Читать книгу Tod am Lagerhaus - M.H. Murray - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеSarah Williams betrat ihr kleines Apartment, ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und lehnte sich mit dem Rücken gegen die harte, kühle Holzoberfläche, während sie hörbar ausatmete. Sie hatte den Tag wirklich ohne Nervenzusammenbruch überstanden, obwohl sie vorher daran gezweifelt hatte. Auch wenn sie sich kaum noch an die Einzelheiten erinnern konnte, hatte sie die Beerdigung hinter sich gebracht. Sie wusste nur noch, dass sie gefroren hatte und es hatte ganz sicher nicht am Wetter gelegen, denn der August in Los Angeles war nicht gerade winterlich.
Langsam begann sich die Anspannung in ihr zu lösen und Sarah spürte, wie ihre Hände zitterten und ihre Augen feucht wurden. Sie löste sich von der Tür, ging in das Badezimmer, stellte sich an das Waschbecken, drehte den Hahn auf und benetzte ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Sie musste endlich diese Bilder loswerden, diese schockierenden Filmfetzen, die sie in jeder einzelnen Nacht der letzten zwei Wochen schweißgebadet hatten aufwachen lassen.
Kopfschüttelnd machte sie sich auf den Weg in ihr winziges Schlafzimmer, zog sich dort aus und schlüpfte in ein riesiges T-Shirt und ihre bequemen Schlafshorts. Sarah schaltete den kleinen Fernseher ein. Sie brauchte Geräusche als Ablenkung. Einen Moment überlegte sie unschlüssig und huschte dann in die Küche, um ein Glas und eine volle Flasche Whisky aus dem Schrank zu holen.
Sarah wusste nicht, wie lange die Flasche dort schon gestanden hatte, irgendjemand hatte sie ihr einmal geschenkt. Sie mochte eigentlich gar keinen Alkohol – vor allem wegen der unerwünschten Nebenwirkungen, die er bei ihr auslöste. Sie wurde nicht nur streitlustig und rechthaberisch, wenn sie etwas getrunken hatte, sie wurde oft auch albern wie ein kleines Mädchen und sie hasste die peinlichen Momente, wenn sie sich am nächsten Tag an ihr Verhalten erinnerte.
Doch heute war es anders. Sie brauchte etwas, um ihre Gefühle zu betäuben - und hoffentlich auch ihre Albträume. Sie lief barfuß zurück in das Schlafzimmer, setzte sich auf das Bett, zog die Beine unter ihren Körper und schenkte sich den ersten Whisky ein.
„Bäh widerlich“, schüttelte sie sich, als sie das Glas in einem Zug geleert hatte und ihre Kehle wie Feuer brannte. „Aber genau das, was ich jetzt brauche.“
Erneut füllte sie das Glas mit der golden funkelnden Flüssigkeit, denn der erhoffte Effekt blieb noch aus – im Gegenteil, die Ereignisse der verhängnisvollen Nacht spielten sich erneut in ihren Gedanken ab:
***
„Mit Milch, ohne Zucker, richtig?“, fragte Sarah, als sie ihrem Kollegen den Becher reichte.
„Ganz genau. Sie haben wirklich das Zeug zu einer guten Ermittlerin“, entgegnete Detective Rodriguez grinsend.
„Ich BIN eine gute Ermittlerin, sehen Sie!“ Sarah hielt ihm ihre Dienstmarke vor die Nase. „Hier steht Los Angeles Police Department – Mordkommission. Auch wenn ich erst seit einem halbem Jahr Detective bin, ich habe es mir verdient.“
„Langsam, langsam“, wehrte Rodriguez ab. „Daran habe ich auch nicht gezweifelt. Es war eigentlich nur als Anerkennung gemeint, auf etwas lockere Art.“
Sarah atmete durch.
„Sie haben recht. Es tut mir leid, dass ich überreagiert habe“, entschuldigte sie sich. „Ich werde schon langsam paranoid, weil Captain Mancini mich ständig so behandelt, als würde ich nicht hier her gehören, als wäre es der falsche Job für mich.“
„Ach was, er ist nun mal keine Schmusekatze“, winkte Rodriguez ab. „Sie werden hier niemanden finden, der jemals von Anthony Mancini ein Lob bekommen hat, also denken Sie nicht weiter darüber nach.“
„Weil es auch noch keiner verdient hat!“, ertönte die laute Stimme des Captains von der Tür aus und ließ Rodriguez zusammenzucken.
Mancini ließ seinen strengen Blick durch das Büro schweifen.
„Und falls Sie es vergessen haben sollten, wir sind die Mordkommission und nicht die Cafeteria, also an die Arbeit!“
„Ja Captain“, murmelten beide eingeschüchtert und gingen zu ihren Schreibtischen.
„Ach und noch was, Sie haben recht; ich schnurre nicht wie eine Katze, ich brülle wie ein Löwe“, fuhr der Captain Rodriguez an, bevor er wieder in seinem Büro verschwand.
Sarah hielt sich die Hand vor den Mund, denn sie musste unwillkürlich über den erschrockenen Gesichtsausdruck ihres Kollegen lachen. Sie wusste aber, dass er es ihr nicht lange übel nehmen würde. Auch wenn die anderen sie immer noch als Küken behandelten, gab es – außer dem Captain vielleicht – niemanden, der ihr in irgendeiner Form ablehnend gegenüber getreten war.
Sarah arbeitete sich weiter durch die Protokolle von Zeugenaussagen und Vernehmungen. Es würde sicher die ganze Nacht dauern, bis sie damit fertig werden würde. Der Stapel auf ihrem Schreibtisch war so hoch, dass sie kaum darüber hinweg schauen konnte.
„Rodriguez! Williams!“
Sarah zuckte zusammen, als der Captain aus seinem Büro gestürmt kam.
„Zwei Tote mit Schusswunden bei einem Lagerhaus am Hafen, Dock 17“, informierte er sie. „Die Opfer sind Polizeibeamte.“
„Polizisten?“, fragte Rodriguez geschockt nach, während Sarah ihren Vorgesetzten nur wortlos anstarrte.
„Sagte ich doch“, bestätigte Mancini. „Was ist? Sie sind ja immer noch hier!“
„Schon unterwegs, Captain.“
Die beiden sprangen auf und eilten hinaus. Rodriguez packte die Warnleuchte auf das Dach des Autos, während sie vom Parkplatz fuhren. Sarah saß schweigend auf dem Beifahrersitz, ihren Blick starr nach vorn gerichtet. Es war nie angenehm, ein Mordopfer zu sehen, aber in diesem Fall waren es sogar Kollegen von ihnen. Vielleicht kannten sie die beiden sogar. Je näher sie dem Tatort kamen, desto stärker spürte Sarah ihr Herz pochen. Sie bogen in eine kleine Gasse zwischen riesigen Lagerhäusern ein und sahen vor sich das rote und blaue Blinken der Warnleuchten auf den bereits eingetroffenen Streifenwagen.
Rodriguez parkte den Wagen und sie stiegen aus. Sarah betrachtete die Szene vor sich, während sie auf das im Wind flatternde Absperrband zu schritten. Mindestens zehn uniformierte Beamte liefen geschäftig umher, stellten Scheinwerfer auf oder durchsuchten die Umgebung mit Hilfe ihrer Taschenlampen.
„Was zum Teufel macht der Streifenwagen dort direkt am Tatort?“, hörte Sarah jetzt eine tiefe Stimme laut und zornig brüllen.
„Der Streifenwagen ist der Tatort, Sergeant Brooks“, kam die etwas schüchterne Antwort eines Officers, der offensichtlich das Absperrband bewachte, das Sarah und Rodriguez jetzt erreicht hatten.
Sie zeigten ihre Dienstmarken und wurden sofort durchgelassen. Die Beifahrertür des Streifenwagens stand offen und der Oberkörper des getöteten Officers war herausgesackt, während seine Beine sich noch im Inneren des Autos befanden.
Sarah schaltete ihre Taschenlampe ein, beugte sich hinunter und betrachtete den Toten.
„Drei Einschüsse in der Brust. Die Sicherung des Holsters ist offen, aber er hat es offensichtlich nicht mehr geschafft, die Waffe zu ziehen.“
„Ja“, bestätigte Rodriguez ihre Beobachtungen. „Kennen Sie ihn?“
Sarah schüttelte den Kopf.
„Ich glaube nicht.“
„Officer Tim McFadden“, klärte der junge Polizist, der ihnen gefolgt war, sie über das Opfer auf.
„Der Name kommt mir aber irgendwie bekannt vor“, murmelte Sarah, als sie wieder aufstand.
Sie gingen um das Auto herum zur Fahrerseite.
„Der andere hatte überhaupt keine Chance“, berichtete der junge Polizist weiter. „Officer …“
„Ben Richards“, beendete Sarah seinen Satz und blieb erstarrt stehen.
Der Tote saß noch hinter dem Steuer, die Splitter der zerschossenen Seitenscheibe überall auf seiner Uniform verstreut und zwischen seinen Augen waren zwei Einschusslöcher zu erkennen.
„Sarah? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte Rodriguez besorgt, denn ihm war trotz der schlechten Beleuchtung aufgefallen, wie blass sie plötzlich wurde.
Anstatt ihm zu antworten, rannte sie los, verschwand hinter dem Müllcontainer, der an der Wand des einen Lagerhauses stand, und musste sich dort zweimal übergeben. Sie atmete mehrmals tief durch, als sie sich wieder aufrichtete und zwang sich, ruhig zu den anderen zurückzugehen.
„Wollen Sie sich lieber ins Auto setzen? Ich kann auch allein weitermachen“, bot Rodriguez ihr an.
Doch Sarah schüttelte den Kopf.
„Nein, es geht schon wieder.“
Sie wollte jetzt nicht allein sein und sie wollte auch keine Schwäche zeigen. Sie war sich sicher, Captain Mancini würde darauf nur warten.
„Okay“, nickte Rodriguez. „Ich gehe also davon aus, Sie kannten Officer Richards?“
Sarahs Blick fiel erneut auf das erstarrte Gesicht des toten Polizisten.
„Benny war mein bester Freund – seit ich fünf war“, bestätigte sie leise.
„Das tut mir sehr leid“, sagte Rodriguez und legte mitfühlend seine Hand auf ihre Schulter.
„Danke Emilio“, erwiderte sie leise und schaute zu ihm hoch, da er fast einen Kopf größer war als sie. „Lassen Sie uns weitermachen.“
Sie wandte sich dem jungen Polizisten zu.
„Was können Sie uns noch sagen? Warum waren die beiden hier?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Das ist noch nicht klar. Vermutlich haben sie irgendetwas Verdächtiges bemerkt. Laut Zentrale wurden sie weder hier her geschickt, noch haben sie eine Meldung durchgegeben. Vor 80 Minuten ging ein anonymer Notruf ein. Ein Mann sagte, er habe hier mehrere Schüsse gehört.“
Sarah leuchtete mit der Taschenlampe in den Wagen.
„Vermutlich wollten sie gerade die Meldung durchgeben. Das Mikrofon des Funkgerätes ist nicht in der Halterung und hängt herunter.“
Rodriguez nickte.
„Sieht so aus. Da soll sich die Spurensicherung mit beschäftigen. Wo sind die eigentlich? Und der Gerichtsmediziner?“
„Kommen gerade an“, berichtete der junge Polizist.
„Okay, würden Sie sie gleich herbringen?“
„Aber natürlich.“
Rodriguez blickte ihm kurz hinterher und wandte sich dann Sarah zu.
„Was denken Sie?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Es waren mindestens zwei Täter, denn sie wurden aus verschiedenen Richtungen erschossen. Man hat ihnen keine Chance gelassen und wie es aussieht, passierte alles aus unmittelbarer Nähe. Sieht ganz nach Profis aus, die so etwas nicht zum ersten Mal getan haben.“
Rodriguez nickte zustimmend.
„Das war fast wie eine Hinrichtung. Leute, die so etwas machen – noch dazu mit Polizisten …“ Er runzelte die Stirn. „Das sieht man nicht oft. Ich frage mich, über was die beiden hier gestolpert sind.“
Inzwischen waren die Mitarbeiter der Spurensicherung eingetroffen und hatten ihre Arbeit aufgenommen. Für die beiden Detectives der Mordkommission war die Arbeit am Tatort erst einmal beendet. Bevor sie zu ihrem Wagen gingen, fiel Sarahs Blick noch einmal auf ihren toten Freund und ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie wusste, dieses Bild würde sie von jetzt an verfolgen, aber sie schwor sich, den Mörder von Benny zu finden.
Doch das sollte nicht so einfach werden, denn am nächsten Tag erfuhr sie von Captain Mancini, dass sie nicht weiter an diesem Fall arbeiten würde. Er hatte ihn Rodriguez und O’Neill übergeben, weil diese seiner Meinung nach mehr Erfahrung hatten und auch nicht auf persönlicher Ebene betroffen waren. Er hatte versucht, ihr zu erklären, dass kein Verdacht aufkommen durfte, die Ermittlungen würden zu einem privaten Rachefeldzug der Polizei werden. Sarah hielt das alles für faule Ausreden, aber er war nun einmal ihr Vorgesetzter.
Es fühlte sich schrecklich an, Benny verloren zu haben, aber noch unerträglicher war es für sie, nichts tun zu können. Er war ihr einziger Freund gewesen. Mit allen anderen aus der Schulzeit oder vom College war der Kontakt irgendwann abgerissen. Und da sie völlig in ihrem Job aufging, war ihr Privatleben so gut wie nicht existent und sie hatte in den letzten Jahren keine Gelegenheit gehabt, neue Freunde zu finden.
Rodriguez und O’Neill hielten sie unter der Hand über die Ermittlungen auf dem Laufenden – ohne dass der Captain darüber etwas erfahren durfte. Es hatte sich bestätigt, dass die Opfer mit zwei verschiedenen Waffen aus kurzer Distanz erschossen worden waren. An der Stelle, an der einer der Schützen gestanden haben musste, war ein silberner Kugelschreiber gefunden worden.
Sie hatten außerdem herausgefunden, dass das eine Lagerhaus leer stand und das andere vermietet war - an einen Kunsthändler, der auch eine Galerie besaß. Der Mann hieß David Graham. Durch einen Kontakt beim FBI hatte ihr Chief erfahren, dass Graham wohl schon länger unter dem Verdacht stand, im großen Stil zu schmuggeln - ob nur Kunstschätze oder auch andere Dinge wie Drogen, da ließ sich das FBI offenbar nicht in die Karten sehen. Fest stand nur, dass Graham nie etwas nachgewiesen werden konnte, aber die Information hatte ausgereicht, um diesen Kunsthändler zu einer Befragung einzubestellen.
Graham hatte sich nicht geweigert. Er hatte sich kooperativ gezeigt und sogar freiwillig seine Fingerabdrücke abnehmen lassen. Als sich jedoch herausgestellt hatte, dass seine Fingerabdrücke mit denen auf dem Kugelschreiber am Tatort übereinstimmten, hatte Graham seinen Anwalt eingeschaltet, der sofort mehrere Zeugen präsentiert hatte, die den Kunsthändler am Mordabend auf einer Ausstellung gesehen haben wollten und so hatten sie ihn wieder gehen lassen müssen.
Sarah war sich seitdem trotzdem sicher, dass Graham hinter den Morden steckte, doch offensichtlich kamen Rodriguez und O’Neill mit den Ermittlungen keinen Schritt mehr weiter. Immer wieder schossen ihr Bilder von Benny durch den Kopf, sein Lachen, seine Scherze, ihre gemeinsamen Judostunden – Sarah war zwar klein und zierlich, aber Benny hatte sie immer als gefährlich wie eine Tigerin bezeichnet, wenn er wieder einmal einen Kampf gegen sie verloren hatte. Er war es auch, der sie damals mit beeinflusst hatte, Polizistin werden zu wollen.
Sie hatte begonnen, alle Informationen über Graham zu sammeln, die sie bekommen konnte – vor allem im Internet. David Graham war 36 Jahre alt, groß, sportlich, dunkelhaarig. Sarah musste sich eingestehen, dass er auf den Fotos wirklich attraktiv aussah und sein Lächeln durchaus anziehend wirkte. Aber das spielte keine Rolle. Wichtig war für sie nur, wer der Mann hinter der Fassade war – offensichtlich ein kaltblütiger Mörder. Graham hatte seine Galerie vor sechs Jahren eröffnet und schien sehr erfolgreich zu sein, auch im internationalen Kunsthandel. Er besaß teure Sportwagen und eine Villa in den Hügeln von Hollywood. Er war nicht verheiratet und angeblich auch nicht in einer festen Partnerschaft. Auf einigen Fotos sah man ihn in Begleitung verschiedener junger Damen. Sarah war aufgefallen, dass alle blond waren. Ob da jemand eine Vorliebe für Blondinen hatte?
Sie hatte gestaunt, als sie gelesen hatte, was alles für Stücke in seiner Galerie ausgestellt wurden. Obwohl ihr Herz der Polizei gehörte, interessierte sie sich immer noch für die Kunst. Schließlich hatte sie Kunstgeschichte studiert, bevor sie zur Polizeiakademie gegangen war.
Fieberhaft suchte sie seit Tagen in jeder freien Minute nach mehr Informationen. Sie hatte es sich und auch Benny geschworen, seinen Mörder zu finden.
***
Und dann tauchten sie erneut auf – Bennys starre Augen mit den Einschusslöchern dazwischen und brachten Sarah wieder zurück in die Gegenwart. Seufzend kippte sie den letzten Schluck Whisky hinunter.
„Das hat also auch nicht geholfen“, murmelte sie entnervt.
Sie stellte das Glas auf den Nachttisch und klappte ihren Laptop, der neben ihr auf dem Bett lag, auf. Der Browser war bereits geöffnet und ihre ersten Klicks führten sie unwillkürlich auf die Webseite von Grahams Galerie. Als ihr Blick auf die Seitenleiste fiel, huschte ein leichtes Zucken über ihre Mundwinkel und sie fasste spontan einen Entschluss.