Читать книгу Tod zum Viehscheid - Mia C. Brunner - Страница 8
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Оглавление»Du bist wirklich ein Idiot. Ich habe dir genaue Anweisungen gegeben, und was machst du? Ich dachte, ich kann mich auf dich verlassen und du wärst endlich so weit. Aber du bist der Worte nicht wert, die ich hier sinnlos verliere.«
Die Standpauke, die er sich anhören musste, dauerte bereits 20 Minuten, und wann immer er versuchte, sich zu rechtfertigen, wurde er lautstark unterbrochen und wütend niedergeschrien.
»Ich dachte …«, startete er einen erneuten Versuch, verstummte jedoch augenblicklich, als er in das grimmige Gesicht sah. »Es tut mir leid. Ich verspreche, beim nächsten Mal …«
»Beim nächsten Mal?« Die wütende Stimme überschlug sich fast. »Ein nächstes Mal wird es so schnell nicht geben. Ich habe dir eingebläut, dass es beim ersten Mal klappen muss. Habe ich dir gesagt, es muss beim ersten Mal klappen?«, wiederholte er rhetorisch. »Du bist ein Idiot. Was soll nur aus dir werden?« Er ging mit weit ausholenden Schritten und erhobenem Haupt durch das halb dunkle Zimmer wie ein General, den Blick starr geradeaus, aufrecht, die Hände hinter seinem Rücken ineinandergelegt. »Du hast mir dein Wort gegeben«, rief er in das Zimmer, ohne den jungen Mann anzusehen. »Und ich gab dir meins. Wenn meine Anweisungen noch ein einziges Mal derart stümperhaft und ohne den gewünschten Erfolg ausgeführt werden, ist nicht nur unsere Abmachung gestorben«, drohte er, blieb stehen und sah ihn streng an. »Ich hoffe, wir verstehen uns.«
Der junge Mann nickte, trat einen Schritt zurück, senkte den Kopf und starrte auf den Boden. »Ich habe verstanden. So ein Fehler wird nie wieder vorkommen.«
*
Gegen 19 Uhr traf Florian wieder zu Hause ein und wurde stürmisch von Svenja und Tobias begrüßt, den Kindern von Susanne, Jessicas verstorbener Schwester. Seit drei Jahren waren die beiden in seiner und Jessicas Obhut, und er liebte sie inzwischen so, als wären es seine eigenen. Da der jüngere Tobias nach den Sommerferien in die zweite Klasse kam, wäre es langsam höchste Zeit für ein Geschwisterchen. Für Florian war die Sache glasklar. Zuerst würde er Jessica heiraten, dann die beiden Kinder adoptieren, die seit dem letzten Jahr Vollwaisen waren. Und in nicht allzu ferner Zukunft hätte er gern ein oder zwei weitere Kinder. Jessica ahnte von seinem Plan nichts. Florian wusste aber, dass sie an einer Adoption ihrer Nichte und ihres Neffen nichts auszusetzen hatte. Bei allem anderen war er sich nicht so sicher.
»Du kommst spät«, stellte Jessica ohne die Spur eines Vorwurfes fest, als sie die Treppe herunterkam und ihm zur Begrüßung einen Kuss gab. »Hast du Hunger? Ich kann dir die Reste vom Mittagessen aufwärmen.« Sie schickte die Kinder nach oben und ging in die Küche. »Es gibt Erbsen und Wurzeln und Frikadellen.«
»Fleischküchle«, korrigierte Florian augenzwinkernd und folgte ihr in die Küche. »Und es heißt Möhren oder gelbe Rüben.«
»Die gelben Rüben sind aber orange. Und wenn du etwas essen willst: Es sind nur Frikadellen da!« Sie grinste breit und zwinkerte ihm ebenfalls zu.
»Was auch immer. Hauptsache Nahrung.« Er gab sich geschlagen. »Ist meine Mutter heute nicht zu Hause?«
Maria Forster, der das alte Stadthaus in Kempten gehörte, in dem sie alle lebten, und die im unteren Stockwerk zwei Zimmer mit Bad und schöner Terrasse bewohnte, leistete ihnen abends beim Essen häufig Gesellschaft in der gemeinsamen Küche.
»Sie ist spazieren gegangen«, berichtete Jessica, holte den aufgewärmten Teller mit dem Gemüse und den Frikadellen aus der Mikrowelle und platzierte ihn vor Florian auf dem Tisch. »Aber du solltest dich dringend einmal mit ihr unterhalten, wenn sie zurückkommt.«
»Wieso? Habt ihr euch gestritten?«
»Quatsch.« Jessica schüttelte verständnislos den Kopf. »Maria war heute irgendwie komisch, ist jedem Gespräch ausgewichen und hatte extrem schlechte Laune. Sie wollte mir nicht sagen, was los ist. Vielleicht ist sie bei dir etwas aufgeschlossener.«
Jessicas besorgter Gesichtsausdruck beunruhigte Florian. Er zog jedoch zweifelnd eine Augenbraue hoch und schüttelte langsam den Kopf. »Meine Mutter hat mir noch nie erzählt, was sie bedrückt. Da bin ich vermutlich der falsche Ansprechpartner. Was ist denn genau passiert?«
Jessica zuckte ratlos mit den Schultern. »Heute Nachmittag war noch alles gut. Sie hat mit Tobi zusammen einen Kakao getrunken und mit ihm ein Brettspiel gespielt«, sagte sie und sah Florian nachdenklich an. »Vielleicht lag es an dem Besuch, der später gekommen ist.«
Weil Florian keine Anstalten machte, nach dem erwähnten Besuch zu fragen, fuhr sie fort: »Als ich mit Tobi zum Fußballtraining wollte, kam uns in der Einfahrt ein Mann entgegen und fragte mich, ob hier eine Maria Forster wohne. Ich habe genickt, mir nichts dabei gedacht und auch nicht nachgefragt. Er ist zur Haustür gegangen, und wir sind zum Sportplatz gefahren.«
»Was war das für ein Mann? Hat meine Mutter einen heimlichen Verehrer?« Jetzt lachte Florian. »Der arme Kerl. Meine Mutter ist einfach nicht der Typ für ernsthafte Beziehungen. Männer seien ihr viel zu anstrengend, hat sie vor Jahren einmal zu mir gesagt. Ich vermute, deshalb bin ich auch ohne Vater aufgewachsen.«
In seinen Worten lag kein Bedauern. Jessica wusste, dass Florian seinen Vater nie kennengelernt hatte und auch nicht unter seiner Abwesenheit litt. Was man nicht kennt, kann man nicht vermissen, lautete sein Motto.
»Es war ein älterer Herr, über 70, schätze ich. Weißes, volles Haar, sehr groß, schlank, aber breitschultrig. Imposante Erscheinung. Er wirkte wie ein ehemaliger Richter oder Basketballprofi.«
»Richter oder Basketballspieler?« Florian sah seine Freundin zweifelnd an.
»Was ist, wenn das dein Vater war?«, warf Jessica unerwartet ein.
Florian erschrak zuerst, lachte dann jedoch schallend. »Das ist absolut unmöglich«, brachte er kopfschüttelnd heraus und konnte sich vor Lachen kaum beruhigen. Ihre Aussage schien ihn so zu belustigen, dass er Tränen in den Augen hatte.
»Wieso ist das so abwegig?«, wollte Jessica wissen und klang gekränkt.
»Ganz abgesehen davon, dass ich in Sachen Körperbau nichts von ihm geerbt hätte«, begann er schmunzelnd, als er sich beruhigt hatte. »Ich bin weder hünenhaft groß wie ein Basketballspieler noch ehrgeizig und klug genug, um Richter zu werden.« Er verstummte kurz und dachte angestrengt nach. »Aber das mit dem vollen Haar im hohen Alter, das könnte mir schon gefallen.« Er nickte zustimmend und zwinkerte Jessica erneut zu. »Es ist trotzdem unmöglich. Mein Vater ist bereits vor meiner Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«
*
Der sandige Feldweg war staubtrocken. Seit sie das kleine Mofa von der asphaltierten Straße auf die ausgefahrene, von unzähligen Schlaglöchern übersäte Nebenstraße gelenkt hatte, zog sie eine riesige Wolke aus aufgewirbeltem Staub hinter sich her. Selbst hier auf dem schmalen Streifen Feldweg, in den sie abbiegen musste, wenn sie die Wiese am Hang erreichen wollte, wurde es nicht besser. Sie hatte Mühe, das laut ratternde Gefährt in der schmalen Spur zu halten, weil der klapprige und etwas zu breite Anhänger mit seinen Rädern über die ausgefahrene Spurrinne hinausragte und über das viel zu lange Gras und Gestrüpp am Wegrand holperte.
Die Sonne brannte heute erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel. Bereits jetzt um kurz nach halb elf war es unerträglich heiß, und sie war dankbar, dass Tante Gertrud sie heute in der Küche gebraucht hatte. So blieb ihr die schweißtreibende Arbeit auf dem Feld erspart. Morgen würde sie vermutlich weniger Glück haben. Dann würde Tante Gertrud entweder Rosa oder Gesa, eine ihrer Cousinen, für den Küchendienst abkommandieren.
»Da kommt Laura!«, hörte sie Simon trotz des Mofa-Geknatters rufen. Einige der Feldarbeiter hoben den Kopf und sahen in ihre Richtung. Gesa und Rosa winkten aufgeregt, ließen die Rechen fallen und rannten ihr lachend entgegen.
»Pause!«, rief Onkel Karl mit seiner tiefen, durchdringenden Stimme, stellte seinen Rechen an den großen Heuhaufen zu seiner Linken und wischte sich den Schweiß mit dem Unterarm von der Stirn.
Laura hielt am Rand der Wiese, stieg vom Mofa und öffnete die Plane über dem kleinen Anhänger. Alles schien heil geblieben zu sein. Tante Gertrud hatte die belegten Brote, die Gemüsesticks und den Eistee in Blechdosen und Thermoskannen für den Transport sicher verpackt. Ganz oben lag die Tageszeitung für ihren Onkel.
»Danke«, sagte er und nahm ihr die Zeitung ab. »Und wo ist mein Bier?«
»Hier, Onkel Karl. Aber Obacht, es ist ordentlich durchgeschüttelt worden.« Laura reichte ihm die Flasche, griff dann nach den Brotdosen und öffnete jede einzelne.
»Wurde Zeit, dass du kommst, Laura. Ich bin schon fix und fertig. Und Durst habe ich«, jammerte Rosa und rieb sich die schmerzenden Schultern. »Dabei sind Sommerferien. Da sollte man frei haben und lange schlafen, nicht den Tag mit Sklavenarbeit verbringen.«
Onkel Karl lachte nur. »Deine Ferien beginnen, wenn die Arbeit erledigt ist.«
Rosa, Gesa und die anderen durften sich eigentlich nicht beschweren. Jedes der Kinder und Jugendlichen auf dem Hof musste nur in den Ferien helfen, ansonsten bestanden Onkel Karl und Tante Gertrud darauf, dass sie ordentliche Schulen besuchten und eine vernünftige Ausbildung machten. Laura ging in die elfte Klasse des Gymnasiums, machte im nächsten Jahr ihr Abitur und wollte dann zum Studieren nach Augsburg. Sie wollte Grundschullehrerin werden. Das war ihr Traum, und den durfte sie leben. Ihre Eltern, die Schwester von Onkel Karl und ihr Mann, betrieben ganzjährig eine Sennalpe in Österreich. Laura sah die beiden nur ein paar Tage im Jahr. Sie war ihrem Onkel Karl sehr dankbar, dass sie seit Jahren wie eines seiner eigenen Kinder auf seinem Hof leben konnte. Ansonsten wäre es mit dem Schulbesuch und erst recht mit einem Gymnasium sehr schwierig geworden.
Neben den Familienmitgliedern gab es drei Helfer auf dem Hof. Einer davon war Simon. Heute war er der Einzige, der auf dem Feld half. Hendrik und Josef, die anderen beiden, hatten Stalldienst. Die Schumpen, also die Rinder, die noch keine Kälber hatten, waren zwar bis Mitte September auf der Alpe, doch die Milchkühe mussten versorgt werden. Außerdem sollten sich die beiden jungen Männer heute um den Pferdestall kümmern. Vor etwa einer Woche war den Rothausens fast der Stall abgebrannt. Grund dafür war eine Öllampe, die weder in den Stall gehörte noch mitten in der Nacht und dazu unbeaufsichtigt brennen durfte. Diese Lampe war umgefallen und hatte den Stall in Brand gesetzt, aber jemand hatte das Feuer gelöscht. Als Onkel Karl am frühen Morgen das Gebäude betreten hatte, hatte er die verkohlte Stallwand gesehen. Keiner wusste, wer das Feuer gelegt und wer es gelöscht hatte. Die drei Pferde hatten in dieser Nacht auf der Weide gestanden, warm genug war es, und die Tiere fühlten sich draußen am wohlsten.
Sie hatten Glück gehabt, dass nichts Schlimmes passiert war, trotzdem hatte Onkel Karl ihnen allen eine lange Predigt gehalten. Wer auch immer dieses Unglück heraufbeschworen habe, solle es nicht wagen, noch einmal mit einer brennenden Öllampe den Stall zu betreten. Schließlich hätten sie erstens elektrisches Licht und zweitens sei die Nacht zum Schlafen da, nicht zum Herumschleichen in leeren Ställen.
Auch Laura wusste nicht, wer in der fraglichen Nacht im Pferdestall gewesen war. Doch sie hatte eine Vermutung.