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Akuter Schmerz
ОглавлениеAutsch, blöder Tisch!
Julian, 8 Jahre
Jeder hat in seinem Leben schon Erfahrungen mit Schmerzen gesammelt. In den meisten Fällen ist der Schmerz vorübergehender Natur und tritt im Rahmen einer Prellung, Verletzung oder Entzündung auf. Solche Schmerzen nennt man übrigens »akut«: Der Schmerzauslöser ist hier also eine äußere oder innere Schädigung des Körpers.
Unser Gehirn ist dafür zuständig, dass wir bei einer Verletzung oder Erkrankung Schmerz empfinden. Verbrennt man sich die Hand auf einer heißen Herdplatte, wird das Verletzungssignal über die Nerven der Hand zum Rückenmark und von dort zum Gehirn weitergeleitet. Unser Gehirn versucht nun, das eintreffende Signal in das bewusste Wahrnehmen zu »übersetzen«.
Damit unser Gehirn den genauen Schmerzort bestimmen kann, hat es eine Art »Schmerzzentrum« ausgebildet, das unseren gesamten Körper wie eine Landkarte abbildet. Dieser Teil des Gehirns wird auch somato-sensorischer Kortex genannt. Er ist mit einem ganzen Netzwerk von verschiedenen Bereichen des Gehirns verbunden und selbst in viele kleine Bereiche unterteilt. Jeder Teilbereich in diesem Schmerzzentrum steht in Verbindung mit einem Teil unseres Körpers. Je wichtiger ein Körperteil für unseren Alltag ist und je komplexer die Aufgaben sind, die wir mit ihm erledigen, desto größer ist auch der Platz, den dieser Körperteil auf der »Landkarte« im Gehirn erhält. So wird ein Schmerzsignal von der Hand in denjenigen Teil des Schmerzzentrums geleitet, der für die Hand zuständig ist. Zusammen mit anderen Gehirnregionen löst der zuständige Teil des Schmerzzentrums dann das Schmerzgefühl und das Zurückziehen der Hand aus. Das wird über motorische Reflexe des Rückenmarks vermittelt, oft noch bevor unser Bewusstsein den Schmerz richtig realisiert hat.
Viele Kinder wünschen sich, dass ihre Schmerzen für immer verschwinden und sie überhaupt keine Schmerzen mehr fühlen müssen. Das wäre aber sehr ungünstig. Man würde sich z. B. mit einem Messer schneiden, es gar nicht merken und sich womöglich noch mehr verletzen. Oder mit einem verletzten Bein weiter Fußball spielen. Um uns davor zu schützen, gibt es den Schmerz. Er weist uns darauf hin, dass etwas nicht stimmt und wir besser überprüfen sollten, was genau die Ursache für den Schmerz ist. Auch bei unserem Herdplatten-Beispiel hat der Schmerz eine klare Warn- und Schutzfunktion. Er sagt uns: »Zieh die Hand von der Herdplatte weg, sonst fügst du dir schwere Schäden zu.«
Damit wir die Möglichkeit haben, der Ursache schnell auf den Grund zu gehen, sollten wir sehr genau bestimmen, wo und wie stark es wehtut. Normalerweise stellt sich dann bald heraus, dass die von uns wahrgenommene Schmerzstärke gut zu der Schmerzursache passt. So tut z. B. ein kleiner Nadelstich weniger weh als ein Tritt gegen das Schienbein. Zudem weiß die soziale Umgebung (also etwa Eltern, Verwandte, Freunde, Lehrer) in der Regel sehr genau, wie man am besten auf den Schmerz reagiert. Ein Beispiel aus der Zeit, als wir noch alle Jäger und Sammler waren und in Höhlen gelebt haben, soll dies verdeutlichen.
Der Jäger Uga und sein Freund Aga schultern ihre Speere und Äxte, um auf die Mammutjagd zu gehen. In den schneebedeckten Weiten der Steppe können sie schon von weitem die Geräusche der großen Tiere ausmachen. Als sie sich an ein Tier abseits der Herde heranschleichen, hören sie ein lautes Knurren. Ein Säbelzahntiger stürzt sich auf Uga und beißt ihn ins Bein, sie können ihn aber zur Strecke bringen. Aga stützt Uga auf dem Weg zurück ins Lager, damit die Wunde nicht weiter aufgeht. Im Lager wird Ugas Bein mit Wasser ausgespült, mit heilenden Kräutern bedeckt und notdürftig verbunden. Uga wird getröstet und muss bei der nächsten Jagd pausieren, weiß aber aus Erfahrung, dass die Verletzung heilen wird. Sorgen machen sich er und die anderen nicht. Die Schmerzen werden weitestgehend ignoriert, da der tägliche Überlebenskampf die volle Aufmerksamkeit der Frauen und Männer beansprucht.
Auch wir in der heutigen Zeit handeln bei akuten Schmerzen intuitiv und ohne zu überlegen meist richtig. Wir pusten dem Kind auf die Brandblase, nehmen es kurz in den Arm und sagen, dass es gleich besser werden wird. Wir ermahnen es, seine Hand für die Dauer der Verletzung zu schonen und verwöhnen es als Ausgleich für die Schmerzen und die empfundene Beeinträchtigung ein wenig. All das sind sinnvolle und richtige Verhaltensweisen im Umgang mit akuten Schmerzen.