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Im Du-par’s im Farmers Market gab es einen Tisch, von dem aus man das ganze Lokal und den Eingang im Blick hatte. Dorthin setzte sich Ballard jedes Mal, wenn er frei war. Und in den meisten Nächten, in denen sie dazu kam, eine richtige Essenspause einzulegen, war es so spät, dass das Lokal fast leer war und sie unter den Tischen auswählen konnte.

Sie saß Bosch gegenüber, der nur einen Kaffee bestellt hatte. Er erklärte ihr, dass es beim SFPD fast jeden Morgen Frühstücksburritos und Donuts gab und dass er zum 6-Uhr-Appell in die Station fahren wollte, um anschließend mit seinem Team den Durchsuchungsbeschluss zu vollstrecken.

Ballard langte ordentlich zu. Sie hatte das Abendessen ausgelassen und war entsprechend hungrig. Auch sie bestellte Kaffee, aber im Gegensatz zu Bosch auch den Spezialteller Blau, der aus Pfannkuchen und Eiern mit Speck bestand. Während sie auf das Essen wartete, fragte sie Bosch nach den Filzkarten, die er im Auto durchgesehen hatte, während sie im Sirens gewesen war.

»Es war keine dabei, die ich rausgelegt habe«, sagte er.

»Sind Ihnen welche von einem Officer Farmer untergekommen?«, fragte sie. »Er hatte das Zeug zum Schriftsteller.«

»Ich glaube nicht … Aber auf die Namen habe ich auch nicht groß geachtet. Meinen Sie Tim Farmer?«

»Ja, haben Sie ihn gekannt?«

»Wir waren zusammen auf der Akademie.«

»Ich wusste gar nicht, dass er schon so alt war.«

Ballard wurde sofort bewusst, was sie da gerade gesagt hatte.

»Sorry«, entschuldigte sie sich deshalb rasch. »Ich habe mich nur gefragt, na ja, warum jemand, der schon so lang dabei ist, immer noch Streife fährt.«

»Es gibt Typen, die kommen einfach nicht los vom Streifendienst«, sagte Bosch. »Wie es auch welche geben soll, die nicht von den Mordfällen loskommen. Sie wissen schon, dass er …«

»Ja, weiß ich. Warum hat er das getan?«

»Wer weiß? Er stand einen Monat vor seiner Pensionierung. Soviel ich gehört habe, war es eine Zwangspensionierung. Wäre er geblieben, hätten sie ihn an einen Schreibtisch verbannt. Deshalb hat er seinen Abschied eingereicht und in seiner letzten Dienstetappe den Stecker gezogen.«

»Echt traurig.«

»Das sind die meisten Selbstmorde.«

»Mir hat gefallen, wie er geschrieben hat. Seine Beobachtungen auf den Filzkarten waren wie kleine Gedichte.«

»Viele Dichter begehen Selbstmord.«

»Mhm.«

Ein Kellner brachte ihr Essen, und plötzlich war Ballard nicht mehr so hungrig. Sie bedauerte einen Mann, den sie nie kennengelernt hatte. Sie goss Sirup über ihre Pfannkuchen und begann trotzdem zu essen.

»Hatten Sie nach der Akademie noch Kontakt?«, fragte sie.

»Eigentlich nicht«, sagte Bosch. »Wir mochten uns zwar und haben uns auf Jahrgangstreffen gesehen, aber wir waren auf verschiedenen Dampfern. Das war damals nicht wie heute, mit Social Media und Facebook und so. Er war ursprünglich im Valley oben und ist erst nach Hollywood gekommen, als ich schon nicht mehr dort war.«

Ballard nickte und stocherte in ihrem Essen herum. Die Pfannkuchen weichten immer mehr durch und waren nicht mehr sehr appetitanregend. Sie probierte die Eier.

»Ich wollte Sie auch noch wegen King und Carswell fragen«, sagte sie. »Sie oder Soto haben doch sicher mit Ihnen gesprochen, bevor Sie hiermit angefangen haben.«

»Ja, Lucia hat mit ihnen geredet«, sagte Bosch. »Zumindest mit einem von ihnen. King ist schon seit fünf Jahren in Pension und irgendwohin gezogen, wo sie weder Telefon noch Internet haben. Total ab vom Schuss. Sie hat sich die Postfachadresse besorgt, an die sie seine Pensionsschecks geschickt haben, und ihm einen Brief geschrieben, ob sie wegen des Falls mit ihm sprechen könnte. Sie wartet immer noch auf eine Antwort. Carswell ist auch pensioniert und arbeitet jetzt für die Bezirksstaatsanwaltschaft von Orange County als Ermittler. Lucia ist zu ihm runtergefahren, aber er hat sich nicht als besonders ergiebige Informationsquelle entpuppt. Konnte sich kaum an den Fall erinnern und hat ihr nur gesagt, dass alles, was er gewusst hat, im Mordbuch steht. Er hat nicht den Eindruck gemacht, als wollte er über einen Fall sprechen, den er nicht gelöst hat. Ich bin sicher, Sie kennen diesen Typ Polizisten.«

»Ja. ›Wenn ich den Fall nicht lösen kann, kann das niemand.‹ Und was ist mit Adam Sands, dem Freund? Hat mit ihm noch mal einer von Ihnen gesprochen?«

»Das ging nicht mehr. Er ist 2014 an einer Überdosis gestorben.«

Ballard nickte. In Sands’ Fall kein überraschendes Ende, aber dennoch enttäuschend, weil er ihnen hätte helfen können, sich ein Bild von der Szene zu machen, in der Daisy Clayton unterwegs gewesen war. Außerdem hätten sie von ihm vielleicht die Namen von ein paar anderen Ausreißern und Bekannten aus der Szene bekommen können. Ballard wurde zunehmend klar, warum Bosch die Filzkarten so wichtig waren. Vielleicht waren sie ihre letzte Hoffnung.

»Sonst noch was?«, fragte sie. »Ich nehme mal an, das Mordbuch hat Soto. Sonst noch was Wichtiges, was nicht in der Datenbank steht?«

»Eigentlich nicht«, sagte Bosch. »King und Carswell haben sich nicht gerade groß reingehängt. Carswell hat Lucia gegenüber sogar geäußert, dass sie ihre Notizbücher erst gar nicht ins Mordbuch eingefügt haben, weil sowieso alles in den Berichten stand.«

»Diesen Eindruck hatte ich auch, als ich online ins Buch geschaut habe.«

»Apropos Buch, ich habe mit dem, was ich gemacht habe, ein zweites Buch angelegt.«

»Das würde ich gern mal sehen.«

»Ich hab’s im Auto. Erinnern Sie mich dran, dass ich es Ihnen gebe, wenn wir zurück sind. Nachdem Sie inzwischen offiziell involviert sind, sollten vielleicht von jetzt an Sie es führen.«

»Klar, gern. Danke.«

Bosch griff in eine Innentasche seines Sakkos und zog eine Filzkarte heraus. Er schob sie über den Tisch, damit Ballard sie lesen konnte.

»Haben Sie nicht gesagt, es war keine interessante dabei?«

»Schon«, sagte Bosch. »Aber die ist von vorher. Lesen Sie das mal.«

Das tat sie. Die Karte war am 9. Februar 2009, mehrere Monate vor Daisy Claytons Ermordung, um 3:30 Uhr morgens ausgefüllt worden. Die kontrollierte Person war ein John McMullen, der 36 Jahre alt gewesen war, als er an der Kreuzung Western und Franklin Avenue vernommen wurde. McMullen war nicht vorbestraft. Der Karte zufolge fuhr er einen weißen Ford-Lieferwagen, der mit Bibelstellen und religiösen Sprüchen beschriftet und auf eine staatlich anerkannte Wohltätigkeitsorganisation namens Moonlight Mission zugelassen war.

Der Lieferwagen hatte der Karte zufolge im Parkverbot gestanden, während McMullen auf dem Gehsteig Passanten ansprach und fragte, ob sie bei Jesus Christus Erlösung finden wollten. Diejenigen, die darauf verzichteten, wurden mit wüsten Beschimpfungen überschüttet, begleitet von düsteren Ankündigungen, dass sie beim bevorstehenden Anbruch der himmlischen Glückseligkeit übergangen würden.

Auf der Rückseite der Karte stand: »Vernommener bezeichnet sich als Johannes der Täufer. Fährt auf der Suche nach Leuten, die sich taufen lassen möchten, mit seinem Lieferwagen in Hollywood herum.«

Ballard schnippte die Karte vor Bosch auf den Tisch.

»Okay. Und warum zeigen Sie mir das erst jetzt?«

»Weil ich erst Erkundigungen über ihn einziehen wollte«, sagte Bosch. »Ich habe ein bisschen rumtelefoniert, als Sie im Stripclub waren.«

»Und?«

»Die Moonlight Mission gibt es immer noch, und er ist nach wie vor dort.«

»Sonst noch was?«

»Der Lieferwagen – er ist immer noch auf ihn zugelassen und anscheinend noch in Betrieb.«

»Alles schön und gut, aber ich habe auf der Station einen Packen mit bestimmt zwanzig Karten von kontrollierten Lieferwagen. Warum haben Sie ausgerechnet diese gestohlen?«

»Ich habe sie nicht gestohlen, ich zeige sie Ihnen. Was soll das mit Stehlen zu tun haben?«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass außer den Karten, die ich Sie vorhin habe mitnehmen lassen, alle Karten beim LAPD bleiben müssen.«

»Na schön, wenn Sie meinen. Ich habe eine der Karten, die ich davor gelesen habe, mitgenommen, weil ich dachte, dass wir nach Ihrem Einsatz in der Moonlight Mission vorbeifahren könnten, um uns ein Bild zu machen, was das für ein Verein ist. Mehr nicht.«

Sie senkte den Blick auf ihren Teller und schob die Eier mit der Gabel hin und her. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie Bosch gegenüber so pingelig und paragraphenreiterisch war.

»Schauen Sie«, sagte Bosch. »Ich weiß Bescheid über Sie. Ich weiß, dass man Ihnen übel mitgespielt hat. Mir ist es ähnlich ergangen. Aber egal, ich habe nie einen Partner verraten, und ich hatte im Laufe der Jahre einige.«

Ballard sah ihn an. »Wir sind Partner?«

»In diesem Fall«, sagte Bosch. »Sie haben gesagt, Sie wollen einsteigen. Ich habe Sie einsteigen lassen.«

»Es ist nicht Ihr Fall. Es ist ein LAPD-Fall.«

»Er gehört dem, der daran arbeitet.«

Bosch nahm einen Schluck Kaffee, und an seiner Reaktion war zu sehen, dass er kalt geworden war. Er drehte sich um, schaute in Richtung Küche, wo die Bedienung herumstand, und hielt zum Zeichen, dass er frischen Kaffee wollte, seine Tasse hoch.

Dann wandte er sich wieder Ballard zu.

»Sie wollten mit mir an dem Fall arbeiten. Deshalb würde ich vorschlagen, arbeiten wir daran. Andernfalls arbeiten wir eben getrennt – was allerdings schade wäre. Aber diese leidigen Revierkämpfe … Genau das ist der Grund, warum oft so wenig bei Ermittlungen herauskommt. Wie hat Rodney King so schön gesagt: ›Können wir uns nicht einfach vertragen?‹«

Ballard wollte bereits zurückblaffen, aber plötzlich tauchte die Bedienung mit der Kaffeekanne an ihrem Tisch auf, und sie biss sich auf die Zunge, solange sie ihnen nachschenkte. In diesen wenigen Sekunden beruhigte sie sich so weit, um über das, was Bosch gerade gesagt hatte, nachdenken zu können.

»Okay«, sagte sie schließlich.

Die Bedienung legte die Rechnung auf den Tisch und entfernte sich in Richtung Küche.

»Okay was?«, fragte Bosch. »Wie wollen Sie jetzt weiter vorgehen?«

Ballard griff nach der Rechnung und sagte: »Fahren wir zur Moonlight Mission.«

Nachdem sie in Ballards Streifenwagen gestiegen waren, rief sie auf ihrem Handy Lieutenant Munroe an und sagte ihm, dass sie wieder im Dienst war, aber einer Spur folgte und vorerst nicht in die Station käme. Munroe wollte wissen, an welchem Fall sie arbeitete, worauf sie nur herausrückte, dass es eine Ungereimtheit in einem Hobby-Fall sei. Sie legte auf und startete den Motor.

»Sie mögen ihn nicht, hm?«, sagte Bosch.

»Ich bin der einzige Detective, der einem Lieutenant von der Streife unterstellt ist«, sagte Ballard. »Er ist eigentlich nicht mein Chef, bildet es sich aber ein. Und übrigens, wegen vorhin … Dass ich zu dem Einsatz in dem Stripclub gerufen worden bin, das ist mir ziemlich sauer aufgestoßen. Ich hätte nicht sagen sollen, dass Sie die Filzkarte gestohlen haben. Dafür entschuldige ich mich, ja?«

»Müssen Sie aber nicht. Kann ich verstehen.«

»Nein, können Sie nicht. Wie auch? Aber danke, dass Sie es sagen.«

Sie fuhr vom leeren Parkplatz des Farmers Market auf die Fairfax.

»Was genau hat es mit diesem Johannes dem Täufer auf sich?«, fragte sie. »Wohin fahren wir jetzt und warum?«

»Die Mission ist in der Cherokee Avenue«, sagte Bosch. »Auf Höhe der Selma, südlich vom Hollywood Boulevard. Irgendwas an diesem Typen, der Leute sucht, die er taufen kann, kommt mir nicht ganz geheuer vor. Einfach so ein Gefühl, oder wie Sie es sonst nennen wollen. Und Daisy wurde mit Bleichmittel gewaschen. Ich kenne mich zwar nicht besonders mit organisierten Religionen aus, aber wenn man getauft wird, tauchen sie einen doch in das Wasser von Jesus oder so ähnlich.«

»Damit kenne ich mich auch nicht besonders aus – mit organisierten Religionen, meine ich. Ich bin in Hawaii aufgewachsen. Im Leben meines Vaters hat sich alles um Wellen gedreht. Das war unsere Religion.«

»Ein Surfer. Und Ihre Mutter?«

»Verschollen. Aber zurück zu Johannes dem Täufer. Woher wissen Sie …«

Bevor sie die Frage zu Ende stellte, schaute sie auf den mobilen Computermonitor, der an einem Schwenkarm auf dem Armaturenbrett angebracht war. Sie wusste, dass der Bildschirm dem Fahrersitz zugewandt gewesen war, als sie von der Station losgefahren waren. Weil Jenkins, ihr Partner, vom Dienst freigestellt war, war sie die ganze Woche allein unterwegs gewesen. Doch jetzt war der Monitor Bosch zugewandt.

»Haben Sie in der MDC nach McMullen gesucht?«, fragte sie in vorwurfsvollem Ton.

Bosch zuckte mit den Achseln, was sie als Ja deutete.

»Wie?«, fragte sie. »Haben Sie mein Passwort geknackt?«

»Nein«, sagte Bosch. »Ich habe das meiner ehemaligen Partnerin verwendet. Sie ändert jeden Monat immer nur die zwei letzten Stellen. Ist mir bei dieser Gelegenheit wieder eingefallen.«

Am liebsten hätte Ballard angehalten und Bosch aus dem Wagen geworfen, aber dann fiel ihr ein, dass auch sie einmal das Passwort eines ehemaligen Partners verwendet hatte, um sich in die LAPD-Datenbank einzuloggen, ohne Spuren zu hinterlassen. Ihr Partner war damals sogar schon tot gewesen. Wie konnte sie also Bosch so etwas zum Vorwurf machen?

»Und was haben Sie gefunden?«, fragte sie.

»Nichts«, sagte Bosch. »Er ist nicht vorbestraft.«

Darauf fuhren sie eine Weile schweigend weiter. Ballard nahm die Fairfax bis zum Hollywood Boulevard und fuhr dann in Richtung Osten weiter.

»Nur gut, dass Johannes der Täufer den Lieferwagen noch hat«, sagte Ballard. »Wenn Daisy mal in der Karre war, könnte es dort noch Spuren geben.«

Bosch nickte.

»Habe ich mir auch gedacht. Aber das wäre wirklich Glück – vorausgesetzt, er ist unser Mann.«

Night Team

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