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Freitag, 2. Oktober
ОглавлениеManning schaut auf die römischen Ziffern seiner Uhr. Es ist fast Mittag. Vierundzwanzig Stunden sind vergangen seit Gordon Smith ihm das Ultimatum ihres Verlegers überbracht hat. Manning hat keine Zeit verloren und ein Treffen zum Mittagessen mit Roxanne Exner vereinbart, einer Anwältin – eine von vielen –, die mit dem Carter – Vermögen befasst ist. Er braucht ihre Hilfe.
Die Michigan Avenue ist bereits mit Büroangestellten überschwemmt, die sich hinausgeschlichen haben, um das schöne Wetter zu genießen. Manning zwängt sich durch die Massen auf dem schicken Boulevard und biegt dann in die schattige Seitenstraße ab, die zu seinem armenischen Lieblingsrestaurant führt, wobei er wegen des eisigen Ostwinds, der vom See hereinweht, seine Schritte beschleunigt.
Er duckt sich unter die zeltartige Markise und tritt ein; seine Nase atmet die warmen Düfte nach Knoblauch, Weinblättern und Sesam. Er bleibt kurz stehen, damit sich seine Augen an den fast völlig abgedunkelten, voll besetzten Speiseraum gewöhnen, und entdeckt Roxanne, die ihm aus einer der tiefen Nischen zuwinkt.
»Ich staune, dass du schon hier bist«, sagt er, als er sich neben ihr niederlässt.
Sie beugt sich zu ihm hin und bietet ihre Wange zu einem Kuss dar, den Manning verabfolgt. »Ich esse normalerweise nicht so früh, wenn überhaupt«, entgegnet sie. »Aber dein Anruf klang ziemlich verzweifelt und – wie du weißt – schätze ich deine Gesellschaft. Ich musste ein paar Sitzungen verschieben, es scheint also, dass du mir was schuldest.« Sie bedenkt ihn mit einem anzüglichen Lächeln und hebt ihren Scotch mit Soda zu einem flüchtigen Gruß.
Jetzt bemerkt Manning, dass sein üblicher Wodka on the Rocks bereits vor ihm steht. Sie stoßen an und trinken. »Für eine freche Mieze bist du enorm verführerisch«, meint er.
Das gibt ihr zu denken. Gegen ›Mieze‹ sträubt sie sich instinktiv, aber ›frech‹ gefällt ihr, und ›verführerisch‹ klingt noch besser. Alles in allem nimmt sie es als Kompliment.
Während sie noch seine Bemerkung analysiert, mustert Manning Roxanne. Einmal haben sie miteinander geschlafen – oder war es zweimal? Sie ist ein paar Jahre jünger als Manning, etwa fünfunddreißig, Single, modebewusst und unbestreitbar attraktiv. Sie ist eine Aufsteigerin, eine talentierte Anwältin, die kürzlich zur Teilhaberin einer der angesehensten Kanzleien der Stadt ernannt wurde. Gelegentlich gibt sie Manning für seine Artikel Tipps oder juristische Ratschläge. Sie ist eine Freundin.
Roxanne breitet unter dem Lichtkegel einer Laterne im marokkanischen Stil über ihnen ein Exemplar der Post vom Morgen auf dem Tisch aus. Mit dem Zeigefinger tippt sie auf einen Artikel. »Hast du den neusten Mist schon gesehen?«, fragt sie Manning. »Ich hab in Schülerzeitungen schon bessere Berichte gelesen.«
»War voraus zu sehen.«
»Hör dir nur diese Schlagzeile an: CHRONISCHE UNTÄTIGKEIT DER POLIZEI IM FALL CARTER. Und dann kursiv: Wird die Öffentlichkeit je die ganze Geschichte erfahren? Verfasser natürlich: Humphrey Hasting. Einleitender Absatz: ›Der stellvertretende Polizeichef von Chicago Earl Murphy gestand in einem Exklusivinterview mit der Post, der Mangel an belastenden Beweisen habe die Bemühungen der Polizei, den Mörder der verschwundenen Luftlinienerbin Helena Carter zu finden, behindert. Auf die Frage, welche Richtung neuerliche Bemühungen in diesem Fall nehmen könnten, äußerte Murphy, die Mordkommission konsultiere derzeit eine Reihe von Medien und Hellsehern, die nach Chicago eingeflogen wurden, um Unterstützung beim Auffinden der Leiche zu leisten. Die längst überfällige Maßnahme soll zweifellos eine frustrierte Bürgerschaft besänftigen, die der schleppenden Ermittlungstätigkeit, die diesen Fall kennzeichnet, zunehmend überdrüssig ist …‹«
Angewidert stößt Roxanne das Blatt von sich und lässt es zu Boden flattern. »Mark, dieser Fettarsch klopft doch nur auf den Busch, um eine Schlagzeile rauszuschinden.«
»Du trittst offene Türen ein, Roxanne – ich weiß, dass er ein mieser Zeilenschinder ist. Aber er hat’s drauf, die Leute aufzuhetzen, und das macht ihn gefährlich.«
»Und mächtig. Mein Gott, jetzt scheucht er die Chicagoer Polizei herum. Wieso interessiert sich eigentlich die für den Fall? Carter ist doch in Bluff Shores verschwunden.«
»Die Erzdiözese von Chicago soll fast hundert Millionen Dollar erben, wie du dich vielleicht erinnerst, also kannst du drauf wetten, dass Erzbischof Benedict ein paar hohe Tiere angerufen hat. Außerdem verfügt die örtliche Polizei dort nicht über die Mittel, verlässliche Ermittlungen durchzuführen. Irgendwann wurde auch das FBI eingeschaltet, aber die waren schnell wieder raus, da niemand beweisen konnte, dass Geld – oder eine Leiche – die Staatsgrenzen überschritten hat. Die Frage der Zuständigkeit hat den Fall noch verkompliziert, aber das eigentliche Problem ist der Mangel an Beweisen.«
»Der Mangel an Beweisen ist ja auch dein Handicap, Mark. Wenn dir jeder Ansatz fehlt, wie glaubst du dann, dass du das alte Mädel rechtzeitig finden kannst, um deinen Job zu retten?«
»Ich bin mir überhaupt nicht sicher, dass ich’s kann, aber mir bleibt keine große Wahl – ich muss es versuchen. Willst du mir dabei helfen?«
Sie greift über die Speisekarten hinweg, um seine Hand zu tätscheln. »Natürlich«, versichert sie ihm in gespielt tröstendem Ton. Dann, sachlich, »ich bin ehrlich der Meinung, dass du den falschen Baum anbellst, aber wenn du entschlossen bist, einen Märtyrer aus dir zu machen …«
»Schau mal, Roxanne.« Er ist verärgert. »Ich habe nicht vor, mich zu opfern – weder für die journalistische Integrität noch für das ›Recht der Öffentlichkeit auf Information‹;. In dem Schlamassel stecke ich, weil die Alternative untragbar ist. Ich wüsste deine Hilfe zu schätzen.«
Sie nickt, jetzt völlig geschäftsmäßig. »Ich verstehe, Mark. Ich habe meine Akten mitgebracht und für dich habe ich auch ein paar. Was hast du vorzuweisen?«
Er breitet mehrere Aktenmappen auf dem Tisch aus. »Die sind aus dem Archiv des Journal. Sie enthalten Ausschnitte von allem, was wir über Helena Carter gebracht, und jedes einzelne Foto, das wir von ihr geschossen haben. Alles ist auf der Rückseite datiert. Ich bin erstaunt, wie viel es ist – nicht nur meine eigenen Artikel aus den letzten sieben Jahren, sondern auch noch ein Haufen Material von vor ihrem Verschwinden.« Er bricht ab, als er in einer der Mappen etwas entdeckt.
»Was hast du da?«, fragt Roxanne und streckt die Nase über den Tisch.
Manning zieht ein Foto aus einer der älteren Mappen und zeigt es ihr. Es war auf einem offiziellen Bankett im Ballsaal des Drake aufgenommen worden, Jahre bevor Helena verschwand und als ihr Ehemann Ridgely Carter noch lebte. Sie blicken starr von ihrem Tisch auf und zwischen ihnen steht steif ein Mann mit gezwungenem Lächeln, der je eine Hand quer über die Schultern beider Carters gelegt hat.
Roxanne schaut Manning mit einem leeren Ausdruck an, der besagt, Na und?
Er klärt sie auf. »Dieser vornehme, hölzerne Herr, der da im Hintergrund posiert, ist kein Geringerer als Nathan Cain.«
»Gott«, sagt Roxanne und greift nach dem Foto, um es eingehender zu studieren. »Der Mann, der dir heute das Ultimatum gestellt hat, kannte also die Carters.«
»Ich bin sicher, das ist nur ein Zufall – Cain kennt jeden in den gesellschaftlichen Kreisen von Chicago – aber trotzdem, die Verbindung trägt dazu bei, sein Interesse an der Geschichte zu erklären. Was mich allerdings geplättet hat, ist, wieso sein Interesse so plötzlich und so heftig kommt. Seit dem Verschwinden der Frau sind sieben Jahre vergangen, ich habe ganze Bände über den Fall geschrieben, und Cain hat nicht mal buh gesagt... bis heute.«
»Er steckt bis über die Halskrause mit drin, Mark«, sagt Roxanne mit von gespieltem Argwohn getränkter Stimme. »Du hast drei Monate, um an den Dreck ranzukommen. Also fang an, zu graben.« Lachend reicht sie ihm das Foto. »Es überrascht mich, dass es eine so dicke Akte über die mysteriöse Person gibt.«
»Offenbar war sie so etwas wie eine Gesellschaftsgröße«, erklärt Manning, »aber sie genoss auch einen gewissen Ruhm als erstklassige Züchterin in Katzenhalterkreisen.«
»Echt? Welche Art von Katzen?«
»Irgendeine seltene Rasse«, antwortet Manning, während er einen Stapel Fotos durchblättert. »Da haben wir’s. Abessinierkatzen. Schau dir die an – wirklich ein herrliches Tier, fast wie ein kleiner Puma.«
»Aber ja«, stimmt Roxanne zu. »Elegant.«
»Ich fahre nächste Woche rauf nach Bluff Shores, um Carters Schwester, Margaret O’Connor zu interviewen. Seit dem Verschwinden habe ich nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie wohnt auf dem Anwesen und kümmert sich um die Katzen. Vielleicht finde ich da einen Anhaltspunkt.«
»Gibt es auch Farbaufnahmen von den Katzen?«
»Ich glaube, ich habe eine gesehen – muss aus der Sonntagsbeilage gewesen sein. Da ist sie.« Manning zeigt Roxanne ein Bild der Erbin, das sie mit einer rötlich gefärbten Katze neben einem riesigen Pokal zeigt, der das Tier zum überragenden Sieger erklärt. Helena Carter hat ein strahlendes Siegeslächeln aufgesetzt; die Katze glotzt gelangweilt direkt in die Kamera. »Wie find ich denn das? Ihre Haarfarbe passt zu der von der Katze. Sie muss sie in diesem bescheuerten Rot gefärbt haben.«
Roxanne betrachtet das Foto. Sie schüttelt den Kopf. »Das ist keine rote Farbe, Mark. Das ist eine natürliche Tönung, die von einer Pflanze oder einem Kraut oder sowas stammt. Das gibt’s schon seit Jahrhunderten. Es heißt Henna.«
»Sei’s drum. Und wenn ich schon mal droben im Anwesen bin, will ich auch mit Arthur Mendel, dem Haushälter, sprechen.«
»Wozu? Wenn du so davon überzeugt bist, dass Carter lebt, wieso verschwendest du dann deine Zeit mit ›Mordverdächtigen‹?«
»Selbst wenn es keinen bekannten Hinweis auf Mord gibt«, erklärt Manning, »muss ich, wenn ich beweisen will, dass die Frau noch lebt, zuerst mich selbst davon überzeugen, dass jeder mögliche Verdächtige nichts mit ihrem Verschwinden zu tun hat. Das ist eine Heidenarbeit. Ehrlich gesagt, hätte ich das schon vor langer Zeit machen müssen.«
»Aber bis heute morgen fehlte dir dazu die nötige Motivation, stimmt’s?«
»Stimmt.« Er lacht. »Kriegst du langsam Hunger?«,
Roxanne bestellt einen weiteren Drink und entscheidet sich für Vorspeisen – Hummus und Lamm mit geschroteter Hirse. Manning nimmt einen Lamm–mit–Couscous–Teller. Während des Essens bringt Roxanne Manning auf den neuesten Stand in Sachen Carter–Vermögen und sie vereinbaren, sich noch einmal in ihrem Büro zu treffen.
»Wo du deinen Terminkalender schon draußen hast«, sagt Roxanne, »bist du nächsten Freitag, heute Abend in einer Woche, frei?«
»Völlig«, sagt Manning, der in seinem Kalender blättert, in dem er jedes Datum mit der Zahl der Tage markiert hat, die bis Neujahr verbleiben – eine Erinnerung daran, dass die Uhr bis zum Ablauf des Ultimatums nun stetig tickt. »Mein Gesellschaftsleben war in letzter Zeit nicht gerade wild bewegt.«
»Dann trag mich doch ein. Ich habe einen Hausgast von außerhalb zu Besuch, einen Künstlerfreund vom College, und will eine Riesen–Cocktailparty schmeißen, um ihn meiner Meute vorzustellen.«
»Ihn?«
»Ja, Mark. Er ist ein Freund. Die Party steigt bei mir zu Hause – jederzeit nach acht.«
»Ich werde da sein«, versichert Manning ihr und trägt das Datum ein, nicht mit Blei, sondern mit Tinte. Er hält einen Moment inne und fragt: »Und du bist dir sicher, dass der Junge nicht mehr ist als ein ›Freund‹? «
»Wenn’s bloß so wäre!«
Am gleichen Nachmittag wartet gegenüber dem Bürogebäude des Journal auf einem der oberen Stockwerke des Post-Gebäudes Humphrey Hasting auf Josh Williams, den Verleger der Post. Hasting, wie immer extravagant gekleidet, fummelt an seiner Krawatte – einer von vielen, wie er sie stets trägt – eine außergewöhnliche Kuriosität, die seinen Umfang betont. Mit neunundvierzig ist er noch immer unverheiratet; zu seinem unschätzbaren Vorteil hat seine Schwester Ruth Josh Williams geehelicht.
Hasting füllt einen gepolsterten Rundsessel neben dem Schreibtisch der Sekretärin vor dem Büro seines Schwagers aus. Ungeduldig hat er die Beine übereinander geschlagen und zeigt Büschel schwarzer Haare auf weißen Schienbeinen. Die Haltung wird ihm unbequem und er stemmt beide Füße auf den Teppich, lehnt sich in dem Sessel zurück und blickt, die Hände auf je ein Knie gestützt, starr geradeaus. Die zehn Finger trommeln in unregelmäßiger Folge auf die eng von burgunderrotem Polyester umspannten Beine – Beine, die die Sekretärin an vier Würste erinnern, von denen zwei über die Sesselkante ragen und zwei weitere auf den Boden hängen.
Die Frau ist damit beschäftigt, etwas abzutippen, das aus einem irgendwo unter den Haaren steckenden Kopfhörer dringt. Das Tippen ihrer Finger auf der Tastatur bricht kurz ab, als sie hastig an ihrer Zigarette zieht, die sie in einem Aschenbecher neben ihr abgelegt hat.
»Würden Sie das verfluchte Ding ausmachen?«, blafft Hasting, während er mehrere lange, graue Tierhaare von seiner Hose zupft. »Wenn Ihnen Ihre eigene Lunge schon egal ist, dann sollten Sie wenigstens ein Quentchen Rücksicht für meine aufbringen.« Streng starrt er die Frau an und denkt Quentchen. Gutes Wort. Hab ich schon ‘ne ganze Weile nicht mehr verwendet.
»Entschuldigung, Mr. Hasting«, sagt sie und drückt die Zigarette aus.
»Schon besser«, schnaubt er und wedelt mit beiden Händen, um den Rauch aus seiner Atemzone zu vertreiben.
Vom Telefon der Sekretärin ertönt ein elektronisches Trillern. Sie nimmt ab. »Mr. Williams empfängt Sie jetzt. Bitte treten Sie ein«, sagt sie zu Hasting.
Er nickt ihr kurz zu, wie um zu sagen, ›Wird auch Zeit‹.
Hasting trägt eine Lesebrille mit halbrund gerahmten Halbgläsern. Auf der Spitze der wuchtigen Nase wirkt sie absurd klein. Beim Aufstehen nimmt er sie mit großartiger Geste ab. Der Sessel gibt ein erleichtertes Ächzen von sich, als er durch das Zimmer auf Josh Williams’ Büro zugeht. Hasting reißt die Tür auf und bleibt, einen Fuß vor den anderen gesetzt, auf der Schwelle stehen, um seine Brille wie ein Lorgnon zu schwenken. »Guten Morgen, Josh«, sagt er dröhnend, als seien sie alte Kumpels, die sich zu einer Partie Golf treffen.
»Morgen, Hump«, sagt Williams mit einem verräterischen Kichern, während er dem Mann zuwinkt, einzutreten.
Innerlich schäumt Humphrey bei der Nennung seines verhassten Spitznamens, während er übertrieben höflich lächelnd die Tür schließt. Er stolziert zum Schreibtisch und lässt sich vor Willams nieder. Seine Hose quietscht über dem Lederbezug des Stuhls, als er sich darauf breitmacht.
Williams ist gerade damit beschäftigt, sich seine Pfeife anzuzünden, die er aus einer in Ständern auf einer Kommode hinter sich aufgereihten Kollektion ausgewählt hat. »Na, weshalb musst du mich so unbedingt sprechen?« Die Pfeife wackelt beim Sprechen zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen. Er reißt ein massiges Streichholz an, hält es über den Pfeifenkopf und zieht herzhaft, wobei sich seine Wangen im Takt mit dem Hervortreten seiner Augen eindellen. Aus dem Pfeifenkopf steigen Funken auf, während im Innern der Tabak knistert.
»Naja, Josh«, antwortet Hasting, der seine Brille wieder aufsetzt, »es geht um diese Carter – Lady.«
»Ach ja?«, sagt der Herausgeber. Er ist jetzt bei seinem zweiten Streichholz, mit dem er nicht mehr Erfolg hat als mit dem ersten. Er bläst es aus und schnippt es in den großen Aschenbecher, der vor Hasting steht. Das Streichholz krümmt sich, immer noch qualmend und nach Schwefel stinkend. »Was ist mit ihr?«, fragt er und zündet ein drittes an.
»Ich denke, wir sollten uns auf eine Politik bezüglich der Position unserer Zeitung zum Fall Helena Carter festlegen.«
»Was meinst du mit ›Position‹?« Die Pfeife brennt jetzt – schwach, aber sie brennt.
»Josh, wir müssen einen Standpunkt beziehen«, sagt Hasting, der jedes Wort mit entschiedenem Tippen auf sein Knie unterstreicht.
»Hump, man bezieht keinen Standpunkt im Fall einer verschwundenen Person. Man berichtet schlicht die Fakten.«
»Aber in letzter Zeit hat es keine Fakten gegeben.«
»Und, was sollen wir machen – welche erfinden?«
»Josh.« Er hält inne, um sich darauf vorzubereiten, etwas ganz Einfaches zu erklären. »Wenn wir uns ein Quentchen journalistischer Freiheit gestatten, könnten wir den Ausgang des Falles sehr wohl beeinflussen.« Er stößt mit dem Kopf vor, als wolle er sagen, ›Ist dir das nicht klar?‹
Josh Williams setzt sich in seinen Stuhl zurück, fingert nachdenklich an seiner Pfeife und atmet aus. Eine Wolke aromatischen, blauen Rauchs dringt zwischen seinen Zähnen hervor; aus seinen Nüstern schießen zwei Rauchströme. Williams ist vor kurzem sechzig geworden. Den größten Teil seines Berufslebens hat er bei der Post verbracht und sich nach oben gearbeitet, wie es bei Journalisten üblich war, wie es üblich war, als Chicago noch vier florierende Tageszeitungen hatte. Er hat die Post in den Jahren gekannt, als sie noch den Ruf eines respektablen Morgenblattes genoss – vor der Ära der neuen Besitzer, vor der Zeit, als Auflage und Anzeigengeschäft die einzige Sorge der Geschäftsleitung waren. Jetzt sitzt er, beide Ellbogen auf die Armlehnen seines Sessels gestützt, da und nuckelt noch immer an seiner Pfeife. Er denkt an den Ruhestand – der nur noch fünf Jahre vor ihm liegt. »Okay, Hump«, sagt er ruhig. »Dann tun wir’s. Worauf willst du hinaus?« Seine Pfeife ist ausgegangen.
»Sei nicht so griesgrämig«, sagt Hasting allzu fröhlich. »Ich will auf gar nichts hinaus. Es ist nur so, dass ich mit Ruth gesprochen habe …«
»Das hab ich mir gedacht«, sagt Williams mit einem lauten Lachen. Er stößt beim Sprechen immer noch Rauch aus, obwohl die Pfeife seit geraumer Zeit erloschen ist.
»Ruth und ich haben uns gedacht«, fährt Hasting demonstrativ hustend fort, »dass die Öffentlichkeit ein paar Antworten verdient hat. Schließlich läuft die Sache jetzt schon – wie lange? – fünf, sechs Jahre?«
»Sieben«, unterbricht Williams. Er kann es sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Liest du das Journal nicht?«
»Sieben, sei’s drum«, kommentiert Hasting die Korrektur. »Egal, die Leute verdienen ein paar Informationen. Es kann nicht sein, dass eine nette, alte Lady ausradiert wird und die Polizei auf den Händen sitzt. Eine solche Greueltat darf in einer freien, aufstrebenden Gesellschaft nicht geduldet werden. Mein Gott, es gibt mögliche Verdächtige – der Haushälter, Arthur Mendel, zum Beispiel, war früher für die Stallungen auf dem Carter – Anwesen zuständig, und du weißt ja sicher, in welch zwielichtiger Gesellschaft solche Leute verkehren. Worauf wartet die Polizei also? Wann ergreift sie Maßnahmen? Wann wird das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Gerechtigkeit endlich befriedigt?« Er macht eine rhetorische Pause und fährt dann, nach vorn gebeugt, sachte fort: »Weißt du, wann, Josh? Wenn wir etwas unternehmen.«
»Und was schlägst du vor, sollen wir unternehmen?«, fragt Williams, der mit einem Instrument, das an einen vorn abgeflachten Nagel erinnert, in seiner Pfeife stochert.
»Wir rühren erst mal das Wasser auf. Wir halten der Öffentlichkeit den Fall ständig vor Augen, gleich auf der Titelseite. Lassen keinen Stein auf dem andern. Sorgen dafür, dass das Publikum nach Blut, nach einer polizeilichen Aktion schreit. Dann – «, er beugt sich vertraulich vor, »vielleicht ein paar gut getimte Leitartikel, in denen gefordert wird, dass ein Verdächtiger vor Gericht kommt. Ich kümmere mich um die Berichterstattung, Josh, und dann können deine Jungs mit den Leitartikeln kommen.«
»Berichterstattung? Welche Berichterstattung, Hump? Der Fall ist in einer Sackgasse gelandet.« Williams’ Pfeife lässt sich nicht wieder in Gang bringen. Er dreht sie um und klopft sie in dem Aschenbecher vor Hasting aus. Ein kleines Häufchen verkohlten Materials fliegt von der Pfeife auf Hastings Oberschenkel.
Hasting, der die Asche mit dem Zeigefinger von der Hose schnippt, stellt fest, dass sie einige Fasern des synthetischen Stoffs zu einem winzigen, harten Klumpen verschmort hat. Als die Asche zu seinen Füßen landet, tritt er sie in den Teppich und betrachtet befriedigt den schmierig schwarzen Streifen, den sein Schuh zieht.
»›Berichterstattung‹ ist vielleicht nicht das richtige Wort«, sagt er. »Eher etwas wie ein – sagen wir – sachkenntlicher Kommentar. Das Publikum kennt den Unterschied nicht. Versteh mich nicht falsch; ich bin mir sehr wohl bewusst, dass es unsere berufliche Pflicht ist, der Öffentlichkeit zu dienen. Nur ist das eben das geeignetste Mittel, dieser Verpflichtung nachzukommen.«
William sitzt einen Augenblick lang still da und bedenkt, was er gerade gehört hat. Er kennt den Ausgang dieses Gesprächs bereits. »Ich nehme an, du hast das mit Ruth besprochen?«
»Genauer gesagt, haben wir eingehend darüber diskutiert.«
»Hm-hmm. Und was hält sie davon?«
»Naja, Josh, ich muss sagen, dass sie der Dienst–an–der–Öffentlichkeit–Aspekt weniger zu kümmern scheint. Ich glaube, sie hat so was wie ›einen Scheißdreck‹ gesagt – du weißt ja, wie hart sie manchmal sein kann. Aber dann brummelte sie was von Wunder für die Auflage wirken, oder etwas in dem Sinn. Ruth scheint zu glauben, von Äthiopien hätten unsere Leser die Nase voll.«
Er lehnt sich zurück und schaut Williams in die Augen. »Kurz gesagt, Josh, sie sagt, wir machen’s.«