor sich stehen und leidet offiziell unter einem ganzjährigen Dauerschnupfen.
Je mehr ich an diese beiden Lehrer denke, um so größer wird mein Mitleid mit den Neuankömmlingen und um so glücklicher bin ich hier hinten, in Sicherheit und bei der Frischluftzufuhr zu sitzen.
Gerade überlege ich, welche Lehrer wir im Laufe des Tages haben, um mich entsprechend mental zu rüsten, als Frau Doktor Specht den Raum betritt. Es folgen ihr 10 junge Männer, die allesamt aussehen, wie Mitte zwanzigjährige Footballspieler. Mit den Jungs aus der Klasse haben sie optisch nicht viel gemein.
Angelika, Carolin, Bettina, Johanna und Tuilin gaffen die Neuankömmlinge mit geröteten Gesichtern an, als wäre ihre Lieblings-Boygroup eingelaufen. Meine Fremdschäm-Spannweite vergrößert sich gerade in unbekannte Weiten. Es fehlt nur noch, dass sie anfangen zu sabbern und um Autogramme betteln. An sechster Stelle steht Max, der nach einem kurzen Blick über uns alle, mir kurz zuzwinkert und dann bei Tamara hängenbleibt. Ich staune schon gar nicht mehr als ich die Typen von Samstagnacht als Nummer 7 und Nummer 8 ausmache. Nummer 9, der mich geradewegs ansieht, sorgt dafür das mir die Luft wegbleibt.
Mein Blick verhakt sich mit seinem und ich bin nicht in der Lage weg zu sehen. Nummer 9 ist mein Unbekannter, mein Mister X. Er hat die grauen Augen, die mich die letzten Tage und Nächte verfolgt haben.
Ist das möglich?
Nun bekomme ich, um mich herum nichts mehr mit. Es ist, als würde ich mit ihm in einem Tunnel stehen und außer uns, würde nichts existieren.
Die Jungs setzten sich auf einmal in Bewegung und der Blickkontakt bricht ab. Sofort wird mir bewusst, dass ich die Luft angehalten habe und tatsächlich nicht ein Wort von dem verstanden habe, was Frau Doktor Specht gerade erzählt hat.
Nummer 9 setzt sich von Peter verdeckt, seitlich in die Reihe, während einer der Ersten sich an meine Seite setzt und mir offen entgegen lächelt.
>> Hi what's up? nice to meet you. I am Lennox. <<
Mit hochgehobenen Augenbrauen sehe ich Lennox an und bin im ersten Moment sprachlos.
Es könnte sogar sein, dass mein Mund ein wenig offensteht, was nicht an seinem offen gestanden, guten Aussehen liegt. Nein, eher liegt es daran, dass mein Hirn tatsächlich einige Augenblicke braucht, um zu registrieren, dass es übersetzen muss. Normalerweise ist es für mich überhaupt kein Problem. Meine Eltern waren bereits zweimal mit mir in London und jedes Mal haben sie mich gezwungen, die Landessprache zu sprechen.
Am Anfang habe ich noch versucht mich zu wehren, aber nachdem sich meine Eltern schlichtweg geweigert haben zu übersetzen, sind wir aus einem ziemlich teuren Restaurant geflogen. Wir haben, ohne irgendetwas zu bestellen, 30 Minuten lang einen Tisch besetzt. Das kam nicht besonders gut an und am Ende war ich es dann doch, die hungrig an einem Imbiss, unsere Bestellung abgegeben musste. Ehrlich und widerstrebend muss ich zugeben, dass ich dadurch eine der Besten in diesem Fach bin.
Als mein Hirn endlich begonnen hat, seine Arbeit zu verrichten und für mich seine Worte auch einen Sinn ergeben, stelle ich mich ebenfalls bei Lennox vor. Kaum eine Sekunde nachdem ich meinen Satz beendet habe, fährt Frau Doktor Specht mich an.
>> Fräulein Summert, ich habe gerade ausdrücklich erklärt, dass sie mit unseren neuen Mitschülern außerhalb des Englischunterrichts, Deutsch zu sprechen haben. Was haben sie an meinen Worten nicht verstanden? <<
Peinlich berührt, da auf einmal alle Blicke auf mir liegen, senke ich meinen rotglühenden Kopf.
>> Entschuldigung, Frau Doktor Specht. Natürlich, es war eher ein Reflex. Wird nicht mehr vorkommen. <<
Seitlich schiele ich zu Lennox, der mich weiterhin anlächelt als hätte er nicht mitbekommen, dass Frau Doktor Specht mich gerade angeraunzt hat.
Er hat ein wirklich sympathisches Lächeln, mit Grübchen in den Wangen und mit seinen blauen Augen und dem blonden Haaren, hat er etwas Spitzbübisches an sich.
Während ich meinen Blick über die Neuankömmlinge schweifen lasse, denke ich noch, das wird ein spannendes Jahr bei solch einem Klassenzuwachs. Wie hätte ich ahnen können, wie wahr meine Gedanken sind und wie wenig es mit den momentanen Gründen zu tun hat.
Die restliche Stunde wurde in Französische praktiziert und auch diese Sprache ist mir durch diverse Urlaube in Paris nicht fremd. Liegt mir allerdings nicht so gut, wie Englisch.
Mom und Dad sind glücklicherweise auch der Meinung, das Englisch als Weltsprache ausreichend ist, vor allen Dingen, weil unsere Urahnen Engländer waren.
Daher auch mein Nachname, Summert. Mit vollen Namen heiße ich, Sophie Leonore Summert. Was für ein Name. Ich danke meinem Dad immer wieder dafür, dass mein Zweitname stumm geblieben ist.
Mom hatte bei der Namensgebung darauf bestanden, dass mein Zweitname auf meine Vorfahren zurückgeht. Leonore soll angeblich eine der ersten Summert’s sein, aber wer weiß so etwas heute schon noch. Tami ist der Meinung mein Name hätte Star potenzial, Sophie Summert á la Kim Kardashian oder Tina Turner. Ihre Familie stammt ebenfalls aus England und das hat uns direkt zu besten Freundinnen zusammengeschweißt. Nur die beste Freundin, kann schließlich von derselben Insel stammen, wie man selbst.
Ich sitze immer noch auf meinem Platz und sinniere über meinen Namen, als die Ersten aufstehen und den Raum verlassen. Allen Anschein nach hat es gerade zur Pause geklingelt, ohne dass ich es gehört habe. Lennox ist ebenfalls schon aus dem Zimmer verschwunden, aber der Junge mit den grauen Augen, sitzt nach wie vor auf seinem Platz und sieht mich an. Ich werde wieder leicht rot und bin mir nicht sicher, wie ich ohne mich zum Deppen zumachen, aufstehen und den Klassenraum verlassen soll.
Diese Überlegung hätte ich mir allerdings sparen können, denn just in diesem Moment kommt Nummer 8 von der Seite an ihn herangetreten und flüstert ihm etwas ins Ohr.
Beide sehen mich dabei an, als wäre ich ein Alien. Sie verlassen gemeinschaftlich den Raum, noch bevor ich mich irgendwie bewegen konnte. Mit zusammengezogenen Augenbrauen verlasse ich nun auch endlich kopfschüttelnd das Klassenzimmer. Was ist nur mit mir los?
Wir haben Blockunterricht und nur eine kurze Pause für den Raumwechsel, also muss ich mich auch noch sputen, um jetzt nicht zu spät zukommen.
Ich hetze um die letzte Ecke, als ich mit jemanden zusammenpralle und nach hinten umkippe. Meine Tasche macht mir deutlich, dass sie mich nicht leiden kann, indem der Gurt abreißt und sich der Inhalt auf dem Boden verteilt. Im Fallen kneife ich die Augen zusammen, um das unvermeidliche nicht mit ansehen zu müssen. Ich mache mich auf den, mit Sicherheit schmerzhaften Aufprall gefasst, als ich perplex feststelle, dass dieser ausbleibt. Bin ich so stark gestürzt, dass ich die Schmerzen gar nicht mehr wahrnehme?
Langsam öffne ich die Augen und blicke in ein stahlgraues Paar mir gegenüber. Mit voller Wucht werde ich mir der starken Arme, die mich an einen muskulösen Körper pressen, bewusst.
Mein Mund ist plötzlich staubtrocken und meine Zunge liegt starr, wie Zement in meinem Mund. Offenbar bin ich nicht mehr dazu fähig, mich zu artikulieren. Mister X stellt mich langsam und wie ich finde, äußerst behutsam auf die Beine, lässt mich allerdings nicht los. Tami kommt von links an meine Seite gerannt und zerstört diesen unglaublichen Moment, in dem ich gefangen zu sein scheine.
>> Sophie, alles klar mit dir? Hast du dir weh getan? <<
Ihre Augen sind vor Schreck geweitet und sie beginnt mich abzutasten. Während sie ihre Untersuchung vorantreibt, stelle ich fest, dass er mich losgelassen und sich, was noch viel schlimmer ist, um einige Zentimeter von mir entfernt hat.
Ich sehne mich auf mysteriöse Weiße, nach seinen starken Armen und seiner Nähe. Obwohl er weiterhin direkt vor mir steht und mich unumwunden ansieht.
Tamara zwingt mich, meinen Kopf zu ihr zu drehen und unterbricht so meinen Blickkontakt zu ihm, indem sie meinen Kopf mit beiden Händen umklammert hält.
>> Hörst du mich? Ich habe gefragt, ob du Schmerzen hast. Das sah gerade echt übel aus. <<
Bevor sie beginnen kann, mich erneut abzutasten, beruhige ich sie.
>> Ja schon gut. Es ist alles in Ordnung. Ich habe mich nur erschrocken. Du kannst mich loslassen, bitte. <<
Sobald sie meinen Kopf freigelassen hat, drehe ich mich wieder zu ihm um, doch er ist nicht mehr da. Einfach weg. Wie ist das möglich? Es kann nicht mehr als ein paar Sekunden gedauert haben, bis ich mich von Tamara befreit habe. Ich kann es einfach nicht fassen, habe nur ich das gefühlt? Diese plötzliche Verbundenheit kann ich mir doch nicht eingebildet haben. Vielleicht werde ich krank.
Ich fühle mich auf einmal allein, obwohl ich direkt neben meiner Freundin stehe. Sie hat bereits begonnen meine Sachen zusammen zu suchen und stopft sie gerade in die Tasche. Schnell helfe ich ihr dabei, um mich von diesem Gefühl abzulenken und hebe sie mit beiden Händen hoch. Wie ein Schutzschild halte ich sie vor meinem Körper. Als wir den Klassenraum betreten, steht Herr Ostenwald vor der Tafel und sieht uns mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er sagt jedoch kein Wort, wahrscheinlich hat er meine Misere im Flur gerade eben mitbekommen.
Mit gesenktem Kopf eile ich auf meinen Platz in der letzten Reihe, um bloß niemanden ansehen zu müssen. Herrn Ostenwald hat bereits mit dem Unterricht begonnen und quält die Klasse mit den Ausbreitungen des Ganges Deltas, als Lennox beginnt zu flüstern.
>> Are you okay? <<
Ich sehe ihn stumm an und nicke. Ich schaffe es einfach nicht mit ihm zu reden, die ganze Aktion von eben, ist mir viel zu peinlich. Er belässt es dabei und tut so, als würde er dem Unterricht folgen, doch in Wirklichkeit spielt er Hangman auf seinem Collageblock.
Ob er überhaupt ein Wort von dem versteht, was Herr Ostenwald von sich gibt? Bevor ich ihn frage, inspiziere ich erst einmal meine Tasche. Wieso reißt plötzlich dieser verdammte Gurt? Ich habe die Tasche erst im letzten Urlaub gekauft und sie war nicht gerade ein Schnäppchen. Wäre Mom nicht gerade in einem Kaufrausch verfallen, hätte ich die niemals bekommen.
Die Tasche hat sich von der kompletten Oberseite des Gurts gelöst. Komisch, heute Morgen war nichts zusehen, das darauf hätte schließen lassen. Lennox beobachtet mich bei meiner Untersuchung und hebt amüsiert die Augenbrauen.
>> Was? Das ist doch nicht normal, oder? Die war fast neu. <<
>> Bad processing, i think. That happened bad luck. <<
Er rutscht näher an mich heran, um die Naht genauer zu begutachten. Ja toll, Pech gehabt.
>> Die war nicht schlecht verarbeitet! Die war voll teuer.<<
Nach kurzer Analyse meines Gurtes, sieht er mich ein wenig ängstlich an.
>> Please don't hit me, but it's really not well made. The belt was simply sewn and should have been sewn at least twice. Cheap glue was used to compensate for the missing seam. If someone had done it properly, it would have had to be sewn twice and additionally glued properly. I hope you didn't pay that much Princess. <<
Prinzessin? Der spinnt doch.
>> Scheiße! Woher weißt du so was überhaupt? <<
>> Roughly speaking, my parents trade in textiles. You have to pay attention to such things. At some point I became flesh and blood. I recognize bad fake goods in 90 percent of all cases. <<
Sein rechter Mundwinkel hebt sich so, dass sein Grübchen zusehen ist. Er macht ein wenig den Anschein, dass ihm sein Fachwissen peinlich ist, doch ich bin vollkommen fasziniert.
>> Wenn ich das Tami erzähle, zwingt sie dich ab jetzt immer, unsere Shoppingbegleitung zu sein. <<
Lennox fragt mich, ob Tamara auch in der Klasse ist und ich zeige ihm, wen ich meine.
>> I like doing it. Would I have wanted to tell you that my parents are trading underwear? <<
Er mustert sie von Kopf bis Fuß und ich muss lachen.
>> Das kannst du vergessen. Du kommst nur zu normalen Shoppingausflügen mit und du darfst auch nicht mit in die Kabine. Wenn wir großzügig sind, darfst du vielleicht unsere Taschen tragen. <<
>> Vielleicht möchten sie beide der Klasse erzählen, worüber sie sich so amüsieren? <<
Herr Ostenwald ist unbemerkt vor unseren Tisch getreten und sieht uns erbost an.
Gerade wollte ich zu einer Entschuldigung ansetzen als Lennox aufspringt und klar und deutlich in englischer Sprache zur Klasse spricht.
>> Sophie and i have just made out, that we are going to buy underwear with Tamara for the two of them. But we do not want to take them, because they have no fashion taste as you can see more than clearly. <<
Lennox lächelt Herrn Ostenwald noch einmal herzlich an und setzt sich wieder. Wie erstarrt, spüre ich, wie mir zum wiederholten Male an diesem Tag, die Röte ins Gesicht schießt. Die Klasse fängt nach einigen Augenblicken, in denen es totenstill ist, an zu kichern. Herr Ostenwald, der das Gekicher auf sich bezieht, weil er kein Wort von dem Verstanden hat, was Lennox gerade so freimütig erzählt hat, nickt uns zu und geht mit den Worten >> Schön schön, na von mir aus. << wieder nach vorn.
Das löst eine erneute Welle von Gekicher aus und ich wünschte, ich könnte im Erdboden versinken. Erschüttert sehe ich nach vorn zu Tamara, die erst mich und dann Lennox ansieht, mir frech zuzwinkert und die Daumen hebt.
O Mann.
Im Anschluss wandert mein Blick nach rechts, in die Seitenreihe und meine Scham schlägt in Angst um. Mister X sitzt stocksteif und mit zu Fäusten geballten Händen auf seinen Platz. Er funkelt Lennox so böse an, dass ich das Gefühl habe, er müsste gleich leblos von seinem Stuhl fallen.
Lennox und ich reden für die restliche Stunde kein Wort mehr miteinander und ich bin nicht unbedingt traurig darüber. Er hat den Blick von Mister X auch gesehen und ihm lediglich frech zu gezwinkert. Keinerlei Angst oder ähnliches war an seiner Körperhaltung abzulesen, für ihn war es anscheinend echt nur ein Scherz.
Nach den ersten vier Stunden beginnt unsere 15 Minuten Pause und Herr Ostenwald verlässt mit eiligen Schritten den Klassenraum. Wahrscheinlich will er versuchen zu übersetzen, was Lennox von sich gegeben hat.
>> Das nächste Mal stellst du mir den Typen aber bitte erst vor, bevor wir mit ihm Unterwäsche kaufen gehen, ja<< stürmt Tamara nachdem Pausenton auf mich zu, als hinter mir mehrere Stühle umgeworfen werden. Mister X hat sich auf Lennox gestürzt und einen gezielten Treffer auf sein Auge gelandet.
>> Oh nein. <<
Reflexartig will ich hinrennen und ihn davon abhalten, meinem neuen Sitznachbarn noch mehr Schaden zuzufügen. Tamara zieht mich sofort aus der Gefahrenzone. Lennox hat sich schützend die Arme vors Gesicht gezogen und ruft ihm eins ums andere Mal etwas zu.
>> It was just fun! man. Keep cool. <<
>> Keep cool? <<
Erhält er als Antwort und wieder will sich der Junge mit den grauen Augen auf ihn stürzen. Diesmal wird er jedoch von Nummer 8 und Maxwell festgehalten.
Wieso benimmt der sich so idiotisch?
>> Spinnst du? Er hat nur Spaß gemacht. << schreie ich ihn an. Ich sehe ihm direkt in die Augen, als er seinen Kopf zu mir umwendet. Er fokussiert mich so wütend, dass ich das Gefühl bekomme, er würde sich auch gleich auf mich stürzen, doch stattdessen reißt er sich von seinen beiden Kameraden los und stürmt aus dem Raum. Ich geh vor Lennox in die Knie, um mir sein Auge anzusehen und frage, ob sonst alles in Ordnung ist.
>> Yes. << kommt eine abgehackte Antwort und er spricht zornig weiter.
>> You shouldn't have got involved. <<
Wieso ist er denn jetzt wütend auf mich? Hallo, er sollte mir dankbar sein, dass ich dazwischen gegangen bin. Er steht auf und verlässt den Raum als wäre nichts gewesen und ohne mich noch eines Blickes zu würdigen.
Perplex sehe ich zu Tamara und frage, ob ich mir gerade alles eingebildet habe. Die hebt die Schultern und kommentiert die Geschehnisse lediglich mit >> Jungs. <<, hakt sie sich bei mir ein und zieht mich nach draußen.
>> Das war doch nicht normal. << versuche ich das Thema wieder anzuschneiden. Ich kann nicht fassen, dass sie das Geschehene einfach so abtut. Als Bobbi Krause von Frank Walters, zwei Jungen aus der Nachbarschaft, verprügelt wurde, war das für mindestens eine Woche das Hauptthema und jetzt will sie das einfach übergehen.
Was ist mit ihr los?
>> Was soll ich dazu sagen? Vielleicht wollte er einfach nur deine Ehre verteidigen. Du solltest dich geehrt fühlen. <<
>> Ich soll mich bitte was? Der Psycho hat Lennox ein blaues Auge geschlagen. Alles klar bei dir? <<
>> Klar. Jetzt echt, du solltest Lennox lieber den Gefallen tun und die Geschichte nicht mehr ansprechen. Ich glaube, das wäre ihm lieber als bemitleidet zu werden. Mal ehrlich, so astrein, war der Scherz auch nicht. <<
Ungläubig starre ich sie an und schüttle fassungslos den Kopf.
Ich frage sie, ob sie das ernst meint und erhalte lediglich ein >> Ja. << zur Antwort, bevor sie mich einfach stehen lässt und zwischen den Schülern untertaucht. Die letzten Minuten der Pause verbringe ich allein auf einer Bank und blicke verstimmt von einem Schüler zum anderen. Anscheinend mache ich ein so finsteres Gesicht, das sich keiner in meine Nähe traut.
Kurz bevor der erste Gong schlägt, springe ich auf und marschiere zum nächsten Klassenraum.
Als eine der Ersten setze ich mich auf meinen Platz, so kann ich jeden, der durch die Tür kommt genauestens mustern.
Tamara blickt höchstens zwei Sekunden in meine Richtung, ehe sie den Kopf wegdreht und sich auf ihrem Pult geschäftig dem letzten Unterrichtsstoff widmet.
Der Schlägertyp kommt kurz darauf durch die Tür und sucht sofort meinen Blick. Ich sehe ihn herausfordernd und abschätzig zugleich an, soll er doch zu mir kommen und sagen was er für ein Problem hat. Wenn er Kerle wie Lennox verprügelt, kann er es gerne mal bei mir versuchen, ich habe seit 2 Jahren eine Dose Pfefferspray in der Tasche, die ich liebend gerne an ihm ausprobieren würde.
Je länger er mich ansieht, umso aggressiver werde ich. Vielleicht springe ich ja gleich auf und sprüh ihm einfach so eine Ladung in seine grauen Augen. Verdient hätte er es für seine Aktion. Die Lust auf Machtspielchen vergeht mir und ich drehe meinen Kopf zur Tafel, nur um den Kontakt zu unterbrechen. Als ich wieder zur Tür blicke, kommt Nummer 8 mit Lennox im Schlepptau herein.
Beide scheinen ein ernstes Gespräch am Laufen zu haben und gestikulieren wild mit den Armen. Lennox schüttelt ergeben den Kopf, während er ihm brüderlich auf die Schulter klopft. Der Typ setzt sich neben Mister Arsch und Lennox tritt an eben diesen heran. Zu gern wüsste ich, was die beiden besprochen haben. Das Auge von ihm beginnt sich bereits zu verfärben, ist aber zu meinem Erstaunen noch nicht angeschwollen.
Mein Blick verfolgt weiter jede von Lennox’s Bewegungen und als meine Augen über den grauäugigen Jungen hinweggleiten, wird mir bewusst, dass er mich weiterhin beobachtet. Erst jetzt, da Lennox ihn anspricht, schaut er von mir zu ihm. Sie wechseln kurz ein paar Worte und machen dann so einen besonderen Handshake, den nur Eingeweihte hinbekommen.
Lennox wendet sich von ihm ab, um zu mir zukommen und ich beeile mich, woanders hinzuschauen. Nicht nur, dass der Typ mich die ganze Zeit stalkt, ich mache es ja andersherum genauso.
Sobald Lennox neben mir Platz genommen hat, wird klar, dass die Freundlichkeit, die er letzte Stunde noch ausgestrahlt hat, völlig verschwunden ist.
Jetzt wirkt er kalt und distanziert. Er verhält sich, wie ein
anderer Mensch. Hat er solche Angst vor diesem Kerl, dass er sich nicht einmal mehr traut mich anzusehen?
Mehrfach versuche ich ihn zu einer Reaktion oder einem Lächeln zubewegen, doch sein Gesicht ist wie gemeißelt. Ich gebe die Hoffnung auf, heute noch einmal den liebenswürdigen Lennox zu Gesicht zu bekommen und konzentriere ich mich auf den Unterricht, der sich immer weiter in die Länge zieht.
Auf Grund des Schlafmangels reibe ich mir über die Augen, der Stoff ist nicht gerade ein Wachmacher und blicke automatisch zur rechten Sitzreihe.
Wie nicht anders zu erwarten, schauen die grauen Augen mich direkt an. Im ersten Moment kann ich den Ausdruck in seinem Gesicht nicht deuten, doch dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen, er ist zufrieden.
Was für ein selbstgefälliges Arschloch. Wie kann man sich nur so aufführen?
Ich funkle ihn bitterböse an und freue mich innerlich, als ich kurz Unsicherheit in seinem Blick erkenne. Schnell und als wäre nichts gewesen, richtet er sich einige Zentimeter auf und starrt mir arrogant, in Siegerpose entgegen. So ein Idiot.
Ohne einen weiteren Blick an diesen Typen zu verschwenden recke ich mein Kinn und blicke wieder nach vorn. Genau in diesem Moment erkenne ich, dass die Wange von Lennox sich für wenige Sekunden zu einem Lächeln verzogen hat und ich bin mir sicher, dass ich gerade genau das Richtige getan habe.