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Kapitel 4

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I

ch versuchte, mich so geschickt als möglich zu strecken. Ich war jetzt 6 Stunden unterwegs und es war nicht mehr weit bis zu unserem kleinen Dorf.

Vor zwei Stunden hatte allerdings dichter Schneefall eingesetzt und ich kroch nun wirklich vor mich hin. Das letzte Stück der Strecke kannte ich zwar auswendig, trotzdem musste ich vorsichtig fahren. Mittlerweile lag eine dicke Schicht Schnee und wie erwartet, war hier bei uns im Hinterland kein Winterdienst unterwegs.

Die letzten Kilometer standen nun bevor. Diese musste ich den Berg hinauf schaffen, wo unser Dörfchen lag. Eigentlich musste ich es nicht schaffen, sondern mein armer altersschwacher Corsa. Bisher kämpfte er sich unermüdlich die kurvige Straße hinauf.

Ich konnte kaum noch die Hand vor Augen erkennen. Die Scheibenwischer arbeiteten unermüdlich und ohne mich hätte es mein Autochen sicher nach Hause geschafft. Aber ich saß immer noch hinter dem Lenkrad. Und das war fatal. Die letzte Kurve nahm ich zu euphorisch und Klein-Corsa kam ins Schlittern. Meine Winterreifen waren nicht mehr die Besten. Hatte ich den Wagen in München fast nie gebraucht, so wurde es mir nun zum Verhängnis. Hektisch bemüht, versuchte ich gegen zu lenken, doch der Wagen schob sich unermüdlich Richtung Graben.

Ein Ruck fuhr durch das Auto. Nun war ich also kurz vorm Ziel vom Weg abgekommen. Ich versuchte, nochmal Gas zu geben, aber der Motor heulte nur auf und die Räder drehten durch. Auch das Einlegen des Rückwärtsganges und schubweises Gasgeben halfen nicht. Ich saß im Graben fest.

Frustriert ließ ich meinen Kopf auf den Lenkrad herabsinken. Ich drehte den Zündschlüssel und der Motor verstummte. Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass es erst der Anfang einer Reihe von Pannen war. Denn eine Panne alleine gab es bei mir nicht. Ich saß nun einige Hundert Meter vom Dorf entfernt, mitten im Graben. Mit ein wenig Vorstellungskraft konnte ich sogar die Dächer durch das dicke Schneetreiben erkennen.

Ich nahm mein Handy aus der Halterung, um meine Eltern anzurufen. „Nein“, murmelte ich. Und dann lauter, „verdammt nochmal, das darf jetzt nicht wahr sein!“

Ich hatte genau an der einen einzigen Stelle meine Panne, an der kein Handynetz vorhanden war. Sozusagen ein Funkloch auf dem Berg. Genau an dieser Stelle war unser Bermudadreieck.

Somit blieb mir nichts anderes übrig, als das letzte Stück zu laufen. Oder wenigstens so weit, wie ich wieder Handyempfang hatte. Ich sah nicht gerade erfreut nach draußen in die dichten und großen Schnellflocken. Frau Holle gab jetzt wirklich alles und ich war mir sicher, da halfen noch ein paar Azubis mit.

Ich griff nach meinem Mantel auf dem Beifahrersitz, zwängte mich im Auto schon hinein und drückte gegen die Fahrertür. Ich drückte nochmal. Und noch einmal, bis ich mir eingestehen musste, dass die verdammte Tür nicht aufging.

Ich massierte mir die Schläfen und atmete ruhig ein und aus. Ich schob mich auf die Knie und Richtung Beifahrertür. Hoffentlich ging diese auf. Während ich im Vierfüßlerstand unbeholfen versuchte, die Tür zu öffnen, klopfte es. Ich bekam einen riesen Schreck, Bilder von Massenmördern mit Äxten in der Hand, abgetrennten Köpfen und ganz viel Blut, schossen mir Kinomäßig durch meinen eigenen Kopf. Ich schrie und bäumte mich auf. Als mein Kopf gegen den Himmel des Autodaches stieß, wurde mein Schrei zu einem Wimmern und Stöhnen. Während ich mir mit der linken Hand den Kopf hielt, riss ich mit der rechten Hand beherzt den Rückspiegel ab – der sowieso schon lose war – und drehte mich auf dem Sitz so gut es ging zum Klopfgeräusch hin.

Kampfbereit hielt ich den Spiegel in der Hand, als ich das Gesicht am Fahrerfenster sah. Mein Wimmern wurde wieder zu einem Schrei und vor lauter Angst schmiss ich den Rückspiegel – ich gebe zu, absolut gedankenlos – Richtung Seitenscheibe. Natürlich ging diese nicht zu Bruch, aber das Gesicht verschwand von der Scheibe. Draußen erklang ein Brüllen und nun wurde an der Fahrertür gerissen. Mein Schreien war in ein Jammern übergegangen und ich versuchte mich rückwärts über den Schaltknüppel Richtung Beifahrersitz zu schieben.

Die Fahrertür wurde nun aufgerissen, die Schneeflocken flogen sofort hinein und ich schmiss mich mit einem spitzen Schrei nach hinten. Schemenhaft sah ich die Gestalt näher kommen und trat zu.

„Verdammt noch mal, sind Sie verrückt?“, brüllte die Gestalt. „Wollen Sie mich kastrieren?“

Oh Mist, die Stimme kannte ich doch. Den Schmerz ignorierend und versucht, möglichst meine Stimme unter Kontrolle zu bekommen, fragte ich, „Daniel?“

Ein Kopf tauchte nun vorsichtig an der offenen Tür auf. „Nina, bist du das?“

„Ja“, gab ich kleinlaut zu.

„Wolltest du mich gerade entmannen, oder was war das für eine Aktion?“

Ich schämte mich jetzt wirklich. „Nein, aber als ich hier liegenblieb und dann das Klopfen … ach Menno, ich habe da an den Kopfmörder gedacht.“

Daniel schob sich nun weiter in mein Auto hinein und hielt mir die Hand hin. „Das sind Kindergeschichten gewesen. Du weißt doch, dass dies jedem Jugendlichen hier erzählt wurde – vor allen Dingen den Mädchen – damit sie nicht nachts unterwegs waren.“

Das wusste ich natürlich, aber meine Nerven lagen nun mal blank. Nach all dem Mist, brach ich nun in Tränen aus. Der Schmerz, den ich die ganze Zeit verdrängt hatte, kam nun mit voller Wucht an.

„Scheiße Nina, so war das nicht gemeint.“

Daniel zog mich aus dem Wagen heraus und nahm mich in den Arm. Seine Wachsjacke fühlte sich unangenehm kalt und nass an und doch tat es gut, dass mein alter Jugendfreund mich fest im Arm hielt und ich an seiner Schulter Rotz und Wasser heulen konnte.

„Was ein beschissener Tag“, schniefte ich und löste mich langsam aus Daniels Umarmung.

„Komm, ich nehme dich mit ins Dorf und liefere dich bei deinen Eltern ab.“

Auf der Straße stand der große Range Rover, den Daniel schon lange besaß.

„Könntest du vielleicht mein Gepäck noch…?“

„Steig schon einmal ins Auto ein, ich kümmere mich darum.“

Auf zittrigen Beinen ging ich zu Daniels Auto und stieg ein. Der Motor lief noch und es war mollig warm. Erst jetzt bemerkte ich, dass die kurze Zeit draußen ganz schön kalt gewesen war.

Der Kofferraum wurde geöffnet und die ersten zwei Koffer wurden von Daniel hineingehoben.

„Puh, was schleppst du denn so viel Gepäck mit? Man könnte meinen du würdest hierher ziehen.“ Er grinste mich über die Koffer hinweg von hinten an.

Ich hatte mich auf dem Sitz nach hinten gedreht und spielte nun mit einer Haarsträhne.

„Hups, du scheinst wirklich hierher zu ziehen?“

Auch wenn ich schon einige Jahre nicht mehr hier wohnte, so kannte er die Geste noch von früher. Immer wenn er mit einer Vermutung richtig lag, fing ich unbeholfen an, mit meinem Haar zu spielen. Sogar, als ich die Haare mal rappelkurz gehabt hatte, war dieser Tick nicht verschwunden.

„Ich frage jetzt lieber nicht weiter nach.“

Ich war wirklich froh, dass mich Daniel hier draußen gefunden hatte. Nachdem er das letzte Gepäckstück in seinem Auto verstaut hatte, fuhren wir schweigend zum Dorf. Wie ich es von früher her kannte, war die große Tanne schon geschmückt und das goldene Licht im weißen Schneefall sah einfach traumhaft aus.

Daniel hielt vor dem kleinen Fachwerkhaus meiner Eltern an und ging gleich ans Heck, um die Koffer auszuladen. Während ich noch auf das Haus zuging, wurde schon die Haustür aufgerissen und meine Mutter kam mir entgegen.

„Schatz, wir haben uns schon Sorgen gemacht. Und warum bist du mit Daniel hier? Wo ist dein Auto?“

Hatte sie heute Mittag keine Fragen gestellt, so prasselten diese jetzt auf mich ein.

„Mara, lass unsere Tochter doch erst einmal reinkommen.“

Mein Vater trat an uns heran und nahm mich in den Arm. „Willkommen zu Hause mein Kind.“

Auch mit 25 Jahren war ich immer noch ihr kleines Mädchen. Während mich mein Vater zusammen mit meiner Mutter ins Haus schob, half er Daniel dabei, die Koffer auszuladen.

„Danke Daniel. Möchtest du noch mit reinkommen und dich aufwärmen?“

„Nein Danke Helmut. Ich werde Ninas Auto noch aus dem Graben ziehen, danach müssen meine Tiere versorgt werden.“

Ich trat noch einmal in den Flur, um mich bei Daniel zu bedanken. „Ohne dich wäre das heute ein langer kalter Weg geworden.“ Ich umarmte ihn und ging dann wieder mit meiner Mutter in die Wohnstube. Meine Eltern hatten das Fachwerkhaus vor einigen Jahren gekauft und liebevoll renoviert. Ich würde mein altes Zimmer beziehen. Auf Dauer war das nichts, aber für den Übergang sicher die beste Lösung.

„So Nina. Nun erzähl uns doch bitte was vorgefallen ist.“ Meine Eltern setzten sich zu mir auf die große kuschelige Couchgarnitur und warteten ab, dass ich ihnen die Geschichte erzählte.


Nach einigen Tassen heißer Schokolade und einem kleinen Imbiss später, hatte ich alles meinen Eltern erzählt. Wie ich es von ihnen gewohnt war, hielten sich beide zurück. Weder konnte ich mir anhören, dass sie sich das gleich gedacht hatten, noch schimpften sie über Jan.

„Es ist schon spät und ich bin hundemüde. Ich werde mal ins Bett verschwinden.“ Ich gähnte herzhaft. Ich gab meinen Eltern einen Kuss auf die Wange und verschwand in mein altes Kinderzimmer. Zum Glück gab es ein kleines Bad, was nur mir gehörte. Nachdem ich mich fertig gemacht hatte und im Bett lag, rasten meine Gedanken. Was war das nur für ein beschissener Tag gewesen. Wieso war mir früher nicht aufgefallen, dass Jan nicht zu mir stehen würde? Wie konnte ich nur so blind gewesen sein?

Obwohl ich total müde war, konnte ich lange nicht einschlafen, denn die Bilder spulten sich immer und immer wieder in meinem Kopf ab. Leise vor mich hinweinend fiel ich irgendwann in einen unruhigen Schlaf.

Mit Anlauf nach Berghimmel

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