Читать книгу Bei Nachruf Mord - Michael Craft - Страница 9
Sonntag, 4. Oktober 89 Tage Frist
ОглавлениеViele Meilen entfernt, morgens um sechs, ist die Hitze bereits drückend. Weihrauch erfüllt die Luft. Der stechende Duft verbrennender Kräuter und Essenzen weht in Schwaden durch die kleine Kirche und hängt über den Köpfen der Gläubigen als blaugraue Wolke, die sich langsam mit dem spärlich durch den am unteren Ende jedes der gotischen Bögen weit aufgeklappten Scheiben eindringenden Lufthauch ausbreitet.
Manchmal bringt der Oktober Erleichterung, aber nicht heute. Die Morgensonne fällt durch die Ostfenster und lässt die bunt mit Märtyrerblut und Fischerkutten bemalten Scheiben hell aufleuchten. Das gefilterte Licht scheint die Hitze eher zu verstärken, denn zu mildern, so dass sowohl Haut als auch Kleidung an den lackierten Kirchenbänken kleben. Viele in der Gemeinde knien lieber, als in Kontakt mit den Bänken zu kommen. Die Verbindung von Hitze und mitternächtlicher Kommunionsfeier kann bei weniger robusten Naturen beim Sonntagsgottesdienst zur Ohnmacht führen, aber da dies bei der ersten Tagesmesse am wenigsten zu befürchten ist, wird die Kirche voll werden.
Vier Messdiener – grobgesichtige Indianerbrüder, gehüllt in scharlachroten Soutanen mit Spitzenbesatz – sind im Altarraum eifrig damit beschäftigt, das Hochamt vorzubereiten. Sie entzünden sechs Kerzen am Hauptaltar und noch viele weitere am Seitenaltar, der eine bemalte Statue der Heiligen Jungfrau Maria beherbergt. Mit großen Augen deutet ein Kind in der Gemeinde zu den Hitzewellen, die von den Kerzen aufsteigen und die gipserne Heilige auf ihrem Piédestal zum Tanzen bringen.
Von der vollgestopften Empore herab intoniert ein Chor a capella gregorianische Gesänge. Das Klima, in Verbindung mit den, wie es die Mitglieder der kleinen Gemeinde nennen, ›düsteren Jahren der Vernachlässigung‹ hat die Orgel irreparabel zum Schweigen gebracht.
Die Gemeinde ist nun versammelt und alle richten ehrfürchtig den Blick nach vorn. Sie sehen nicht wie Rebellen aus, die von vielen Lebenspfaden kommend, bewusst zusammengefunden haben. Die meisten sind entweder ziemlich alt oder sehr jung. Von den älteren Gemeindemitgliedern wurde dieser Ort zur neuen Heimat auserkoren, weil er etwas Vertrautes verkörpert, etwas, das einst Teil ihres Lebens war, aber verloren ging. Für die Jungen stellt dieser Ort etwas dar, das sie nie kannten; sie sehnen sich nach der ›Reinheit‹ der alten Lebensweise, die sie mit dem Idealismus der Jugend besser vereinbar finden. Argwöhnisch fern der Menge halten sich diejenigen im mittleren Alter, die Menschen, die die Alltagswelt gestalten und bewohnen.
Darunter ist ein Mädchen von etwa zwanzig Jahren mit langem, glattem Haar. Mit einem strahlenden Lächeln, das ihr Gesicht verschönt, setzt sie sich gegen ein kleines Kind zur Wehr, das die Hitze zornig gemacht hat.
Nahe der Rückwand der Kirche kniet ein alter Mann. Er hat eine stolze Haltung, die die Ärmlichkeit seiner abgetragenen aber reinlichen Kleidung Lügen straft. Er nestelt an einem Rosenkranz, dessen Perlen an die glatte Fläche der Bankreihe vor ihm schlagen.
Da ist eine Indianerin mit verwittertem Gesicht, über dem sich eine geflochtene Krone aus rabenschwarzen Haaren erhebt. Mit strengem Blick beaufsichtigt sie drei Kinder, die schweigend dasitzen und die Beine baumeln lassen.
Ein junger Mann kniet fromm neben seiner Frau. Er sieht jungenhaft aus mit seinen Sommersprossen und der Nickelbrille. Eingesunkene Wangen und ein langgezogenes Kinn verstärken seine humorlosen Züge noch. Er betet zu einem rächenden Gott.
Seine Frau hingegen wirkt von seiner Ernsthaftigkeit beinahe belustigt, sie weiß um Geheimnisse, die die anderen Leute hier niemals vermuten würden. Er hat sie hierher gebracht und sie hat sich eine mädchenhafte Fröhlichkeit bewahrt – während jede andere ihn wahrscheinlich verlassen hätte.
In einer Reihe weit vorn am Mittelgang befindet sich eine Frau, die weder kniet noch betet, sondern dasitzt und einen Unterhaltungsroman lesend darauf wartet, dass der Gottesdienst beginnt.
Der Chor verstummt.
Die Stille wird von der Glocke unterbrochen, die im Eingang zwischen Sakristei und Altarraum hängt. Der erste der Messdiener hat einmal kräftig an ihrer Kordel mit der Troddel gezogen und bei dem Klang erhebt sich die Gemeinde. Ein merkwürdiger Laut erfüllt die Kirche – das Geräusch von feuchten Kleidern, die sich von den Bänken lösen.
Eine kleine Prozession nähert sich dem Altar. Hinter den vier Jungen geht der Priester, ein Mann von etwa Ende fünfzig, vielleicht sechzig. Der Eifer, der in seinen blauen Augen aufflackert, ist das Zeichen einer lebenslangen Hingabe an seine Berufung. Eben diese Hingabe hat jedoch auch die Last seiner Jahre erschwert und der Glanz in seinen Augen ist von zunehmender Milchigkeit getrübt. Seine Haare haben noch immer die Farbe leuchtenden Goldes, das mit helleren, grauweißen Strähnen gesprenkelt ist. Er trägt es lang und voll, was eine Spur von Eitelkeit hinter seinem asketischen Gebaren verrät. Die Wirkung seiner Haare wird von dem üppigen Brokat des Übergewands noch verstärkt. Sein Gang erscheint zu langsam, selbst für die feierliche Prozession; die Jungen achten sorgfältig auf ihre Schritte, um ihn nicht zurückfallen zu lassen.
Die Fünf stehen nun am Fuß der Stufen, die zum Altar führen. Sie beugen die Knie, der Priester mühsamer als die Jungen, um dann den Eingangsdialog der Liturgie zu rezitieren, bei dem sie sich abwechselnd verbeugen und an die Brust schlagen, während sie ihre Todsünden bekennen.
Der Priester erklimmt die Stufen und öffnet das riesige, in Leder gebundene Messbuch. Er wendet sich zu den Menschen und streckt die Arme in einer Geste aus, die an den gekreuzigten Christus gemahnt. »Dominus vobiscum«, der Herr sei mit euch, singt er monoton.
Die Liturgie setzt sich mit der erwarteten Gleichförmigkeit eines uralten, nie veränderten Ritus, dem Tridentinischen Ritus fort. Der Priester wendet sich an die Gemeinde und fordert sie auf, entsprechend den, im Messbuch rot gedruckten, liturgischen Anweisungen im Wechsel zu beten. Jedes Mal wenn er sich umdreht, strömt ihm der Schweiß schwerer über das Gesicht. Nachdem er die Episteln und das Evangelium verlesen hat, steigt der Priester die Stufen hinab und geht auf die Kanzel zu. Während die Menschen sich wieder setzen, um seine Predigt zu hören, mustert er die Gesichter, die zu ihm zurückblicken.
An seiner Nasenspitze hängt eine Schweißperle. Endlose Sekunden lang hängt sie da, bevor sie heruntertropft. Die Menschen sehen zu, wie sich an ihrer Stelle erneut eine schimmernde Perle zu bilden beginnt. Der Priester lässt sich weder dazu herab, sich die Stirn, noch die winzige Salzpfütze von der Seite seiner handschriftlichen Notizen zu wischen. Haarkleine Adern aus blauer Tinte breiten sich am Rand der Pfütze aus.
Die Dame mit dem Roman wedelt mit einem Seidenfächer. Sie ist die einzige, die etwas gegen die Hitze unternimmt; die anderen leiden still vor sich hin, um in irgendeinem himmlischen Register Bonuspunkte gegen das Fegefeuer anzuhäufen. Sie mustert den Priester mit einem dünnen Lächeln. Na los, Father, denkt sie. Dir entgleitet dein Publikum. Mach lieber weiter.
»Meine Brüder und Schwestern«, sagt er endlich. Seine Stimme klingt tröstlich und fest. »Wir wollen uns heute von neuem dem Glauben, den Idealen, den Wahrheiten weihen, zu welchen wir uns bekannten, als wir diese Gemeinde gründeten. Im steten Gedenken an die Gebenedeite Jungfrau Maria, die in den Himmel berufen wurde – leiblich dorthin gebracht von ihrem Sohn, unserem Erlöser – weihen wir uns erneut den Wahrheiten, welche uns beseelten, unsere Gemeinde Assumption – Himmelfahrt – zu nennen, ein Name, welcher uns an das erinnert, was die Welt verloren, was wir gewonnen haben. Wir kamen an diesen Ort aus vielen Gründen, aber das gemeinsame Erlebnis, welches uns vereint, war eine Glaubenskrise – eine Krise, ausgelöst durch Veränderung, eine ketzerische Veränderung, über die wir keine Macht hatten. Nun ringen sie die Hände und predigen gegen die Gefahren des Schismas an, aber sie sind es, nicht wir, die die Auseinandersetzung bis zur Spitze getrieben haben. Jeder von uns Anwesenden wurde auf je eigene Weise vom Geist des Herrn angerührt und nun sind wir dem wiedergeboren, was so achtlos preisgegeben wurde.
Für uns hingegen ist eine wichtige Schlacht im Kampf um die Erlösung jedes Einzelnen bereits gewonnen. Wir haben Gottes erlösende Gnade erfahren und wir haben Sein Licht erblickt. Wie Christus, der gute Hirte, müssen wir nun unserer Brüder und Schwestern gedenken, welche in die Irre gegangen sind, der Mächte, welche sie fehlgeleitet haben, und ihrer äußersten Bedürftigkeit nach unseren Gebeten.
Lasset uns denn in unseren Gebeten der leidenden Kirche von Rom gedenken, welche nun von ketzerischen Veränderungen und Abweichungen von der Lehre geschüttelt wird. Lasset uns beten, dass die Allkirche wieder zu den Wahrheiten zurückfinden möge, deren einziger Hüter sie einst war, dass das Volk, welches Gott zu Seinem eigenen berufen hat, wieder den Frieden und die Einheit erfahren möge, die allein der Glaube zu bringen vermag.
Glaube. Allein der Glaube bindet uns. Und allein unser Glaube ist es, aufgrund dessen wir einst gerichtet werden.
Meine Freunde, ich möchte euch von einem Ereignis berichten, das im letzten Jahr stattfand, als ich im Niemandsland zwischen Leben und Tod darniederlag. Der Herzinfarkt war, wie ihr wisst, nur leicht. Es war die lange Fahrt zum Krankenhaus, die fehlende unmittelbare Hilfe, durch die mein Unheil erschwert wurde. Mein Herz erlitt einen ernsthaften Schaden, wie mir gesagt wurde, und es ist unwahrscheinlich, dass ich einen weiteren Anfall überleben würde. Die Ärzte gingen davon aus, dass ich nicht wieder zu euch zurückkehren könnte, dass das Leben in Assumption so beschwerlich sei, dass ich es nicht wieder auf mich nehmen würde. Als ich sie von meiner gegenteiligen Absicht in Kenntnis setzte, sagten sie, ›Aber Father McMullen, Sie müssen kürzer treten. Ihr Herz hat Ihrem Körper eine Botschaft gesandt.‹ Da sagte ich ihnen, ›Dann wird meine Seele meinem Herzen eine Botschaft senden‹. Und diese Botschaft lautet: Der Glaube ist die Kraft, die uns heilt.«
Er macht eine kurze Pause, dann schließt er: »Meine lieben Freunde, ich werde euch heute nicht länger mit meiner Weitschweifigkeit belasten – es ist viel zu heiß. Möge der Segen des allmächtigen Gottes über euch alle kommen und stets mit euch sein.«
Father James McMullen kehrt wieder an seinen Altar zurück und zelebriert den Ritus des Opfers, der Christi Tod symbolisch wiederholt. Die Liturgie schreitet weiter fort bis hin zum feierlichen Höhepunkt der Wandlung, dem Augenblick, in dem Brot und Wein sich für den Gläubigen in Fleisch und Blut Christi verwandeln. Es ist der Augenblick der Messe, für den Father McMullen geweiht wurde, der Brennpunkt all seiner priesterlichen Macht.
Es ist der Augenblick, in dem er die leibliche Anwesenheit Gottes beschwört.
Es ist auch der Augenblick, in dem er von einer wiederkehrenden, unerschütterlichen Erinnerung heimgesucht wird.
Er verbeugt sich über dem Kelch. »Hic est enim calix sanguinis mei«, Dies ist der Kelch mit Meinem Blut, flüstert er. Während er ehrfürchtig das Knie beugt, läutet der Messdiener die winzige silberne Wandlungsglocke. Als aber der Priester in den goldenen Kelch mit dem in Blut verwandelten Wein blickt, hört er eine andere Glocke – eine lautere, eine Alarmglocke – und sieht sich selbst vor vielen Jahren durch den langen Flur an einer Reihe identischer Türen vorbeieilen, bis er an jene kommt, die er, wie er weiß, öffnen muss. Er packt die Klinke mit Fingern, die kälter sind als das Messing und blickt dann in den Raum.
Von dem Bett mit dem Stahlrahmen fallen weiße Laken, getränkt mit dem Blut des Jungen, der da mit aufgerissenen Augen und klaffender, brutal zerfetzter Kehle liegt.