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Benommen schlug sie die Augen auf. Die kleine Stehlampe neben dem Metallgestell, das ihr als Bett diente, streute noch immer ihr sanftes Licht und warf gespenstige Schatten an die Wand. Sogar die Musik hatte er angelassen. Leise, aber dennoch gut verständlich.

Vorsichtig untersuchte sie ihren geschundenen Körper.

Ihre linke Hand streichelte sanft über den Bauch und sie spürte die kleinen Bisswunden, rund um ihren Bauchnabel. Mechanisch glitten ihre Hände weiter und verharrten für einen Moment auf dem kleinen Dreieck ihrer Schambehaarung. Zwischen ihren brennenden Beinen spürte sie eine klebrige Mischung aus Blut und Sperma. Angeekelt schloss sie die Augen und versuchte ihre Schmerzen zu ignorieren.

Doch trotz ihrer Verletzungen und der Erniedrigungen, die sie heute hatte ertragen müssen, hatte sich ihr Leben entschieden verbessert. Sie war nicht mehr an das Bett gefesselt und konnte sich in einem Umkreis von zwei Metern um ihre Schlafstätte herum bewegen.

Natürlich trug sie noch diese verdammten Handschellen!

Doch Karl hatte diese vom Bettgestell gelöst und mit einer massiv aussehenden Stahlkette an der Wand verbunden.

Dann hatte er ihr die kleine Chemie-Toilette in Reichweite gestellt und Toilettenpapier, Hygieneartikel, eine Schüssel und einen zehn Liter Wasserkanister danebengestellt.

Zum Abschluss hatte er noch etwas Obst, Brot und gut zwei Dutzend Wasserflaschen auf die andere Seite des Bettes platziert.

In den nächsten Tagen würde er wenig Zeit haben und könne wahrscheinlich nicht bei ihr vorbeischauen. Sie müsse sich das Essen eben einteilen und sich die Zeit mit Radio hören vertreiben, hatte er gesagt und dazu so seltsam wissend gelächelt.

Sie solle gut aufpassen, vielleicht würde im Radio ja etwas über einen Fuchs zu hören sein. Während sie noch über seine Worte nachgedacht hatte und überlegte, was es mit diesem Fuchs wohl auf sich hatte, war er wie ein Tier über sie hergefallen.

Nur langsam konnte sie das Grauen abstreifen und wieder klar zu Denken anfangen. Zu schlimm war das Erlebte, zu lebendig die Erinnerung an die vergangenen Stunden.

Doch jetzt war er endlich gegangen, hatte das kleine Licht und die Musik angelassen und würde die nächsten Tage auch nicht mehr wiederkommen. Das und ihre neu gewonnene Bewegungsfreiheit machten diesen Tag zu etwas ganz besonderem.

Es kam ihr so vor, als hätte der Himmel ihr ein kleines Geschenk gesandt und sie sah endlich einen winzigen Silberstreifen namens Hoffnung am Horizont aufleuchten…

*

»Links, wir müssen links herum«, rief ich Dominik zu.

»Auf meinem Plan sieht das aber anders aus. Da müssen wir eindeutig nach rechts!«

»Vielleicht solltest du Maulwurf deinen Plan einfach um 180 Grad drehen«, meinte Mario genervt und blickte dabei Hilfe suchend zu mir herüber.

»Quatsch!«

»Mensch Domi, rechts geht´s doch aus dem Wald wieder raus. Wir wollen aber in den Wald, oder?«

»Aber auf meiner Karte …«

Ein wenig genervt griff ich nach der Karte, schaute kurz darauf, drehte sie richtig herum und gab sie Dominik wieder zurück. Dann sagte ich beschwichtigend: »Ist nicht ganz einfach, so eine topografische Karte zu lesen. Du hast sie wirklich verkehrt herum gehalten.«

»Topo … was?«, fragte mich Dominik und ein erstaunter

Klang schwang in seiner Stimme mit.

»Eine topografische Karte spiegelt den exakten Geländeverlauf wieder. Hierzu gehören natürlich auch Straßen, Gewässer, Höhenangaben, Bahnlinien und so weiter. Das müsstet ihr doch eigentlich in Erdkunde schon längst durchgenommen haben. Das ist doch Stoff der 8. Klasse,

oder?«, fragte ich die um mich herumstehenden Schüler.

»Wissen sie wie lange das schon her ist? Wenn wir uns alles behalten würden, was wir in der Schule lernen, würde unser Kopf überlaufen«, warf nun Kirsten ein.

Das ist genau der springende Punkt, dachte ich genervt. Die meisten Schüler hatten ein großes Papierkorbsymbol in ihrem Kurzzeitgedächtnis verankert. Alles, was länger als drei Wochen in eben diesem überlebt hatte, wurde automatisch in den Papierkorb verschoben. Schließlich verbrauchte das Gehirn eine Menge Speicherplatz für all die wichtigen Fernsehserien, Computerspiele, WhatsApp und Facebook-Aktivitäten! Da war die Gefahr das Gehirn mit schulischem Wissen zu überlasten, für die meisten einfach zu groß!

»Klar doch, 8. Klasse! Das ist schon eine Ewigkeit her, das stimmt natürlich«, sagte ich kopfschüttelnd und schloss für einen Moment meine Augen.

Nina trat einen Schritt nach vorne, fasste Dominik bei den Schultern, drehte ihn nach links und gab ihm einen kleinen Stoß.

»Jetzt lauf endlich los, du Sparlampe«, sagte sie lachend.

»Oder willst du den ganzen Tag mit der Suche nach dem richtigen Weg verplempern?«

»Na gut, dann gehen wir halt diesen Weg. Aber jammert mir nachher nicht die Ohren voll, wenn es der falsche ist«, sagte er und lief mit gemächlichen Schritten los.

»Ihr könnt jetzt das GPS an euren Handys einschalten. Die Koordinaten habt ihr ja bereits von Herrn Wolf übermittelt bekommen. Bildet bitte, wie besprochen, Vierergruppen und haltet Sichtkontakt zu den Anderen. Wer etwas findet, meldet es sofort an Dominik weiter«, rief ich meinen Schülern zu.

»Viel Spaß und passt auf, wo ihr im Wald hintretet. Hier gibt’s eine Menge Äste und Wurzeln auf dem Boden, über die ihr stolpern könnt«, fügte ich noch mahnend hinzu.

Laut johlend setzten sich meine Schüler in Bewegung.

Das Spiel hatte begonnen und der Wald war zu unserer Spielwiese geworden.

Geocaching wir kommen, dachte ich und trabte meinen Schülern hinterher.


*

»Gismo …! Gismo …! Komm zu Frauchen. Gismo, verdammt bei Fuß!«

»Na …, dein Hund macht heute was er will, oder?«

»Ja, irgendwie …. Aua, oh Scheiße. Jetzt bin ich auch noch umgeknickt. Verdammt tut das weh, so eine bescheuerte Wurzel«, jammerte Petra Schuck und vergaß für einen Moment ihren Hund.

»Lass mal sehen. Kannst du noch mit dem Fuß auftreten?«

»Ja, geht schon! Aber ich glaube, der Knöchel wird bereits dick. Wo ist denn dieser blöde Hund nur?«

»Pass auf Petra, wir machen es so. Ich suche Gismo und du setzt dich da vorne auf den Baumstamm. Aber zieh deinen Schuh nicht aus, sonst kommst du nachher vielleicht nicht mehr rein.«

Vorsichtig humpelte Petra zu dem moosbewachsenen, toten

Baum, inspizierte ihn kritisch und setzte sich an den äußersten Rand des Stammes. Ihr Fuß tat höllisch weh und Tränen schossen ihr in die Augen.

Warte nur mein Freund. Die Abreibung, die ich dir verpassen werde, wirst du nicht vergessen, dachte sie grimmig. Doch erst einmal musste Martina ihren Gismo finden. Wo steckte der kleine Racker nur?

Ihr Blick schweifte durch den Wald und verharrte für einen kleinen Moment auf dem Rücken ihrer Freundin. Dann wanderte er weiter und zuckte Sekunden später wieder zurück. Was war denn nur bei Martina los? Wieso stand sie steif wie eine Vogelscheuche vor dieser dicht bewachsenen Hecke.

Was ging da vor sich? War etwas mit Gismo nicht in Ordnung?

Der Schrei kam so plötzlich und unerwartet, dass sie erschrocken zusammenzuckte. Schlagartig verspürte sie ein Kribbeln auf ihrer Kopfhaut und ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus.

Ihre Freundin stand noch immer vor dieser Hecke und schrie aus Leibeskräften ihr Entsetzen oder war es Angst in den Wald hinaus. Sie konnte die Situation nicht einschätzen, konnte nicht erkennen, was dort im Gebüsch vor sich ging. Panik breitete sich in ihr aus und hüllte ihren Geist in einen dunklen, schweren Umhang.

Sie sah, wie sich ihre Freundin herumwarf.

Sah ihre vor Schrecken geweiteten Augen. Sah den zum Schrei weit aufgerissenen Mund und sie sah die nackte Frauenleiche, die wie in Zeitlupe aus der Hecke fiel und schwer auf dem Boden aufschlug.

Ihr Herzschlag drohte für einen Moment auszusetzen und die Panik schnürte ihre Lunge zusammen. Ein Wimmern brach über ihre Lippen und Millionen von Spinnenbeinchen krabbelten über ihren Rücken.

Dann brachen alle Dämme und sie warf sich herum. Weg, ich muss weg hier, dachte sie und stolperte unkontrolliert vorwärts.

Sie hatte bereits ein paar Meter zurückgelegt, als ihr verletzter Fuß den Halt verlor und seitlich umknickte. Mit einem langgezogenen Schrei schlug sie der Länge nach auf der feuchten Erde des Waldbodens auf. Benommen rappelte sie sich auf und bekam in der nächsten Sekunde einen schmerzhaften Schlag in den Nacken.

Kraftlos sank sie zurück und die Bäume um sie herum begannen sich in einer wilden Fahrt zu drehen. Etwas Warmes, Klebriges breitete sich in ihrem Nacken aus, lief ihren Hals herunter und verschmolz dann mit ihrem Mantelkragen.

Eine Woge der Übelkeit stieg in ihrer Kehle auf und sie hörte sich selbst laut würgen. Das Letzte, was sie wahrnahm, waren die schrillen, panischen Schreie ihrer Freundin, dann versank ihr Welt in einem Meer aus roten Farben.


Mörderische Spiele

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