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Mittwoch, 7. Oktober 86 Tage Frist

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Wieder fährt Manning von Chicago aus nach Norden in Richtung Bluff Shores. Als er gestern Father Carey anrief, um ein Interview zu vereinbaren, sagte der Priester ihm, er wäre am Mittwoch fast den ganzen Tag nicht in der Gemeinde, aber Manning könnte zu einem Gespräch nach der Halb – sieben – Messe vorbeikommen.

Manning blickt auf die Uhr am Armaturenbrett, als sie gerade 7:00 Uhr früh anzeigt. Er hat sich heute früher als gewöhnlich aus dem Bett gequält, fühlt sich aber noch nicht recht wach. Er hat nicht einmal das Radio eingeschaltet und fährt, in unangenehme Gedanken versunken, im stillen Auto. Seit Jahren hat er keinen Fuß mehr in eine Kirche gesetzt, es sei denn dienstlich – um zum Beispiel über Protestveranstaltungen oder die Begräbnisse von Politikern zu berichten.

Er biegt auf das Grundstück der Gemeinde Saint Jerome’s ab. Die kieferngesäumte Einfahrt erinnert ihn mehr an einen Countryclub als an eine Kirche. In der Entfernung sieht er das Hauptgebäude stehen. Es ist rund – ein gigantischer Zylinder aus hellen Ziegeln mit einem flachen, kegelförmigen Dach, das nicht von einem Kirchturm, sondern von einem Oberlicht gekrönt ist. Die einzigen ›Fenster‹ bestehen aus bunten Glasblöcken, die nach Zufall in die Mauern eingelassen sind.

Örtliche Kritiker haben das Gebäude mit einer Menge anderer Bauten von Stierkampfarena bis Kernreaktor verglichen. Bei der Recherche über die Gemeinde im Archiv des Journal gestern, erfuhr Manning, dass die Kirche einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils erbaut worden war, nicht weil das alte Gebäude hätte ersetzt werden müssen, sondern einfach weil die wohlhabenden Gemeindemitglieder ein Bauwerk errichten wollten, das besser zu der von ihrer gewandelten Kirche verordneten neuen Art des Gottesdienstes passte.

Manning fährt an der Schule, dem Gemeindehaus, dem Pfarrhaus vorbei – die alle traditioneller gestaltet sind als die Kirche – und biegt auf den Parkplatz neben der wuchtigen architektonischen Kuriosität ein. Nur wenige, vielleicht ein Dutzend, andere Wagen sind hier geparkt, alle auf Privatplätzen, und ihre Stoßstangen berühren fast das Gebäude. Instinktiv überprüft er seine Taschen nach Notizbuch und dem Mont Blanc, bevor er aus dem Wagen steigt.

Der Oktobermonsun ist, wenn auch nur kurz, ausgebrochen und Manning kann bequem zu Fuß gehen, ohne rasch Unterschlupf suchen zu müssen. Seine eleganten Lederschuhe knirschen auf dem noch feuchten Kies. Hungrige, unsichtbare Vögel zwitschern geräuschvoll in den Bäumen unter einem wolkenverhangenen Vormittagshimmel.

Als Manning das Vestibül des Gebäudes betritt, schließt sich hinter ihm leise eine riesige Bronzetür und bringt die Vögel zum Schweigen. Von irgendwoher rauscht eine Klimaanlage und der Teppich unter seinen Füßen verstärkt noch den Eindruck allgegenwärtiger Stille. Er zieht eine der Glastüren auf, in die ein Symbol der Dreieinigkeit geschliffen ist, und betritt die eigentliche Kirche. Vor ihm gähnt der gewölbte Raum, als wolle er ihn in sein Zentrum saugen, wo ein monolithischer Block aus schwarzem Marmor als Altar dient. Die Gesamtwirkung ist beeindruckend dramatisch und Manning setzt sich in eine der hinteren Bänke nahe der Tür, um das Innere der Kirche zu studieren, während er darauf wartet, dass der Gottesdienst zu Ende geht.

Manning versucht, sich an seinen letzten, nicht beruflichen Kirchenbesuch zu erinnern. Vor zehn Jahren? Nein, fünfzehn? Ist es wirklich so lange her, dass der nagende Zweifel zu einer festen Gewissheit für ihn wurde? Es ist schon so lange her, seit alle moralischen Krisen seiner Jugend hinweggeschwemmt wurden. Urplötzlich waren sie verschwunden, all die moralischen Konflikte, Glaubensgegensätze und konfessionellen Spitzfindigkeiten, all die Schuld und der Zweifel und die Nöte, die ihm sein Leben vergällt hatten. Jahre über Jahre sind vergangen, seit sich die Erkenntnis in seinem Verstand entfaltet hatte und schließlich die Stimme von Vernunft, Logik und gesundem Menschenverstand in ihm laut geworden war – die Stimme, die nicht zu überhören war –, so dass er an die Existenz Gottes schlicht nicht mehr glauben konnte.

Seitdem ist er frei. Wieso, fragt er sich, ist es nicht früher passiert? Der Nikolaus war für ihn gestorben, als er sechs war. Das unerwünschte Wissen, dass der gutmütige Geschenkebringer nur ein Märchen war, war natürlich enttäuschend gewesen, aber er war bald darüber hinweggekommen, denn er wusste damals schon, schon so jung, dass ein Stück Realitätssinn – die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht einfach so, wie man sie haben möchte – letztlich viel befriedigender, viel befreiender ist, als in einem Spiel, mit einer Lüge zu leben. Die Dinge passten zueinander.

Wenn der Nikolaus so schmerzlos gestorben war, als Manning sechs war, wie hatte es dann Gott geschafft, noch weitere zwanzig Jahre zu überdauern?

Wie hatte Er das gemacht? Er hatte die Macht der Indoktrination und die Kraft blinden Glaubens auf Seiner Seite, deshalb. Mit sechs war Manning für alt genug befunden worden, die augenzwinkernde Wahrheit über das Märchen Nikolaus zu erfahren; er war außerdem für alt genug befunden worden, in die Welt der Größeren, der großen Phantasie aufgenommen zu werden. Pfarrschule, Erstkommunion, Messdiener, Firmung – er war auf dem Weg, auf einem Pfad, der mit jedem Schritt enger wurde. Seine Mutter, seine Lehrer wie auch die gesamte Gesellschaft brachten ihm bei, dass er dereinst im Himmel frohlocken würde, wenn er glaubte, und in der Hölle schmoren, wenn nicht. Ist es da ein Wunder, dass sein Leben zwanzig Jahre lang von Mystizismus beeinträchtigt und regiert wurde? Das Wunder war, dass es ihm überhaupt gelang, das Licht zu sehen, dass er es geschafft hatte, den Unsinn abzuschütteln und die Majestät und Macht der Vernunft zu erkennen.

Manning schaut auf die langen liturgischen Banner, die ihm Luftstrom flattern, der durch das Gebälk dringt. Diese Kirche sieht anders aus als diejenigen, die er aus seiner Jugend kennt. Sehen sie heute alle so aus?

Seine Aufmerksamkeit wendet sich dem Gottesdienst zu, der sich seinem Ende nähert. Father Carey steht weißgekleidet am Altar. Die anwesende Gemeinde zählt weniger als zwanzig Menschen und ist in einem Halbkreis um den Altar mit dem Priester versammelt. Manning schätzt, dass Father Carey etwa so alt ist, wie er selbst, um die Vierzig. Wie Margaret O’Connor es beschrieben hat, ist er tatsächlich attraktiv, mit lockigem braunem Haar und durchdringenden Augen in der gleichen Farbe. Er strahlt eine Autorität aus, die seine Gläubigen in Verzückung zu versetzen scheint. Es war sicher ein Fang für einen so jungen Mann, zum Pfarrer einer so großen und wohlhabenden Gemeinde wie Saint Jerome’s ernannt zu werden, und wahrscheinlich war er es, der Helena Carter davon überzeugte, die Kirche in ihr Testament aufzunehmen. Zweifellos ist er jemand, der im höheren Klerus mit Wohlgefallen betrachtet wird, jemand, auf den ›man achten muss‹, jemand, der zu Höherem berufen ist. Er ist zu gewandt, zu glatt, ein Manipulator, sagt sich Manning.

Manning beobachtet, wie Carey während des Abendmahls beide Hände aller Gläubigen umfasst, Stücke geweihten Brotes austeilt und einen irdenen Weinkelch reicht, bis er schließlich seiner Herde befiehlt ›Gehet hin in Frieden und lobet und preiset den Herrn‹. Als die Leute den Altarraum verlassen und der Priester sich in die Sakristei zurückzieht, steht Manning auf und schlendert durch den Gang zur ersten Bankreihe.

Kurz darauf kehrt der Priester zurück, jetzt in den normalen schwarzen Anzug mit Priesterkragen gekleidet. »Mark? Tut mir Leid, dass Sie warten mussten.«

»Keine Ursache, Father«, sagt Manning und tritt vor, um ihm die Hand zu schütteln.

»Bitte – nennen Sie mich Matt«, bittet der Priester ihn geschäftsmäßig und doch herzlich mit festem, formlosen Händedruck.

Manning fragt sich, ob der Priester das Händeschütteln einen Moment länger als nötig ausgedehnt hat. »Danke, Matt. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich die Zeit nehmen, mich zu empfangen.« Sie tauschen ein Lächeln aus, das sie zusammenzuschweißen scheint, und Manning fragt sich, ob er den Mann falsch eingeschätzt hat.

»Ich bin froh, dass wir es einrichten konnten«, beginnt Carey, der in der ersten Reihe Platz nimmt und Manning Zeichen macht, sich neben ihn zu setzen. »Es ist schon so lange her, dass Helena verschwunden ist, dass wir die Hoffnung schon fast aufgegeben haben. In letzter Zeit zeigen die Zeitungen allerdings ein neuerliches Interesse an dem Fall. Sagen Sie – verfolgen Sie irgendeine Spur?«

»Das weiß ich noch nicht. Deshalb bin ich ja hier. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen – und ein paar Notizen machen?« Manning schlägt sein Buch auf und schraubt die Kappe seines Füllhalters ab.

»Natürlich.« In einem vertraulichen Ton der Untertreibung, fügt er hinzu: »Ich habe gehört, Ihr Verleger hat Sie etwas unter Druck gesetzt.«

»Das stimmt.« Manning lacht, wenngleich ein wenig unbehaglich. »Wie kommt es, dass Sie davon wissen?«, fragt er den Priester.

»Purer Zufall. Ich besuchte am Samstag eine Gesellschaft bei Erzbischof Benedict, und der war am Freitagabend bei Nathan Cain zum Essen gewesen. Sie kennen sich schon lange – Komiteearbeit oder Ähnliches. Jedenfalls erzählte Nathan Cain dem Erzbischof von Ihrem Ultimatum und der Erzbischof hat es mir erzählt.«

Manning hält inne und schaut den Priester an. »Tatsächlich?«, fragt er offen.

»Ja.« Father Carey lacht. »Um Himmels Willen, Mark, das ist keine Verschwörung. Die Leute mit Macht und Einfluss kennen sich alle untereinander. Tatsache ist, dass der Erzbischof die Carters gut kannte – er spielte Golf mit Ridgely. Und wie es der Zufall so will, Nathan Cain auch.«

Manning erinnert sich an das Foto von Cain und den Carters aus dem Archiv. Tief in Gedanken versunken nickt er. Dann spürt er die Hand des Priesters auf seinem Knie.

»Mark, ich möchte Ihnen gerne helfen. Aber ich kann Ihnen von vornherein sagen, dass ich keine Ahnung habe, was mit Helena Carter passiert ist. Ich wäre ein reicher Mann, wenn ich’s wüsste.«

»Sind Sie an Reichtum interessiert, Father«, fragt Manning, wobei er den kirchlichen Titel sehr bewusst gebraucht.

»Ich gebe zu, meine Bemerkung war ungehörig. Aber da Sie schon fragen – ja. Ich bekenne, dass gewisse irdische Freuden höchst verlockend sind.« Er nimmt die Hand von Mannings Knie. »Wie ich allerdings schleunigst hinzufügen möchte, verstößt das Interesse an Geld nicht unbedingt gegen meine priesterliche Berufung. Ich bin Diözesanpriester, Mark; ich bin nicht Mitglied eines religiösen Ordens und habe kein Armutsgelübde abgelegt. Wohlstand ist nicht böse an sich. Im Gegenteil, er kann viel Gutes bewirken.« Er weist mit beiden Armen auf das Gebäude, das sie umgibt, ein Zeugnis der Wohltätigkeit des Geldes. »Stört es Sie, wenn sie eine solche Ansicht von einem Priester hören?«

»Ganz bestimmt nicht«, versichert ihm Manning.

»Ich frage nur«, erklärt der Priester, »weil Helena es äußerst störend fand. Wir waren gute Freunde geworden, aber das Thema Geld entzweite uns irgendwann.«

»Also das war es«, sagt Manning und unterstreicht etwas in seinem Notizbuch. »Ich habe vor zwei Tagen mit Helenas Schwester, Margaret, gesprochen und sie sagte mir, Sie und Helena hätten sich zerstritten.«

»Es hat etwas Komisches auf sich mit Geld. Nachdem ihr Mann gestorben war, fing ihr Wohlstand an, an ihr zu nagen – sie verdiente ihren Reichtum nicht, sie hatte ihn seinetwegen geheiratet, in der Art. Es geschah im Verlauf einiger ausführlicher Beratungsgespräche, dass die ganze Sache sich aufblähte. Im Versuch, sie von ihren grundlosen Ängsten zu befreien, vertraute ich ihr meine eigenen materialistischen Neigungen an. Sie missverstand meine Äußerungen völlig und von diesem Tage an spürte ich ihren Argwohn, ich sei hinter ihrer Erbschaft her. Von meiner Seite aus war das sehr töricht.«

»Sehr geschadet kann es nicht haben, Matt. In ihrem Testament vermacht sie den größten Teil ihres Vermögens der Erzdiözese.«

Der Priester steht auf und tritt in die Mitte des Altarraums. »Ich war schockiert, als ich es hörte. Ja, wir hatten über die Möglichkeit einer großen Hinterlassenschaft gesprochen – vorher.« Er legt eine Hand auf den Altar. »Aber ich schwöre bei Gott, dem ich diene, Mark, dass ich nicht einen Penny für die Kirche erwartet hatte – nicht nach unserem Gespräch. Ich war überzeugt, alles würde an Die Gesellschaft gehen.«

»Welche ›Gesellschaft‹? Margaret O’Connor sagte mir, ihre Schwester habe sich für irgend so eine konservative katholische Gruppierung interessiert. Für mich hörte es sich an wie ein Haufen Reaktionäre.«

»Genau. Sie nennen sich Die Gesellschaft zur Wiedererrichtung des Glaubens, aber in Kirchenkreisen sind sie einfach als Die Gesellschaft bekannt. Die Wurzeln der Bewegung reichen zurück bis in die sechziger Jahre während des Vatikanischen Konzils selbst. Alles, was beim Zweiten Vatikanischen herauskam, war natürlich Reform.« Er wedelt mit der Hand über seinem Kopf in Richtung der bizarren Architektur. »Aber es gab einen beträchtlichen Teil des Rates, der wollte, dass die Kirche unverändert bleibt. Es gab sogar welche, die zu noch älteren Gebräuchen zurückkehren wollten. Da die Schrift an der Wand jedoch für eine Änderung sprach, reihten die meisten Konservativen sich entweder ein oder hielten einfach den Mund. Aber nicht alle.«

Carey nimmt wieder neben Manning Platz. »Eine winzige Gruppe, angeführt von dem belgischen Kleriker Marcel Kardinal L’Évêque verschaffte sich in den Debatten zunehmend Gehör und erklärte die vorgeschlagenen Änderungen zur Ketzerei – eine außerordentlich schwere Anschuldigung. Der Schwung des Rates ließ sich jedoch nicht stoppen und ich nehme an, Sie sind mit der Richtung vertraut, die der führende Katholizismus seither nahm.«

»Im Großen und Ganzen«, sagt Manning. »Und L’Évêque?«

»Er gab nicht auf. Er ist inzwischen alt, aber er führt energisch eine ultrakonservative Bewegung an, die die Kirchenspaltung predigt. Er ist auf Kollisionskurs mit Rom und liebäugelt mit der Exkommunikation. Aber das würde ihn nur zum Märtyrer seiner Sache machen und ich glaube nicht, dass Rom das riskieren würde. Also wächst die Zahl seiner Anhänger. Langsam.«

Manning erhebt sich nachdenklich und wandert über den Mittelgang zur nächsten Bankreihe. Als Kind war ihm beigebracht worden, jedes Mal das Knie zu beugen, wenn er die Mitte der Kirche überschreitet, und selbst jetzt noch spürt er einen unbewussten Zug im rechten Knie – dem er jedoch widersteht. Er dreht sich zu Father Carey um. »Wie kam es, dass Helena Carter sich für das alles interessierte?«

»Vor etwa zehn Jahren gab es eine Menge öffentlichen Aufhebens um die Gründung einer Gemeinde in diesem Land. Die Bewegung war zu Beginn vorwiegend europäisch gewesen und damit von geringem Interesse für die amerikanische Kirche. Die Gesellschaft erregte jedoch ein ziemliches Aufsehen, als sie verkündete, sie habe genügend Anhänger gesammelt – und genügende Mittel aufgebracht, deren Quelle nie enthüllt wurde – um eine verlassene Mission im Westen zu erwerben. Sie solle ihre Ausgangsbasis in Amerika werden und unterstehe direkt L’Évêque. Die Gemeinde kam jedoch nie auf einen grünen Zweig und verschwand völlig aus den Nachrichten, selbst in den kirchlichen Publikationen.«

Manning setzt sich in die nächste Bank und schreibt in sein Notizbuch. Dann schaut er den Priester über den Gang hinweg an. »Was wissen Sie über den Ort?«, fragt er.

»Nicht viel. Er heißt Assumption, ein kleines Dorf irgendwo in der Wüste im Südwesten – Arizona oder New Mexico, glaube ich – meilenweit entfernt von jeder Stadt. Es ist ganz abgeschieden und so wollen sie es auch bewahren. Es gibt eine Kirche und eine Schule und höchstens hundert Einwohner. Ihr weltlicher wie auch geistlicher Führer ist der Pfarrer der Kirche, Father James McMullen. Er ist ein anständiger Mensch, tief im Glauben verwurzelt, obwohl er es meiner Meinung nach natürlich etwas übertreibt. Zufällig hatte ich Kurse in Theologie und Dogmengeschichte bei ihm, als ich auf dem Seminar war, daher kannte ich ihn gut. Jahre später hat es uns alle schockiert, zu erfahren, dass er seine Sachen gepackt hatte und weggegangen war, um die Gründung dieser reaktionären Gemeinde in der Wüste zu leiten. Es hörte sich alles so schaurig an, wie ein Kult oder irgend so eine verschrobene Sekte.«

»Und Helena Carter sympathisierte mit der Gesellschaft?«, fragt Manning.

Carey atmet geräuschvoll aus. Er steht auf und geht wieder zum Altar. »Ich glaube«, erzählt er dem Reporter, »dass sie sie nicht ganz als die antirömische, doktrinäre Abspaltung ansah, die sie im Grunde ist. Sie fasste sie vielmehr als die letzte Festung jener sentimentalen Aspekte des Katholizismus auf, an denen so viele von uns festhalten möchten. Die Lateinische Messe, die fleischlosen Freitage, die Novenen und Segnungen, die Stationen des Kreuzes, die samstägliche Beichte – alle diese Dinge dienten dazu, uns von anderen abzuheben und dadurch uns selbst auf eine Art zu definieren, die leicht zu verstehen war und uns die Gewissheit der Erlösung garantierte. Das kann sehr tröstlich sein. Einige unserer Anhänger haben den Verlust nie verwunden.«

»War Helena ein solcher Mensch?«, fragt Manning. »Erschien Sie Ihnen außergewöhnlich begierig, zu den alten Gebräuchen zurückzukehren? Glauben Sie, sie sei Willens gewesen, davonzulaufen und ihr Leben dieser Sache zu weihen?«

»Nein«, sagt der Priester. Er kommt vom Altar zurück und bleibt neben der Bank stehen, in der Manning sitzt. »Ihre Neigung zu den alten Gebräuchen der Kirche hielt ich nie für mehr als die wehmütige Sehnsucht einer Frau mittleren Alters, die sich einen Teil der Welt zurückerobern möchte, die sie in ihrer Jugend gekannt hat.«

»Margaret sagte mir, Sie hätten nach Assumption geschrieben, um zu fragen, ob Helena dort sein könnte.«

Carey setzt sich neben Manning und erklärt: »Einige Zeit nach dem Verschwinden kam Margaret zu mir und sagte mir, sie frage sich, ob Helena nach Assumption gegangen sein könnte. Sie wusste überhaupt nichts darüber – nicht einmal den Namen – aber offensichtlich hatte Helena zu Hause gelegentlich davon erzählt. Da mir der Gedanke auch schon gekommen war, und da ich Father McMullen aus dem Seminar kannte, schrieb ich ihm sofort und fragte ihn, ob er vielleicht ein neues Mitglied habe, bei dem es sich um Helena handeln könnte. Kurz darauf antwortete er, er bedauere, nicht helfen zu können, und versicherte mir, es gäbe dort keine solche Frau.«

»Würde er Sie anlügen?«, fragt Manning unverblümt.

Der Priester lacht und mustert dann Manning mit einem todernsten Blick. »Es ist undenkbar, dass Jim McMullen zu seinem persönlichen Wohl lügen oder auch nur die Wahrheit verdrehen könnte.«

»Und wie steht es mit dem Wohl der Gemeinschaft, Der Gesellschaft?«

»Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, Mark, aber ich kenne den Mann gut genug, um mich in der Sache auf sein Wort zu verlassen.«

Manning dreht eine Seite seiner Notizen um und fragt: »Wie gut kennen Sie Margaret O’Connor?«

»Margaret hat nie die gleiche Glaubenskraft oder das Interesse an kirchlichen Aktivitäten gezeigt wie ihre Schwester. Außer an Weihnachten oder Ostern besucht sie selten die Messe. Ich mag die Frau; ich kenne sie nur nicht sehr gut. Ich habe keine Ahnung, was mit ihrem Glauben geschehen ist. Ich nehme an, sie ist eine von denen, die nach und nach abgefallen sind. Wie so viele.«

»Wie ich. Ich bin auch abgefallen, Matt«, verrät ihm Manning mit einer Offenheit, die einer Beichte angemessen wäre.

»Ich habe es mich schon gefragt. Berufliche Neugier. Aber ich hätte nie gefragt.«

»Das weiß ich. Und ich habe vermutet, dass Sie sich die Frage stellen. Ich wollte, dass Sie es wissen.«

»Warum?«, fragt der Priester näherrückend. Sein Knie berührt das von Manning.

»Damit Sie es wissen«, sagt Manning leise. »Damit Sie ein klares Bild von der Person bekommen, mit der Sie es zu tun haben. Ich erwarte nicht, dass Sie meine Ansichten billigen. Ich möchte es nicht einmal – das würde einen Glauben implizieren, den ich schon lange aufgegeben habe.«

Der Priester rückt noch näher und sein Bein presst sich an das von Manning. »Was ist es, Mark, woran Sie nicht glauben – der Papst, die Unbefleckte Empfängnis, Himmel, Hölle, Christus, die Dreifaltigkeit, Gott?«

Father Matthew Carey könnte gerade Gewässer ausloten wollen, die nicht völlig theologisch sind – Manning ist sich nicht sicher. In seinem Kopf schwirren gegensätzliche Gefühle durcheinander. Angezogen und abgestoßen zugleich antwortet er. »Gott.«

»Da komme ich nicht heran«, sagt der Priester mit resignierendem Lächeln. Sein Bein presst sich nicht mehr an Manning, aber da ist noch ein Punkt zwischen ihren Knien, wo sich die Fasern ihrer Hosen berühren wie mikroskopische Elektroden, von denen heiße Energie überspringt. »Bei allem anderen hätte ich vielleicht logische Argumente zu bieten gehabt, oder ich hätte Ihnen listig geraten, die unbedeutenderen Punkte um der größeren Sache willen nicht zu beachten. Aber Sie haben sozusagen bereits den theologischen Grundpfeiler getroffen und ich will Ihre Intelligenz nicht in Zweifel ziehen, indem ich Sie frage, wie Sie zu Ihren Schlussfolgerungen gekommen sind. Wir sind also unterschiedlicher Meinung. Sagen wir einfach, dass das, was ›richtig für mich‹ ist, vielleicht nicht ›richtig für Sie‹ ist.«

»Entschuldigung, das geht nicht. Wenn es um die Frage der Existenz geht – existiert Gott? – kann es nur eine Antwort geben. Ja oder nein. Etwas ist, oder es ist nicht – das lässt sich nicht reduzieren. Wenn Sie sagen, es gibt einen Gott, und ich sage, es gibt keinen, dann hat einer von uns Unrecht; das ist keine Sache die wir so oder so haben können. Gemäß Ihrer eigenen Definition ist der Glaube an Gott eine Sache des Glaubens, der nicht nach Beweisen fragt und der die rationale Überprüfung verurteilt. Ich hasse es, platte Urteile zu fällen, aber Sie haben Unrecht, Matt, und ich habe Recht.«

Sie sitzen in der ersten Reihe vor dem Altar und schauen sich mit festem Blick an. Bis auf das leise Summen eines Ventilators weitab im Belüftungssystem ist die Kirche still. Die Banner wehen träge über ihren Köpfen. Schließlich blinzelt der Priester und verlagert fast unmerklich sein Gewicht von Manning weg. Ihre Knie berühren sich nicht mehr.

»Scheint, als seien wir abgeschweift«, sagt Manning mit einem leisen Kichern, das die Spannung noch weiter aufbricht. »Wir sprachen über Margaret O’Connor. Ich besuchte sie am Montag auf ihrem Anwesen, wie Sie wissen, und danach verbrachte ich eine Weile mit Arthur Mendel, dem Haushälter. Er erwähnte, Margaret habe einmal einen Aufruhr mit ihren ›losen Sitten‹ verursacht. Ich kann mir nicht vorstellen, was er damit meinte. Sie vielleicht?«

Der Priester steht auf und formt, die Hände aneinander – pressend, einen kleinen Kirchturm. Mit den Fingerspitzen berührt er die Lippen, tritt ein paar Schritte von Manning zurück und wendet sich ihm wieder zu. »Ich möchte Ihnen helfen, der Sache auf den Grund zu kommen«, sagt er, »aber das ist keine Sache, die zum Abdruck geeignet ist. Ich würde es vorziehen, nicht zitiert zu werden.«

»In Ordnung.« Manning schraubt seinen Füller zu. »Nur als Hintergrundinformation. Was ist passiert?«

»Margaret O’Connor hatte eine flüchtige Affäre mit Ridgely Carter, dem Mann ihrer Schwester, direkt auf dem Anwesen.«

»Gottverdammich!«, ruft Manning und wünscht sich sofort, er könne den Kraftausdruck wieder zurücknehmen. »Direkt vor Helenas Nase?«

»Nein. Da Helena oft zu Katzenausstellungen fuhr, hatten Margaret und Ridgely genügend Zeit füreinander. Ich habe den Eindruck, die arme Margaret war … nun ja, verzweifelt, und Ridgely hatte so etwas wie Mitleid mit ihr. Irgendwie hat Helena davon Wind bekommen, nachdem Ridgely tot war. Verständlicherweise war sie stocksauer.«

Von der Offenheit des Priesters erstaunt, fragt Manning: »Was hat sie getan?«

Father Carey nimmt wieder neben Manning Platz. »Sie hat Margaret bedroht – hat davon geredet, sie aus dem Haus zu werfen, sie aus dem Testament zu streichen. Helena hat mir alles erzählt und ich beriet sie ausführlich und drängte sie, ihren gerechtfertigten Zorn nicht in Rachsucht umschlagen zu lassen. Später, nachdem sie verschwunden war und ihr Testament geöffnet wurde, erfuhr ich zu meiner Genugtuung, dass für Margaret großzügig durch eine eigene Stiftung gesorgt war. So gut, wie ich Helena kannte, hätte ich wissen müssen, dass ihr gutmütiges Naturell zuverlässig unverändert bleiben würde.«

»Andererseits«, sagt Manning, »steckt Margaret voller Überraschungen. Als ich am Montag mit ihr sprach, sagte sie etwas, das mich wirklich umhaute. Sie erwähnte, dass, als sie und Helena noch sehr jung waren, Zwillinge zusammen mit ihnen zu Hause aufwuchsen. Es war das erste Mal, dass ich von ihnen hörte.«

Den Kopf in ungläubiger Belustigung schüttelnd, sagt Father Carey: »Margaret ist ein süßes Ding. Das Verschwinden ihrer Schwester bedeutete eine große Belastung für sie und – ich hasse es, das zu sagen – manchmal frage ich mich, ob sie ganz bei klarem Verstand ist. Helena und ich führten viele lange Gespräche über ihre Kindheit und sie hat nie etwas von Brüdern gesagt. Sie hätte bestimmt einmal etwas davon erwähnt.«

Sie muss es erwähnt haben, sagt sich Manning. Er hat dem Priester von ›Zwillingen‹ erzählt, und dennoch hat der Priester von ›Brüdern‹ gesprochen. Manning schraubt die Kappe seines Füllhalters ab und kritzelt in sein Buch: Father Matthew Carey lügt.

* * *

Etwas später an diesem Morgen krächzt und zappelt ein Vogel auf dem Kreuz einer ganz anderen Kirche, einer traditionellen kleinen gotischen Kirche, die trotzig unter einer weißen Wüstensonne steht. Nichts regt sich unten in der stoppeligen, baumlosen Landschaft. Das Dorf, das sich selbst in Assumption umbenannt hat, hat sich vor der Hitze zurückgezogen.

Ein paar eigenwillige Synapsen in seinem kieselsteingroßen Hirn bringen den Vogel dazu, vom Kreuz zu hüpfen, um die Turmspitze herum nach unten zu kreiseln und über die Dächer einiger nahegelegener Häuser zu schweben. Alle Häuser in Assumption befinden sich in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Die meisten sind aus Holz, manche aus Gips oder Lehmziegeln, aber nur eines – das Pfarrhaus, das Heim des Priesters – ist aus Stein erbaut. Der Vogel landet auf einer verwitterten steinernen Figur, einer Ananas, die das Backsteingeländer zu einer Seite des Aufgangs zum Pfarrhaus ziert. Das andere Geländer ist seit Jahren ohne Schmuck, seine Ananas wurde von Vandalen oder der Hitze oder einfach von dem Lauf der Zeit dahingerafft – es ist länger her, als irgendeiner der derzeitigen Dorfbewohner sich erinnern kann.

Drinnen sitzt Father McMullen an einem wackligen Esstisch, der mit Papieren übersät ist, die nicht mehr in sein vollgestopftes Büro passen. Er unterzeichnet ein Dokument, steckt es in einen Umschlag und versucht dann, zu entscheiden, welchen Papierstapel er danach in Angriff nehmen soll, wobei er den dicksten, die unbezahlten Rechnungen, unangetastet lässt.

Es ist spät am Morgen – fast Essenszeit, stellt er fest – und im Haus ist es still. In der Küche am Ende des Flurs rumort seine Haushälterin. Er fragt sich, was Mrs. Weaver wohl fürs Mittagessen im Sinn hat und hofft, es möge nicht Thunfischsalat sein. Er hat diese so zu tiefst katholischen Sandwiches nie gemocht – nicht mehr seit seiner Kindheit, als er sie jeden Freitag in der Schule essen musste. Obgleich er die fleischlosen Freitage einhält wie jeder in Assumption, neigt Mrs. Weaver dazu, ihn an jedem Tag der Woche mit Thunfischsalat zu päppeln, den sie als ›gesund fürs Herz‹ bezeichnet, jedenfalls so wie sie ihn zubereitet, ohne Mayonnaise, was alles nur noch schlimmer macht.

Die Stille wird durch das Telefon in der Küche unterbrochen, das einmal klingelt. Kurz darauf erscheint in der Tür Mrs. Weaver, die sich die Hände an der Schürze abwischt. »Telefon, Father.« Sie dreht sich um, um wieder in die Küche zu gehen, dann bleibt sie stehen. »Das Mittagessen ist fertig, wann immer Sie es sind.«

Langsam erhebt er sich aus seinem Stuhl – nicht, dass es ihm schwerfällt, aber manchmal schwindelt ihm, wenn er zu schnell aufsteht – und folgt ihr durch den Flur. Mrs. Weaver fährt damit fort, etwas in der Küchenspüle zu waschen. Es ist Sellerie. Der Thunfischsalat ist demnach, leider, unabwendbar.

Das alte Wandtelefon aus Bakelit ist in der Nähe der Tür aufgehängt. Daneben hängen, an das Holz gepinnt, die drei letzten Blätter eines Kirchenkalenders. Kleine Papierschnipsel, Überbleibsel der letzten neun Monate, sprießen aus der Drahtspirale. Der Priester nimmt den Hörer auf. »Guten Morgen. Hier ist Jim McMullen.«

Lächelnd hört er dem Anrufer zu, es fällt ihm jedoch schwer, ihn über das in der Spüle gurgelnde Wasser hinweg zu verstehen. »Ja, Mr. Manning? Von wo aus rufen Sie an?«

»Ich bin Reporter beim Chicago Journal«, sagt die Stimme am Telefon, »und arbeite an einer Story über Helena Carter, der Erbin, die vor etwa sieben Jahren verschwunden ist. Sie haben vielleicht davon gehört.«

Das Lächeln des Priesters erstirbt. »Der Vorfall ist mir erinnerlich, ja. Ich hatte in der Tat kurz nach ihrem Verschwinden einen Briefwechsel mit dem Priester ihrer Heimatgemeinde.«

»Ich habe mit Father Carey heute Morgen gesprochen«, sagt Manning. »Er hat mir davon erzählt.«

»Dann muss er Ihnen auch erzählt haben, dass ich nichts über ihr Schicksal weiß.«

»Das hat er«, bestätigt Manning, »aber das ist schon geraume Zeit her, und ich fragte mich unwillkürlich, ob es in der Zwischenzeit nicht einige Entwicklungen gegeben haben mag.«

Father McMullen wendet sich von seiner Haushälterin ab und klemmt den Hörer an die Schulter. Mit wachsendem Ärger in der Stimme fragt er Manning: »Weshalb sollte ich irgendwelches Wissen über den Aufenthalt der Frau verheimlichen? Die Verfügungen ihres Testaments sind wohl bekannt. Ihr Vermögen geht an die Amtskirche. Welchen Grund sollte ich haben, Sie zu täuschen?«

Mrs. Weaver dreht das Wasser ab und macht sich daran, den Sellerie zu schneiden. Ohne sich zu regen, lauscht sie. Das ausgetrocknete Linoleum knarrt, als sie das Gewicht verlagert.

Bei Nachruf Mord

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