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BALLARD 8

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Ballard kam drei Stunden vor ihrer um 23 Uhr beginnenden Schicht in die Hollywood Station, um sich an die Durchsicht der Filzkarten zu machen. Zuerst holte sie sich im Hauptgebäude ein Funkgerät aus der Ladestation und ging dann über den Parkplatz zum Nebengebäude, in dessen Flur sie die Kisten mit den Karten abgestellt hatte. Das Fitnessstudio und der Kampfkunstraum waren leer. Sie suchte sich in einer der Abstellkammern, in der immer noch die Holzschreibtische aus der Zeit vor der letzten Renovierung lagerten, einen Platz zum Arbeiten. Trotz Boschs diesbezüglicher Skepsis war Ballard versucht, sich zunächst die Filzkarten aus der unmittelbaren zeitlichen Umgebung des Daisy-Clayton-Mords vorzunehmen. Vielleicht hatte sie Glück und stieß auf einer der Karten auf eine verdächtige Person. Ihr war jedoch klar, dass Boschs recht hatte. Der Gründlichkeit halber war es besser, ganz am Anfang zu beginnen und sich chronologisch vorzuarbeiten.

Die Karten in der ersten Kiste reichten bis Januar 2006 zurück, drei Jahre vor dem Clayton-Mord. Ballard stellte den Karton neben ihrem Schreibtisch auf den Boden und begann der Reihe nach zehn Zentimeter dicke Packen herauszunehmen. Sie schaute kurz auf beide Seiten jeder Karte und achtete vor allem auf Ort und Zeitpunkt der Kontrolle und ob der Vernommene ein Mann war, bevor sie die weiteren Angaben studierte.

Für die erste Kiste brauchte sie zwei Stunden. Drei der durchgesehenen Karten legte sie für Bosch beiseite, eine nur für sich selbst. Die Filzkarten bestätigten sie wieder in ihrer Überzeugung, dass Hollywood ein Sammelbecken für Freaks und Loser war, die auf der Suche nach Möglichkeiten, an Geld zu kommen, ziellos durch die Stadt streiften. Bei vielen, die von auswärts kamen und Drogen oder Sex kaufen wollten, dienten die Polizeikontrollen dem Zweck, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Bei den Dauerbewohnern der Straßen Hollywoods – egal ob Räuber oder Beutetiere – war jedoch keine Bereitschaft zur Änderung ihres Lebensstils mehr erkennbar.

Zugleich erfuhr Ballard aus den Filzkarten auch etwas über die Cops, die diese Kontrollen durchgeführt hatten. Manche neigten zu sprachlichen Ausuferungen, andere waren grammatikalisch deutlich überfordert, und wieder andere griffen bei der Beschreibung der Kontrollierten auf Codes wie Adam Henry (Arschloch) zurück. Nicht wenige hatten ganz offensichtlich keine Lust, die Karten auszufüllen, und beschränkten sich bei ihren Angaben auf ein Minimum. Manche schafften es allerdings auch, trotz der Begleitumstände ihrer Tätigkeit und der damit einhergehenden düsteren Weltsicht, ihren Humor nicht zu verlieren.

Die aufschlussreichsten Informationen waren auf den unbedruckten Rückseiten der Karten zu finden, und Ballard las mit fast anthropologischem Interesse, was diese Mini-Protokolle über Hollywood und die Gesellschaft als Ganzes verrieten. Eine Karte legte sie nur deshalb für sich beiseite, weil ihr gefiel, was der Officer darauf geschrieben hatte.

Subjekt ist ein menschlicher Steppenläufer

Lässt sich vom Wind treiben

Wird morgen weggeweht werden

Niemand wird ihn vermissen

Der Verfasser dieser Karte hieß T. Farmer, und Ballard ertappte sich dabei, dass sie nach seinen Filzkarten Ausschau hielt, um mehr seiner elegischen Vernehmungsprotokolle zu lesen.

Die drei Karten, die sie für eine weitere Überprüfung durch Bosch beiseitegelegt hatte, betrafen lauter weiße Männer, die von den Polizisten als »Touristen« eingestuft wurden, die nur mal vorbeischauen wollten. Das hieß, sie waren von auswärts und kamen nach Hollywood, weil sie etwas suchten, was im Fall dieser drei Männer höchstwahrscheinlich Sex war. Sie hatten keine Straftat begangen, als sie angehalten und kontrolliert wurden, weshalb die Officers in ihren Äußerungen sehr zurückhaltend waren. Ort, Zeitpunkt und Grundtenor der Vernehmungen ließen jedoch keinen Zweifel daran, dass die Männer nach Auffassung der Polizisten nach Bordsteinschwalben Ausschau hielten. Ein Mann war zu Fuß unterwegs, einer in einem Pkw und der dritte in einem beruflich genutzten Transporter. Ballard hatte vor, ihre Namen und Kfz-Kennzeichen in die einschlägigen Polizeidatenbanken einzugeben, um zu sehen, ob dort vielleicht irgendwelche Vorstrafen oder Aktivitäten vermerkt waren, die eine eingehendere Überprüfung dieser Männer nahelegten.

Sie war gerade mit der ersten Hälfte der zweiten Kiste durch, als Punkt Mitternacht ihr Funkgerät zu quäken begann. Es war Lieutenant Munroe.

»Ich habe Sie beim Appell vermisst, Ballard.«

Sie war nicht verpflichtet, zum Appell zu erscheinen, aber sie nahm so oft daran teil, dass auffiel, wenn sie es nicht tat.

»Sorry, L.T., aber ich bin grade an was dran und habe nicht auf die Zeit geachtet. Irgendwas Wichtiges, was ich wissen sollte?«

»Nein, bisher alles ruhig. Aber Ihre neue Flamme ist wieder hier. Soll ich ihn zu Ihnen schicken?«

Ballard zögerte, bevor sie das Mikro einschaltete und antwortete. Sie nahm an, dass ihr Besucher Bosch war. Sich zu beschweren, dass Munroe ihn ihre Flamme nannte, wäre reine Zeitverschwendung und würde sie mehr kosten, als es ihr brachte.

Sie aktivierte das Mikro.

»Ich bin nicht im Bereitschaftsraum. Sagen Sie meiner ›Flamme‹, er soll bei Ihnen bleiben. Ich komme ihn holen.«

»Alles klar.«

»Übrigens, L.T. Gibt es in Hollywood einen Streifenpolizisten, der T. Farmer heißt?«

Wenn Farmer noch bei der Hollywood Division war, arbeitete er inzwischen sicher in der Tagschicht. Von der Nachtschicht kannte sie jeden.

Es dauerte eine Weile, bis Munroe antwortete.

»Nicht mehr. Er ist EDS gegangen, als Sie hier angefangen haben.«

Ende der Schicht, EDS. Plötzlich fiel Ballard wieder ein, dass die Division den Tod eines ihrer Officers betrauert hatte, als sie vor drei Jahren nach Hollywood versetzt worden war. Ein Selbstmord. Jetzt wurde ihr klar, dass es Farmer gewesen war.

Ballard spürte einen unsichtbaren Schlag gegen die Brust. Sie drückte auf die Mikrotaste.

»Verstehe.«

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