Читать книгу Mit Anlauf nach Berghimmel - Melanie Weber-Tilse - Страница 10
Kapitel 6
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m nächsten Morgen stand ich pünktlich um sieben Uhr auf der Matte von Daniels Laden. Lächelnd öffnete er mir die Türe und hielt mir eine dampfende Tasse Kaffee entgegen.
Ich trat den einen Schritt in den Laden hinein und musste dann erstmal das Aroma des Kaffees inhalieren und nahm einen großzügigen Schluck von dem Gebräu.
„Mmh, lecker. Ist das eine neue Sorte?“
„Ich war gestern noch im neuen Supermarkt in Kassel. Der hat zum Glück bis um 22 Uhr geöffnet. Neben Backzutaten habe ich auch einige neue Kaffeesorten mitgebracht.“
„Der schmeckt fantastisch. Das wird sicher mein neuer Lieblingskaffee werden.“
Wir gingen zusammen durch den Laden, den Daniel wieder ein wenig umgeräumt hatte, so dass nun noch mehr Platz für eine Kaffeerunde bestand. Die Lücken in den getöpferten Sachen, hatte er auch wieder aufgefüllt und es waren einige wunderschöne Dinge dabei. Vor einem kleinen Elch, der am Rücken gelöchert war, blieb ich verzaubert stehen.
„Den hatte ich noch im Lager. Ich habe gestern Abend nur noch die Löcher in den Rücken gebohrt, so dass er eventuell als Cake Pop Halter genutzt werden kann.“ Leicht beschämt sah mich Daniel an.
„Das ist genial. Hast du noch mehr solcher Ideen gehabt?“
Er führte mich ins Hinterzimmer und mir verschlug es glatt die Sprache. Auf dem großen Arbeitstisch standen verschieden kleine und große Schalen, kleine Tierchen, die alle Lochvorrichtungen für die Cake Pops aufwiesen und Schneemänner, denen man an die kleinen Ärmchen Tütchen mit Plätzchen hängen konnte. Ich wusste gar nicht, wo ich zuerst hinschauen sollte.
„Oh mein Gott. Die sehen wundervoll aus!“
„Danke.“ Daniel sah nun sichtlich stolz aus. „Dann mal an die Arbeit, damit wir die Kundschaft erfreuen können.“
Er hatte auch an kleine Cellophantüten und Stoffbänder in verschiedenen Farben gedacht, um später das Gebäck einpacken zu können.
Ich schälte mich schnell aus meinen Mantel und holte mir die Schüsseln und Zutaten. Zwei Stunden arbeiteten wir ohne Pause. Wir redeten nicht viel und die Arbeit ging schnell voran. Es machte Spaß, mit Daniel zusammen zu arbeiten. Er übernahm das Einpacken und drapieren, was ihm, zu meinem Erstaunen, gut gelang.
Er war so ganz anders als Jan. Jan! Das erste Mal dachte ich wieder an ihn. Eigentlich hatte ich mit mehr Schmerz gerechnet, immerhin waren wir einige Zeit zusammen gewesen. Verdrängte ich die Trennung, würde der Schmerz noch einsetzen, oder war ich so eiskalt geworden? Ich konnte mir die Fragen nicht beantworten.
„Nina?“
„Äh, ja?“ Was hatte mich Daniel gefragt?
„Du warst mit deinen Gedanken anscheinend ganz weit weg.“ Daniel sah mich fragend an.
„Hm, ich habe an meine Trennung gedacht.“
„Entschuldige. Ich bin wirklich ein Trampel. Da plane ich mit dir das Backgeschäft und nehme keine Rücksicht auf dein Befinden.“
„Ich habe mich gefragt, ob ich gefühlskalt geworden bin?“
Daniel war total erstaunt. „Wie kommst du darauf?“
„Weil ich hier stehe und ohne Probleme an meinen Ex denke. Dabei ist die Trennung erst zwei Tage her. Ich müsste doch jetzt mit verheulten Augen auf dem Bett liegen. Mindestens aber mit einer riesengroße Tasse Schokolade bei meiner Mutter in der Küche sitzen.“ Ich nagte mir gedankenverloren an der Lippe.
„Erst einmal kann ich sagen, dass du sicher nicht gefühlskalt geworden bist. Ich bin kein Trennungsexperte, aber entweder verdrängst du jetzt die Gefühle und sie kommen später hervor, oder aber, deine Gefühle für den anderen waren nicht so vorhanden, wie du dachtest.“
„Ich weiß nicht“, seufzte ich. „Aber egal, lass uns die letzten Dinge fertig bekommen, bevor der Laden gestürmt wird.“
Irgendwie kam es mir falsch vor, mit Daniel über die Situation mit Jan zu sprechen.
Ich konzentrierte mich auf die letzten Bleche mit Muffins, die zu Cupcakes werden wollten und gab ihnen ihr Häubchen in verschiedenen Farben und Geschmacksrichtungen und verzierte sie mit bunten Essperlen und winzigen Zuckerstangen.
Pünktlich um neun standen schon die vier netten Damen vor der Tür, die sich gestern um die Kreationen gestritten hatten. Für diese Vier brauchte es wirklich ein kleines Café. So konnten sie den neuesten Tratsch und Klatsch austauschen, die Einkaufenden informieren und natürlich auch beobachten und brachten die Kasse zum Klingeln. Meine Idee für mein eigenes Café nahm immer mehr Formen an.
Auch dieser Tag verlief wieder sehr hektisch. Es hatte sich mittlerweile im ganzen Dorf herumgesprochen, dass es in Daniels Laden nun auch Weihnachtsgebäck zum Kaufen, aber auch direkt die Leckereien vor Ort zu Essen gab. Dies war natürlich ein Magnet für alle. Gerade vor Weihnachten hatte ich dieses Örtchen schon immer sehr geliebt. Die Menschen hier waren herzlich. Aber vor Weihnachten zeigte sich das ganze Potential. Es wurde sich oft zu Kaffee und Kuchen getroffen. Man half den älteren Personen, den Schnee vom Grundstück zu beseitigen, man schmückte das ganze Dorf und es herrschte ein Zusammenhalt, den es nicht mehr oft in der heutigen Zeit zu sehen gab.
Für Städter war es vielleicht total skurril, wir hier aber kannten es nicht anders und wollten es auch nicht anders haben. Sogar die Menschen, die hierher zogen, konnten sich dem Charme des speziellen Zusammenhalts irgendwann nicht mehr entziehen.
Daniel und ich hatten uns für die Vorweihnachtszeit darauf geeinigt, dass der Laden samstags geschlossen blieb, dafür aber sonntags nachmittags geöffnet wurde. Außerdem meinte er, dass ich nur Morgens zum Backen und dann nachmittags zum Kaffee und gegebenenfalls zum Nachbacken erscheinen musste. Das ging aber mal gar nicht. Wenn ich mein kleines Café eröffnen wollte, dann würde ich auch dort immer stehen müssen. Auch wenn es Daniel nicht passte, so musste er einsehen, dass ich den größeren Dickkopf von uns beiden besaß.
Ich mühte mich gerade mit der Torte ab, die ich Judith versprochen hatte, als Daniel zu mir trat.
„Was machst du da? Möchtest du auch Torten mit ins Programm nehmen?“
„Nein, nein. Judith hat mich gebeten, für ihre Nichte eine Fondant-Torte zu kreieren. Thema ist: Die Eiskönigin. Sie dachte, weil ich so schöne Kreationen mit meinen Cake Pops hinbekomme, würde mir so eine Torte sicher leicht fallen.“ Ich fuhr mir frustriert mit den Händen durchs Gesicht.
„Öhm, du hast Mehl im Gesicht.“
„Egal, ich komme nicht weiter. Ich habe das Bild hier liegen, wie die Torte mal aussehen soll, aber irgendwie fühle ich mich gerade total überfordert.“
Ich schaute Daniel hinterher, der sich wortlos rumgedreht hatte und nach vorne in den Verkaufsraum verschwand. Anscheinend waren meine Tortenprobleme langweilig, oder er wollte damit lieber nichts zu tun haben. Ich sah mir immer wieder das Bild an und versuchte, den Rollfondant in Form zu bringen, aber er schien nicht mit mir kooperieren zu wollen. Das sah nicht wie der Rock der Eiskönigin aus, sondern wie blau-gefrorene Schamlippen. Schrecklich, einfach schrecklich.
Ein Husten riss mich von den erfrorenen Schamlippen weg. Daniel stand mit dem Laptop in der Hand vor mir und versuchte entweder einen ganz fiesen Krümel aus dem Hals zu husten, oder aber, was wahrscheinlicher war, einen Lachanfall dezent zu tarnen.
„Was??“
„Ach, nichts“, krächzte Daniel. Der Hals-Frosch hatte gerade mordsmäßigen Spaß.
„Ein Kleid kann doch jeder“, sagte ich pikiert. „Aber eine Eiskönigin auf Schamlippen, ist eine Kunst.“
Daniel war immer noch am Hüsteln. „Wie alt ist die Nichte von Judith?“
„9 Jahre.“
Der Frosch quakte jetzt ganz doll und Daniel konnte kaum noch sein Lachen unterdrücken.
„WAS?“ Ich war jetzt echt verstimmt.
„Ich stelle mir gerade vor, wie Judith mit der Torte auftaucht und stolz die Schamlippen-Königin den neunjährigen Mädels präsentiert, während die Mutter einer Ohnmacht nahe ist“, gluckste Daniel.
„Hmpf.“ Ich war mächtig sauer und hätte am liebsten mit der Faust auf den Kuchen geschlagen.
„Hier. Schau dir lieber das Video an.“ Deswegen war Daniel also aus dem Raum gegangen und hatte nun den Laptop im Arm.
Er stellte ein YouTube Video an, wo die Herstellung der Eiskönigin-Torte zu sehen war. Sofort war ich in das Video vertieft und schaute mir die Schritte der Herstellung an. Daniel verschwand aus dem Hinterzimmer und schloss leise die Tür, damit ich wohl meine Ruhe hatte.
Mir tat der Rücken weh und ich konnte nicht mehr stehen. Ich streckte und dehnte mich und gähnte lauthals. Das war wohl das Zeichen für Daniel, wieder hineinkommen zu dürfen.
„Wohow. Das hat nun wirklich nichts mehr mit Schamlippen zu tun. Nina, das sieht wirklich fantastisch aus!“
Ich betrachtete mein Werk selbst richtig stolz. Das blaue Kleid bauschte sich um den Kuchen herum und stolz präsentierte sich darauf die Eiskönigin. Sie streckte den Arm nach oben und auf der Handfläche tanzten kleine Schneesterne. Für meine erste Rollfondant-Torte, sah sie wirklich hammermäßig aus. Auch wenn der Start etwas holprig gewesen war.
„Könntest du mir beim Einpacken helfen?“ Ich kramte durchsichtiges Einpackpapier hervor, in welches ich die Torte verpacken wollte. Daniel hob vorsichtig das Kunstwerk hoch, so dass ich die Rolle mit dem Papier drunter durchziehen konnte. Mit feinem Draht, den ich mit in die Folie einarbeitete, konnte ich diese stabilisieren, damit die Königin auf keinen Fall kaputt ging, oder aber die Folie im Gesicht kleben blieb. Bänder bildeten den Abschluss und danach trat ich einen Schritt zurück, um mein nun fertiges Werk zu betrachten.
Daniel stellte sich neben mich und wir ließen die Erscheinung auf uns wirken.
„Du solltest solche Torten unbedingt auf Kundenanfrage anbieten. Mit den richtigen Anleitungsvideos wirst du jedes Kunstwerk hinbekommen.“
Man merkte ihm an, wie stolz er auf mich war. Spontan schlang ich meine Arme um Daniel und drückte ihn feste. Ihm hatte ich es zu verdanken, dass mein Traum immer näher rückte und ich in seinem Laden wunderbare Erfahrungen sammeln konnte.
Als ich mich von ihm löste, hatte nicht nur ich Mehl im Gesicht, sondern auf seinem Pulli war ein weißer Wangenabdruck von mir zu erkennen.
„Hups.“
Daniel schaute liebevoll auf mich herab. Er war einen ganzen Kopf größer als ich. Dabei war ich mit meinen 1,70 m nicht wirklich klein. Daniel aber war ein Schrank. Groß und muskulös. Er sah allerdings nicht wie der klassische Schlägertyp aus, sondern wie ein kanadischer Holzfäller. In den letzten Jahren hatte er an seinem Oberkörper ganz sicher noch den einen oder anderen Muskel dazu bekommen. Ganz sicher aber noch mehr aufgebaut. Mit ihm an seiner Seite, würde man jede Apokalypse überleben. Er würde mit den bloßen Händen einem Zombie den Kopf abreißen. Dabei war Daniel überhaupt nicht gewalttätig. Er war ruhig und besonnen. Manchmal sogar zu ruhig, fand ich.
Sogar als er vor Jahren seine Eltern bei einem Autounfall verloren hatte, war er ruhig geblieben. Ihn warf so schnell nichts aus der Bahn. Oder er zeigte es nur nicht.
Ein freudiges Quietschen ließen Daniel und mich auseinander fahren.
„Nina, NINA, whaaaaaa.“
So kannte ich Judith. Wild, überschwänglich, laut, aber total herzlich. Sie fiel mir um den Hals und brachte mich – obwohl sie kleiner war als ich – fast zu Fall. Wie gut, dass Daniel noch hinter uns stand, der mich an der Hüfte festhielt und so unseren sicheren Stand garantierte.
„Die sieht ja wohl bombastisch, hammermäßig, megamäßig, affentittengeil aus.“
„Sei froh, dass du den Anfang nicht gesehen hast“, wiegelte ich ab. „Fast hättest du mit einer Schamlippen-Königin zum Kindergeburtstag gemusst.“ Als Daniel hinter mir lachte, spürte ich das Vibrieren an meinem Rücken. „Und der Herr hinter mir, der gerade wieder an Husten zu leiden scheint, hat das Werk gerettet.“
„Du hast die Torte gemacht?“ Mit weit aufgerissen Augen schaute Judith nun Daniel an.
„Das war schon Nina. Ich hatte nur die rettende Idee auf YouTube ein Herstellungsvideo zu suchen“, antwortete dieser.
„Das hätte mich jetzt auch wirklich gewundert“, meinte Judith und grinste über das ganze Gesicht. „Darf ich sie schon mitnehmen?“
„Aber bitte. Dann läuft sie nicht Gefahr, hier noch beschädigt zu werden.“ Ich half Judith die Torte sicher in ihrem Kofferraum zu verstauen und winkte ihr noch hinterher. Dann ging ich zitternd wieder rein, wo mir Daniel schon eine Tasse mit heißer Schokolade hinhielt.
„Mmmh, die schmeckt lecker. Wo hast du die her?“
„Du hattest heute wirklich nur Augen für deine Torte. Ich habe einen neuen Vollautomaten gekauft. Komm mit, ich stelle dich ihm mal vor.“
Er wollte mich einer Kaffeemaschine vorstellen? Als ich vor dem Automaten stand, wusste ich auch warum. Sicherlich bekam der sogar eine eigene Postleitzahl.
„Und du kannst ihn bedienen?“, fragte ich ehrfürchtig.
„Kein Problem. Ist eigentlich total einfach. Du musst nur …“
„Super“, unterbrach ich ihn. „Du weißt, wie er funktioniert, damit gebe ich mich sofort zufrieden.“
Während er wieder zu einem Kunden in den Verkaufsraum ging, hörte ich ihn leise Lachen. Ich setzte mich mit meiner Schokolade an den großen Tisch im Hinterzimmer und genoss das würzige Aroma.
Aufräumen konnte ich immer noch, jetzt würde ich erst einmal die leckere Schokolade genießen und ein weiteres Konzept in meinen Gedanken durchspielen. Daniel hatte Recht. Die Torten würden sicher sehr beliebt sein. Generell wollte ich keine normalen Kuchen und Torten in das Sortiment nehmen. Aber Torten nach Kundenwunsch mit Rollfondant zu gestalten, das würde mir Spaß machen.
Die letzten vier Wochen vor Weihnachten vergingen wie im Flug. Von den 780 Einwohnern, waren bestimmt 750 von ihnen bei Daniel und mir im Laden gewesen. Die restlichen 30 waren zu jung oder zu alt, um zu uns zu kommen.
Auch wenn Daniel nicht wirklich auf den Laden angewiesen war, so freute er sich enorm über die guten Einnahmen. Seine Eltern waren schon immer sehr wohlhabend gewesen und als sie ums Leben gekommen waren, hatte Daniel das Geld gut angelegt. Den Hof wollte er aber nicht hergeben und so war er nach seinem Informationsstudium wieder nach Berghimmel zurückgekommen. Tiere hatte es schon lange vorher nicht mehr auf dem Hof gegeben. Nach dem Studium wollte er allerdings nicht in dem Bereich arbeiten und hatte den Hof auf Vordermann gebracht, den Laden aufgebaut und Nottiere aufgenommen. Mit der Aufnahme von geschundenen Nutztieren, hatte er sich allerdings am Anfang keine Freunde unter den Landwirten gemacht. Nachdem Daniel ihnen aber nicht auf die Füße getreten war, sondern mit ihnen zusammen Konzepte erarbeitete, wie sie ihre Tiere artgerechter und trotzdem noch effizient halten konnten, war ein Waffenstillstand erreicht worden.
Der Fleischkonsum bestand nun mal weiterhin, daher spielte sich Daniel nicht als Moralapostel auf. Dafür ging es den Nutztieren in und um unser Örtchen herum relativ gut. Die Landwirte arbeiteten eng mit Daniel zusammen.
Die Einnahmen vom Hof nahm er einmal für die Versorgung der Tiere auf dem Hof, zum Anderen hatte er einen Fond gegründet. Dieser ermöglichte den Landwirten, einen Kredit mit niedrigem Zinssatz zu bekommen, um ihren Hof aufrecht zu erhalten.
Auf jeden Fall war der Vorweihnachtsverkauf für alle von uns eine Win-Win-Situation.