Читать книгу Bei Nachruf Mord - Michael Craft - Страница 8
Samstag, 3. Oktober 90 Tage Frist
ОглавлениеMannings nackte Füße treffen auf nackten Zement. Er sitzt auf der Kante seines Betts und blinzelt durch die großflächigen Ostfenster in die Sonne, die über dem Lake Michigan aufgeht, streckt sich, reibt sich die Augen und schaut sich im Zimmer um. »Ich muss was machen mit dieser Wohnung«, sagt er laut, wenngleich heiser, zu sich selbst.
Der geräumige, neue Eigentumsloft rühmt sich einer beneidenswerten Lage. Aber er ist immer noch unfertig und größtenteils unmöbliert, da die Anzahlung vor nicht einem Jahr Mannings Finanzen bis an die Grenzen erschöpft hat. Aus einem vor Sorgen um seinen plötzlich unsicher gewordenen Job unruhigen Schlaf erwacht, fragt er sich, wie lange er wohl das Geld für die Raten aufbringen kann – von Einrichtung gar nicht zu reden.
Mit ersten, unsicheren Schritten tappt Manning zur Rückwand des Loft, wo eine spartanische Reihe von Schränkchen als Küche dient, und setzt die Kaffeemaschine in Gang, die er am Abend zuvor mit Tafelwasser und frisch gemahlenen Bohnen vorbereitet hat. Während er dem Gurgeln der Maschine lauscht und darauf wartet, dass der erste Tropfen in die gläserne Kanne fällt, erinnert er sich an die alte Weisheit, dass Töpfe, die man beobachtet, nie kochen, und beschließt, dass es ein guter Morgen für einen Lauf am Seeufer ist.
Er holt sich seine hellgelben Nylonshorts, ein ausgebleichtes Sweatshirt und Socken, die um seine Knöchel schlackern. Als er sich seine Laufschuhe anzieht, mustert er sie einen Moment lang angewidert, dann schnürt er einen davon noch einmal – einfach so. Er nimmt seine Schlüssel und macht sich mit einem Blick zurück zur Kaffeekanne, die sich zu füllen beginnt, zur Tür auf.
Er schließt die Tür, fährt mit dem Lift nach unten und wendet sich der Seitenstraße zu, die zum Lake Shore Drive führt. Es ist Samstag, noch früh, und der Verkehr ist schwach. Die kühle Luft riecht leicht nach Fisch – die Algen vom Frühjahr sind längst fortgeschwemmt worden. Es geht kein Wind und der See liegt glatt vor ihm. Über das Wasser gleiten Möwen, deren gelegentliche Schreie die Stille durchdringen. Die einzigen Menschen in Sicht sind ein paar andere Läufer, die am Strand auf und ab traben. Einige tragen Kopfhörer, aber die meisten geben sich an diesem erwachenden Morgen mit der ureigenen Musik der Natur zufrieden.
Es soll ein leichter Lauf werden, beschließt Manning – nichts Ernsthaftes heute – daher schenkt er sich das übliche Aufwärmen und läuft in lässigem Tempo in nördlicher Richtung los.
Der tiefblaue Himmel erinnert ihn an Herbstnachmittage vor mehr als zwanzig Jahren in der Highschool, wo er Mitglied einer mittelmäßigen Laufmannschaft war. Von allen Schülern der kleinen Schule wurde erwartet, dass sie mindestens eine Sportart pro Jahr ausübten, und bei Manning war die naheliegende Wahl auf Querfeldeinlaufen gefallen, da dies mehr persönliche Leistung als Mannschaftsgeist erforderte. Er hatte seine ursprüngliche Abneigung gegen das Laufen – die unvermeidlichen Beschwerden und Schmerzen am Anfang – überwunden und irgendwann gelernt, es zu genießen, stolz auf seine langsamen aber stetigen Fortschritte zu sein und sich neue Ziele zu setzen. Nachdem auf der Highschool die Grundlagen gelegt waren, hatte ihn die Disziplin ins College und freiwillig darüber hinaus begleitet. Nun, da die mittleren Jahre auf ihn zukommen, zieht Manning eine größere Befriedigung aus dem Laufen denn je. Es beweist ihm, dass er nicht zu viel trinkt und nicht zu viel raucht – obwohl er natürlich weiß, dass er es tut. Und was am wichtigsten ist, es beweist ihm, dass er noch in der Lage ist, zu laufen.
Sobald er seinen Rhythmus gefunden hat, beschleunigt er das Tempo und passt seinen Atemtakt an. Als er sich mit einem Mal bewusst wird, dass er seine Schlüssel umklammert, lockert er den Griff und versucht, alle Muskeln bis auf die in den Beinen zu entspannen. Als er schneller wird, fühlen sich die Schweißtropfen auf seiner Stirn im Luftstrom eisig an. Sie formen seine Haare zu feuchten, klebrigen Strähnen, die im Einklang mit dem Stampfen seiner Füße auf – und niederhüpfen.
Manning spürt das Einsetzen seiner Kraftreserven, den frischen Schub von Energie, den alle Läufer kennen. Seine Schuhe scheinen nur um Haaresbreite voneinander entfernt über das Pflaster zu gleiten. Die Kehle fängt an, zu brennen. Jeder Muskel, jede Sehne arbeitet, zieht und entspannt sich und zieht erneut wie eine Maschine im höchsten Gang, die unter einer Hülle straffer, elastischer Haut ihre Arbeit verrichtet. Die schwindelnde Euphorie durch das übermäßige Atmen erinnert Manning daran, dass er am Laufen, an der wirren Mischung aus Lust und Schmerz schon immer etwas unbestimmt Erotisches gefunden hat.
Hat das in der Highschool angefangen, mit den Bildern und Gerüchen des Umkleideraums, oder hatte eine unausgesprochene Faszination schon lange zuvor, während jener im Nebel liegenden Jugendjahre vor der Pubertät in ihm Wurzeln geschlagen? Ist es möglich, die Lust zu erklären, die vom Anblick der Fußknöchel eines Mannes herrührt, vom Geräusch weißer Schnürsenkel, die an seine Schuhe schlagen?
Können solche alten Vorlieben (Vorlieben, über die er nie bewusst nachgedacht hat, da sie gewiss zu lächerlich, peinlich gar, gewesen wären, hätte er sich je gestattet, solche Fragen aufsteigen zu lassen, gestattet, dass sie die dehnbare, aber deutliche Form bewusst gedachter Worte annehmen) die Gleichgültigkeit erklären, die seine sporadischen Intimitäten mit Frauen gekennzeichnet hat?
Seine sexuelle Geschichte, die Geschichte, an die er sich in Gestalt tatsächlicher Erlebnisse erinnern kann, begann erst auf dem College – in seinem zweiten Jahr – als er wusste, dass er, sich und anderen (vor allem seiner Mutter), nicht mehr vormachen konnte, er sei »zu beschäftigt«. Der Druck, seine Unschuld zu verlieren, wurde übermächtig, also verlor er sie. Auftrag ausgeführt.
Sie war schön und liebevoll, um einiges erfahrener als er. Er machte seine Sache ganz gut – er erlitt kein Trauma – und die körperliche Befriedigung war zugegebenermaßen lustvoll. Aber das war nicht der Stoff, aus dem die Träume sind, nicht das alleinseligmachende Erlebnis, das er, wie ihm suggeriert worden war, zu erwarten hatte. Und es würde es nie sein. Die nachfolgenden Paarungen waren ebenso mittelprächtig gewesen, selbst mit Roxanne, die eindeutig die versauteste und energischste seiner Partnerinnen gewesen war.
Daher hatte er sich nie auf vieles eingelassen. Er hatte sich damit zufrieden gegeben, mit seinem Beruf verheiratet zu sein, ein Engagement, das ihm viele Preise eingebracht hatte. Früher, auf dem College, hatte er es vorgezogen, sich auf sein Studium zu konzentrieren, und auch das hatte seine Gratifikationen gehabt. Uns so hatte er es auch seiner Mutter erklärt.
Dann war sie gestorben, bevor er seinen Abschluss hatte. Er trauerte, natürlich. Sie war noch viel zu jung gewesen – Lungenkrebs. Aber er empfand Erleichterung (und dies ohne Schuldgefühle), dass er ihr gegenüber bezüglich seiner Lebensführung keine Ausreden mehr erfinden musste. Bei ihrem Begräbnis war Manning auch erleichtert, intime Fragen nie mit seinem Vater erörtert haben zu müssen, der gestorben war, als Manning drei Jahre alt gewesen war.
Ein Onkel, der Bruder seiner Mutter aus Wisconsin, ein wohlhabender Drucker, war beim Begräbnis seiner Mutter anwesend. Manning hatte ihn seit – wie lange? – mindestens zehn Jahren nicht gesehen. Der Onkel hatte ihn, als er noch ein Junge war, auf die Lippen geküsst, und jetzt bei der Beerdigung wieder. Am Grab seiner Mutter stehend, fragte Manning sich, ob der Mann etwa schwul war.
Die Sonne ist höhergestiegen. Der Verkehr auf dem Outer Drive ist jetzt stärker und der Pfad am See füllt sich mit Fahrrädern, Hundehaltern und vielen anderen Läufern.
Weit vorne in der Menge entdeckt Manning ein Paar, das auf ihn zukommt. Der Mann ist ein paar Jahre jünger als Manning; seine Freundin noch jünger. Selbst aus der Entfernung strahlen sie eine Vitalität und etwas Spielerisches aus, das sie von den anderen Läufern unterscheidet. Der Junge hat strubbelige, blonde Haare und Zähne, die weiß aufblitzen, als er über etwas lacht. Er ist überall gut muskulös, wie auch das Mädchen; beider Laufkleidung ist knapp und schmeichelt ihnen.
Hübsches Paar, sagt Manning bei sich selbst. Ich wette, sie trainieren zusammen.
»Morgen!«, sagt das Mädchen, als das Paar näherkommt.
Manning erwidert den Gruß, als sie vorbeihuschen. Als Manning noch einmal über seine Schulter schaut, stellt er voller Unbehagen fest, dass seine Blicke vor allem dem Jungen gegolten haben.