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Endlich hatten wir es geschafft und waren in unserem Zielgebiet angekommen. Meine Schüler waren ausgeschwärmt und suchten mit jugendlichem Eifer den Wald nach möglichen Verstecken ab.

Unsere fast zweistündige Wanderung war ohne nennenswerte Blessuren vonstattengegangen. Die Stimmung war gut, das Wetter spielte zum Glück auch noch mit. Ich saß gemütlich an einen Baum gelehnt, trank einen Schluck Kaffee und beobachtete meine Schüler.

»Is nix kalt heute, ´ne. Gute Wetter für Spieltag in Wald«, sagte Ali und nippte ebenfalls an seinem Teebecher.

Ali war unser Hausmeister und die gute Seele an unserer Schule. Er war immer da, wenn man ihn brauchte und wachte mit preußischer Gründlichkeit über unser Inventar.

Ein wackeliger Stuhl? Kein Problem für Ali und seiner großen Leimflasche! Eine Tafel, die klemmte? Ali rückte mit seiner Werkzeugtasche an und reparierte das Ganze in Windeseile. Ein neuer Schüler, der seinen Bus verpasst hatte? Ali war zur Stelle und fuhr den Unglücksraben nach Hause. Ein Leben an unserer Schule war ohne Ali einfach nicht vorstellbar. Das wusste er, und wir wussten das auch.

»Ja, da hast du recht. Ich habe schon die ganze Woche die Luft angehalten und gehofft, dass das Wetter mitspielt«, sagte ich.

»Und das helfen? Ich glaube, du mich verarschen, Herr Bender.«

»Ach Ali, das sagt man doch nur so. Warum sollte ich dich denn verarschen wollen?«

»Was man sagt so?«

»Na, das mit dem Wetter und dem Luftanhalten!«

»Ach so! Du mich also nix verarschen?«

»Nein, wirklich nicht, Ali.«

Er musterte mich für ein paar Sekunden aus seinen dunklen Knopfaugen, dann bewegte er ruckartig seinen Kopf und sah an mir vorbei.

»Ist Kind hingefallen«, sagte Ali unvermittelt und sprang behände auf seine Beine.

Obwohl er im Sommer seinen 60. Geburtstag gefeiert hatte, war er fit wie ein junger Mann. Jahrelanges Ringen hatte zwar seine Gelenke geschwächt, aber seine Muskeln gestärkt. Und trotz seiner Körpergröße von nur 1,70 Meter verfügte er über Bärenkräfte.

Ich stellte meine Tasse vorsichtig auf den Waldboden und stand ebenfalls auf. Einer meiner Schülerinnen rappelte sich gerade vom Boden auf und wischte sich die Hose ab.

»Alles in Ordnung bei dir, Carla?«, fragte ich besorgt.

»Jaja, alles easy. Bin nur über so ´ne blöde Wurzel gestolpert«, rief sie lachend zurück.

»Tut dir was weh?«

»Nö, ist echt alles ok!«

Ali stand noch immer regungslos da, hatte seinen Kopf leicht nach rechts geneigt und spähte im Wald umher.

»Was ist los Ali, stimmt etwas nicht?«, fragte ich neugierig.

»Ich nix wissen! So komisch ruhig in Wald. Keine Vogel am Singen, is komisch, ne.«

»Naja, wahrscheinlich sind hier einfach zu viele Menschen, und die Vögel fühlen sich durch uns in ihrer Ruhe gestört«, sagte ich.

»Vielleicht, aber …«

Seine Worte blieben ihm im Halse stecken, denn der schrille, panische Schrei einer Frau drang in unsere Ohren. Nur ein paar Sekunden später folgte eine Kaskade verzweifelter, nicht enden wollender Schreie, die die Stille des Waldes zerschnitten.

Ich spürte, wie mir das Blut in den Adern gefror und ein Schauer meinen Körper durchlief.

Entsetzt blickte ich mich um, versuchte mich am Klang der Schreie zu orientieren. Neben mir spurtete Ali bereits los und lief auf eine gut 300 Meter entfernte Anhöhe zu. Mit einem raschen Blick überzeugte ich mich, dass meine Schüler noch alle vollzählig da waren. Ich sah in ihren Gesichtern nackte Panik aufflammen und ihre verstörten Blicke zuckten hektisch im Wald umher.

»Ihr bleibt hier und rührt euch nicht von der Stelle«, rief ich mit hektischer Stimme.

Dann rannte auch ich der Anhöhe entgegen.

*

Kommissar Reinhold Bach folgte dem unbefestigten Waldweg und lenkte sein Fahrzeug vorsichtig um die größten Schlaglöcher herum. Neben ihm saß seine Kollegin Britta Jungmann und starrte wie hypnotisiert aus dem Fenster.

Sie war gerade erst wieder diensttauglich geschrieben worden und brannte förmlich vor angestautem Tatendrang. Bei ihrem letzten gemeinsamen Fall war sie schwer verletzt worden und hatte nur mit viel Glück überlebt.

Fast zwei Monate war das jetzt her. Zwei Monate, in denen er alles unternommen hatte, um diesen Fall endgültig abzuschließen.

Doch noch immer waren die beiden Hauptverdächtigen spurlos verschwunden; an einen Abschluss des Falles wagte er schon gar nicht mehr zu denken. Vielleicht würde Britta ja mit ihrem jugendlichen Elan und ihren modernen Ermittlungsmethoden neuen Schwung in die festgefahrenen Ermittlungen bringen.

Er jedenfalls war am Ende mit seinem Latein.

Der große und erfahrene Kommissar war von einem skrupellosen Liebespaar an der Nase herumgeführt worden. Sie hatten ihn regelrecht vorgeführt und mit der Polizei Katz und Maus gespielt.

Aber gut, dachte er, Niederlagen gehören genauso zum Leben wie die großen Siege.

»Schauen wir mal, wer zum Schluss lacht«, brummte er gedankenverloren vor sich hin.

»Hast du was gesagt, Reinhold?«

»Wer, ich? Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Hat sich aber so angehört.«

»Quatsch, hab höchstens laut gedacht.«

»Und an was hast du gedacht? Mensch, lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen«, schimpfte Britta Jungmann.

Keine Frage, dachte er, Britta ist zum Glück wieder ganz die Alte. Ungeduldig, fordernd und von der Nasenspitze bis zum kleinen Zeh neugierig.

»Habe gerade an unseren letzten Fall gedacht«, sagte er leise, warf ihr einen schnellen Blick zu und fuhr dann fort: »Ich hätte dich nie alleine dort hingehen lassen dürfen. Das war ein absolut unverzeihlicher Fehler. Gott, du glaubst ja überhaupt nicht, wie das an mir nagt. Ich kann mir das einfach nicht verzeihen. Um Haaresbreite wärst du gestorben. Unglaublich, wie dumm und einfältig ich mich benommen habe. Wenn ich mir vorstelle, was …«

Mit einer sanften Geste der Zuneigung legte die Kommissarin ihre Hand auf das Bein ihres Kollegen und sagte: »Lass es gut sein, Reinhold. Dass ich dort auf diesen Kapinzki treffen würde, konnte keiner von uns vorhersehen. Schau mich an! Mir geht es prima, ich habe die ganze Sache gut überstanden. Ich bin dir nicht böse, war dir auch nie böse. Es war meine Entscheidung, dorthin zu fahren. Ganz alleine meine Entscheidung. Und jetzt möchte ich über diesen Mist nicht mehr sprechen. Mach endlich einen Haken an die Sache und vergiss das Ganze. Hast du das jetzt endlich kapiert? Mir geht dieses Thema nämlich allmählich gehörig auf die Nerven.«

»Jaja«, murrte er, »man wird ja noch laut denken dürfen.«

»Da vorne muss es sein«, rief die Kommissarin aufgeregt und zeigte mit ihrem ausgestreckten Arm auf etwa ein Dutzend geparkter Streifenwagen.

Sie waren wahllos auf einer kleinen Lichtung abgestellt und blockierten so die schmale Fahrspur. Zwei Rettungswagen parkten seitlich in einem weiteren Waldweg. Kommissar Bach konnte schemenhafte Bewegungen im Inneren des zweiten Krankenwagens erkennen. Ein Kastenwagen der Spurensicherung hatte sich etwas weiter auf die Waldlichtung hinaus gewagt und steckte mit seiner Hinterachse tief im Morast.

»Gott, was für ´ne Scheiße! Willkommen im Alltag eines Dorfpolizisten!«, fluchte Bach und stieß die Wagentür auf. Ein großgewachsener Streifenpolizist mittleren Alters kam auf sie zu und begrüßte die beiden Kommissare mit festem Händedruck.

»Mahlzeit, Klaus, was haben wir hier? Konntest du dir schon einen Überblick verschaffen?«, wollte Kommissar Bach von seinem Kollegen wissen.

»Mahlzeit, Reinhold, Mahlzeit, Britta. Schön, dass du wieder im Dienst bist. Du hast uns gefehlt! Und ich glaube, dem alten Brummbär hast du noch mehr gefehlt als dem Rest der Truppe«, sagte der Polizeibeamte und zwinkerte dabei verstohlen mit seinem linken Auge.

»Hör auf mit dem Gesülze und sag uns lieber, was hier los ist.«

Der Polizist kratzte sich nachdenklich am Kopf, dann sagte er mit sonorer Stimme: »Tja, mein lieber Reinhold. Wir haben hier eine übel zugerichtete Frauenleiche, einen toten Hund, zwei völlig hysterische, leicht verletzte Frauen und eine komplette Schulklasse nebst Lehrer und Hausmeister!«

»Eine Schulklasse?«, fragte die Kommissarin verwundert und blickte sich suchend um.

Ihr uniformierter Kollege zeigte auf einen langgezogenen Abhang und sagte: »Ja, die haben da unten Geocaching gespielt und die Hilferufe der beiden Frauen gehört.« »Sag mir bitte, dass sie nicht alle am Tatort waren und dabei sämtliche Spuren zerstört haben.«

»Da kann ich dich leider nicht beruhigen, mein lieber Reinhold. In der unmittelbaren Nähe des Tatortes waren zwar nur der Lehrer und dieser Hausmeister. Aber die Schüler sind natürlich durch den Wald gelaufen und haben alle Spuren erfolgreich vernichtet. Ach ja, dieser Lehrer und der Hausmeister sind den beiden Frauen zu Hilfe geeilt, haben sie in Sicherheit gebracht und uns verständigt.«

»Haben sie den Täter gesehen?«

»Nein, eigentlich nicht. Dieser Lehrer, ihr kennt ihn übrigens gut, hat nur für einen kurzen Moment einen Schatten wahrgenommen. Das ist leider alles, was er gesehen hat.«

»Du sagtest, dass wir ihn gut kennen. Wer ist es denn?«, warf die Kommissarin ein.

»Na, drei Mal darfst du raten, wer das sein könnte!«, meinte ihr Kollege und der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht.

»Scheiße, Klaus, spann uns hier nicht auf die Folter, sondern gib uns die Informationen, die wir brauchen«, polterte der Kommissar ungeduldig.

Klaus Petermann zog geräuschvoll die kühle Herbstluft durch seine Zähne, dann schaute er seine beiden Kollegen an und sagte: »Thomas Bender! Wer sonst könnte am Schauplatz eines solchen Verbrechens auftauchen als Thomas Bender!«

»Das gibt’s doch nicht. Jetzt verarschst du uns aber, oder?«, fragte der Kommissar ungläubig.

»Nein, meine Lieben, keine Verarsche, sondern die bittere Realität.«

»Wo ist er?«

»Da unten bei seinen Schülern. Wenn ihr diesem Trampelpfad folgt«, er zeigte in Richtung des sanften Abhangs, »dann kommt ihr direkt zu ihm. Peter und Leo sind gerade bei ihnen und nehmen ihre Aussagen zu Protokoll.«

»Dank dir, Klaus, wir sehen uns bestimmt später noch einmal«, sagte Reinhold Bach, klopfte seinem Kollegen freundschaftlich auf die Schulter und stapfte los.

Doch nach ein paar Metern blieb er plötzlich stehen, drehte sich noch einmal herum und sah verwundert seine Kollegin an. »Brauchst du eine extra Einladung oder soll ich die ganze Arbeit wieder einmal alleine erledigen?«, fragte er mit gereiztem Unterton.

»Nein, nein, ich komm ja schon. Musste diesen Brocken nur schnell verdauen. Auf Tom war ich jetzt wirklich nicht gefasst. Das hat mich für einen kleinen Moment vollkommen aus der Bahn geworfen«, antwortete Britta Jungmann und setzte sich zögernd in Bewegung.

Bei ihrem letzten Fall hatte Tom Bender auch eine tragende Rolle gespielt. Bei dem Versuch, ihn und seine Familie zu beschützen, wäre sie beinahe gestorben.

Eine Woge von Gefühlen schwappte über ihr zusammen und versetzte sie für einen kleinen Moment zurück in eine klare Vollmondnacht.

Plötzlich spürte sie wieder das Messer in ihrem Unterleib. Sie spürte wieder die gleiche Angst und das schreckliche Gefühl der Hilflosigkeit. Und sie spürte, wie eine unbändige Wut in ihr aufstieg. Damals hatte sie versagt und die Gefahr einfach unterschätzt.

Das hatte fast zu einer Katastrophe geführt und sie um ein Haar ihr Leben gekostet.

Doch ein zweites Mal würde ihr so ein Fehler bestimmt nicht mehr unterlaufen, darauf würde sie schon achten.


Mörderische Spiele

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