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»Mir ist einiges noch nicht ganz klar, Herr Lorenz.« Hauptkommissar Forster saß zusammen mit seinem Kollegen Berthold Willig in einem der Besucherräume der JVA Kempten dem Verdächtigen im Mordfall Michelsbach gegenüber und musterte ihn neugierig.

Der junge Mann wirkte weder eingeschüchtert noch verängstigt. Er saß mit vor der Brust verschränkten Armen zurückgelehnt auf seinem Stuhl und starrte den Hauptkommissar ablehnend an. »Wo ist denn die hübsche Hauptkommissarin?«, wollte er wissen. »Die hat mir viel besser gefallen als Sie. Die Kleine war heiß. Sie mag ich nicht.« Er hatte gerade noch so viel Anstand, nicht auf den Boden zu spucken, hob aber verächtlich die Oberlippe und zeigte Florian Forster seine Zähne.

»Das steht Ihnen natürlich frei, Herr Lorenz«, bemerkte der Hauptkommissar und hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen. Junge Männer um die 20 litten fast immer unter extremer Selbstüberschätzung und hielten sich in Bezug aufs andere Geschlecht meist für unwiderstehlich. Er war auch einmal jung gewesen. Nicht dass er jetzt alt war oder weniger attraktiv oder auch nur einen Hauch seines unwiderstehlichen Charmes eingebüßt hätte. Er war einfach erfahrener als vor 20 Jahren und vielleicht etwas subtiler in seiner Arroganz und Überheblichkeit. »Tut mir leid«, brachte Florian noch heraus, bevor er doch grinsen musste. »Sie erinnern mich an jemanden, den ich gut kenne.«

»Warum wollten Sie zu diesem Gespräch keinen Anwalt, Herr Lorenz?«, mischte sich Kommissar Berthold Willig, Florians junger Kollege, ein. »Ihnen steht es zu, sich bei Verhören von einem Anwalt beraten zu lassen. Das wissen Sie doch, oder?«

»Klar«, sagte Matteo. »Aber das geht auch ohne Rechtsverdreher. Ich bin schließlich unschuldig.«

»Verstehe«, bemerkte Florian. »Und wie gedenken Sie, mich von Ihrer Unschuld zu überzeugen? Sie waren am Tatort. Es gibt unzählige Spuren von Ihnen. Fingerabdrücke, Ihre DNA an der Leiche von Frau Michelsbach, Ihr Blut am Tisch«, zählte er auf.

Matteo Lorenz antwortete rüde: »Ich bestreite nicht, dort gewesen zu sein. Aber als ich angekommen bin, waren die beiden schon tot.«

»Wie sind Sie dann ins Haus gekommen?«

»Die Terrassentür stand offen.«

»Warum sind Sie durch den Garten ins Haus und haben nicht an der Haustür gewartet?«

»Boah, Mann. Das habe ich neulich alles bereits der Hauptkommissarin erklärt. Muss ich das heute erneut runterleiern?«

»Ja, bitte«, sagte Florian ruhig, verschränkte ebenfalls seine Arme und sah den Jungen streng an. »Das wäre erstens außerordentlich freundlich, und zweitens ist es die einzige Chance, hier zeitnah herauszukommen, wenn Sie wirklich unschuldig sind.«

Matteo Lorenz seufzte ärgerlich, berichtete dann aber ausführlich von dem Besuch beim Ehepaar Michelsbach. Die Geschichte deckte sich mit dem Bericht, den Jessica nach dem Verhör verfasst hatte, war jedoch nicht exakt genug, um einstudiert zu wirken. Vermutlich sagte der Junge die Wahrheit.

»Eins verstehe ich immer noch nicht.« Florian stand auf, ging um den Tisch herum und blieb direkt neben Matteo stehen. »Warum haben Sie erst Stunden nach Ihrem Besuch bei den Michelsbachs die Polizei verständigt?«

»Ich wollte gar nichts sagen. Man sieht ja, was dabei herauskommt. Ein Unschuldiger sitzt im Knast!« Matteo Lorenz klopfte sich mit der Faust auf den Brustkorb und sah den Hauptkommissar bitterböse an.

Dieser lächelte nur bedauernd und rührte sich nicht von der Stelle. »Warum haben Sie sich umentschieden?«

»Mein Vater hat es verlangt. Und mein Vater hat auch gesagt, dass Sie, Herr Hauptkommissar, jetzt dafür sorgen, dass ich hier herauskomme. Also, was ist? Darf ich endlich nach Hause?«

*

Bereits einen Tag nach dem heftigen Unwetter in den Allgäuer Alpen war der Himmel wieder hellblau und wolkenlos. Die Sonne schien seit den frühen Morgenstunden, und mittags zeigte das Thermometer über 30 Grad. Es war heiß, doch nicht mehr so schwül wie vor dem Gewitter.

Die Allgäuer Festwoche war seit ein paar Tagen vorüber, die Bierzelte, Bühnen und Messehallen bereits abgebaut und der Busverkehr am Zentralbusbahnhof lief wieder normal.

Für Ende August war diese Hitze im Allgäu recht ungewöhnlich. Jeder ältere Allgäuer hätte bis vor Kurzem behauptet, die Festwoche sei der Ausklang des Allgäuer Sommers. Danach werde es regnerisch kühl. So war es immer gewesen. Aber nicht in diesem Jahr.

Auf dem Hof der Familie Mühlbrunner konnte Hauptkommissarin Jessica Grothe direkt vor der Eingangstür parken. Der Hof war etwas kleiner als der Betrieb der Rothausens. Der Stall neben dem in die Jahre gekommenen Wohngebäude war halb so groß wie der Pferdestall, den Jessica gestern gesehen hatte.

Nachdem sie mehrfach an der Haustür geklingelt hatte, sah sie einen jungen Mann in grüner Arbeitshose um die Hausecke biegen. Er hob grüßend seine rechte Hand und lief weiter durch die offen stehende Stalltür.

»Entschuldigung«, rief Jessica ihm nach. »Wissen Sie, ob Michael Mühlbrunner oder seine Frau hier sind?«

Der junge Mann blieb stehen, drehte sich zu ihr um und schüttelte den Kopf. Jessica schätzte ihn auf Mitte 20. Ein gut aussehender Bursche mit blondem Haar, moderner Kurzhaarfrisur, aufgeweckten, himmelblau leuchtenden Augen, einem schmalen Gesicht und sportlicher Figur. Nur der grün-violette Bluterguss an seiner linken Schläfe und die mit Schorf verkrustete Unterlippe trübten das adrette Erscheinungsbild.

»Die Mühlbrunners sind auf dem Wochenmarkt in Oberstdorf. Dort sind sie samstags immer«, sagte er und lächelte höflich. »Aber es ist schon nach 13 Uhr. Sie müssten gleich zurück sein. Wenn Sie warten wollen …« Er wies auf eine Bank, die direkt neben der Haustür in der Sonne stand und mit karierten Kissen dekoriert zum Verweilen einlud. »Soll ich Ihnen einen Kaffee holen?«

»Vielen Dank, ich möchte nichts«, sagte Jessica, nahm jedoch die Einladung an, sich zu setzen. »Wie ist das mit Ihrem Gesicht passiert? Sieht übel aus.«

Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ein Unfall auf dem Hof. Das passiert, wenn man nicht aufpasst«, sagte er. »Darf ich fragen, was Sie von den Mühlbrunners wollen?« Er blieb neben der Bank stehen.

»Ich bin von der Kripo Kempten. Mein Name ist Jessica Grothe. Ich habe zwar gestern mit Michael Mühlbrunner gesprochen, doch jetzt habe ich noch ein paar Fragen. Ist Herr Mühlbrunner Ihr Vater?«

»Nein. Ich bin hier angestellt. Maximilian«, stellte er sich vor und reichte der Hauptkommissarin die Hand. »Sind Sie wegen Viktor hier? Michael hat mir erzählt, dass er tot ist.«

»Richtig. Kannten Sie Viktor Weixler gut? Wissen Sie, ob er Feinde hatte?« Jessica rückte auf der Bank etwas zur Seite und lud den jungen Mann ein, sich neben sie zu setzen.

Der blieb lieber stehen. »Er hat hier als Hofhelfer gearbeitet. Genau wie ich. Er war ein netter Kerl. Ich glaube nicht, dass ihn irgendwer nicht mochte«, berichtete er unsicher, schaute zum Horizont in Richtung Allgäuer Alpen und hustete verlegen. »Darf ich gehen? Ich muss noch den Stall ausmisten, bevor Johanna und Michael zurückkommen. Es ist viel Arbeit auf dem Hof, seit Viktor weg ist.«

»Klar«, sagte Jessica. »Ich will Sie nicht von der Arbeit abhalten. Aber eins hätte ich gern noch gewusst.«

Maximilian sah sie an und wartete höflich.

»Ihre Verletzungen stammen von einer Schlägerei, oder?«, fragte sie rundheraus. »Haben Sie sich vielleicht mit Viktor Weixler geprügelt?«

Jessica sah, wie Maximilians Hand zu zittern begann. Erst jetzt bemerkte sie die Verletzungen an seinen Fingerknöcheln. Seine Hände waren aufgeschürft und wund.

Er wollte gerade etwas sagen, als ein Mädchen neben ihn trat und nach seinem Arm griff. »So ein Quatsch. Der Maxi tut keiner Fliege etwas zuleide.« Sie war das genaue Gegenteil von Maximilian und hatte es mit ihrem Aussehen sicher nicht leicht. Ihre Zähne waren schief, ihre Nase zu groß und ihre Augen standen viel zu weit auseinander. Sie hatte mattes, strähniges Haar und extrem dürre und lange Gliedmaßen. Sie war etwas größer als Maximilian, doch ein paar Jahre jünger. Ihr Gesicht glänzte fettig und war blass. »Der Maxi ist ein ganz Lieber.«

»Und wer bist du?«, fragte Jessica das Mädchen, das nun heftig an Maximilians Arm zog. »Bist du auch eine Hofhelferin?«

»Ich bin die Wilma. Wilhelma Mühlbrunner. Ich bin Maximilians Freundin. Wenn ich endlich 18 bin, werden wir heiraten«, verkündete sie stolz.

Maximilian sah erst zu Wilma, dann schaute er die Hauptkommissarin lange an. »Sie hat recht«, sagte er schließlich, drehte sich auf dem Absatz um, lief mit weit ausholenden Schritten Richtung Stall und ließ die beiden Frauen stehen.

Plötzlich packte jemand von hinten Jessicas Oberarm.

»Was machen Sie hier?«, brüllte eine tiefe Stimme direkt hinter ihr.

Geistesgegenwärtig riss Jessica sich los und fuhr herum.

»Hallo, Opa«, hörte sie Wilma Mühlbrunners fröhlichen Singsang. »Das ist Hauptkommissarin Grothe. Sie wartet auf Mama und Papa.« Ohne die Hauptkommissarin anzusehen, ging das Mädchen auf ihren Großvater zu und stellte sich direkt neben ihn.

»Herr Mühlbrunner«, sprach Jessica Grothe den Senior an. »Vielleicht können auch Sie mir weiterhelfen. Können Sie mir sagen –«

»Ich kann Ihnen gar nichts sagen, werte Frau«, blaffte er sie an. »Außerdem ist mein Name Behrbihler. Donatus Behrbihler. Und jetzt verschwinden Sie von meinem Hof.«

»Opa«, säuselte seine Enkelin beschwichtigend. »Du kannst eine Kriminalbeamtin nicht einfach fortschicken.« Dann wandte sie sich an die Hauptkommissarin. »Er ist der Papa meiner Mutter«, erklärte sie. »Und er ist manchmal etwas … verwirrt«, flüsterte sie in Jessicas Richtung, verdrehte die Augen, hob grüßend die Hand und schob ihren Großvater zur Haustür. »Komm, Opa. Zeit fürs Mittagessen.«

Tod zum Viehscheid

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