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Wie sich chronischer Schmerz »entwickelt«

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In der Regel finden Schmerzen nicht im Verborgenen statt und werden nicht verheimlicht. Damit hat es natürlich auch einen Einfluss auf das Schmerzempfinden, wie jemand aus der Familie des Kindes auf dessen Schmerz reagiert. Fragt z. B. die Mutter oder der Vater ständig nach, ob und wie schlimm es wehtut? Wird das Kind schon von der Schule nach Hause geschickt, wenn der Lehrer nur vermutet, dass es ihm nicht so gut geht? Muss das Kind seine Hausaufgaben nicht mehr machen, weil es Schmerzen hat?

Die folgende Abbildung zum »Teufelskreis der Schmerzen« illustriert, wie Schmerz, wenn er einmal da ist, nach und nach chronisch und schließlich zu einem Dauerschmerz werden kann.


Abbildung 1: Der Teufelskreis der Schmerzen

Der Teufelskreis der Schmerzen ist ein stark vereinfachtes Modell der sehr komplexen Vorgänge, die zwischen Gehirn und Körper ablaufen. Was passiert dabei? Zunächst gibt es ein Schmerzsignal (1a). Denn am Anfang ist es tatsächlich nur ein Signal, das wir möglicherweise gar nicht registrieren. Erst wenn unser Gehirn entscheidet, dass es wichtig genug ist, um wahrgenommen zu werden (Öffnen des Schmerztors (a)), können wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten (2).

Uns allen ist es schon öfter passiert, dass wir uns irgendwo aus Versehen geritzt oder gestoßen oder abends einen blauen Fleck entdeckt haben, ohne dass wir es im Augenblick der Verletzung bemerkt hätten – einfach weil etwas anderes gerade sehr viel wichtiger war. Ein Fußballer steht nach einem Foul in der Regel wieder auf und wird sich wieder auf den Ball und seinen Gegner konzentrieren und somit auch starke Schmerzen für den Augenblick gut in den Hintergrund verdrängen können. Es gibt genügend Beispiele aus dem Leistungssport, in denen Sportler trotz ihrer Verletzung das Spiel zu Ende spielten und sogar noch das Spiel für ihre Mannschaft entscheiden konnten. Wie ist das möglich?

Eine entscheidende Rolle dabei spielt unser Kopf. Entweder er entscheidet, dass ein dringender Termin jetzt gerade unsere ganze Aufmerksamkeit beansprucht und der kleine blaue Fleck, den wir uns in der Hektik beim Zusammenstoß von Bein und Tisch geholt haben, vernachlässigbar ist. Oder unser Kopf entscheidet, dass es gerade nichts Wichtigeres als diesen Zusammenstoß und diesen Schmerz gibt, sodass wir uns auf ihn konzentrieren. Es ist also von zentraler Bedeutung, wie wir den Schmerz bewerten.

Nun sind wir Menschen ungekrönte Meister im Bewerten, im Schubladendenken und im Grübeln über andere. Eigentlich bewerten wir Menschen alles, was gerade passiert. Auch das, was wir gerade in diesem Augenblick lesen, bewerten wir daraufhin, ob es zu unseren Erfahrungen und Überzeugungen passt (b). Kinder und Jugendliche sind da nicht anders. Normalerweise finden Kinder und Jugendliche Schmerzen doof und wollen, dass sie verschwinden. Wenn Schmerzen aber länger andauern, kommen viel negativere, »schwärzere« Gedanken dazu (3). So beschreiben viele Kinder und Jugendliche, dass sie in ein regelrechtes »Schmerzloch« fallen, aus dem sie aus eigener Kraft kaum herauskommen. Typische Gedanken sind dann: »Es hat doch sowieso alles keinen Sinn«, »Warum gerade ich?«, »Hört der Schmerz denn nie auf?«, »Verdammt, ich kann mich einfach nicht mehr konzentrieren«, »Ich kann nicht mehr«, »Ich drehe bald durch« usw.

Leider neigen wir automatisch dazu, Ähnliches mit Ähnlichem zu vergleichen. Das bedeutet, dass sich zu den ohnehin schon negativen Gedanken sehr wahrscheinlich auch noch negative Erinnerungen hinzugesellen, die mit den Schmerzen etwas zu tun haben können (z. B. an einen früheren schmerzhaften Unfall), aber nicht müssen: So fiel z. B. einem achtjährigen Mädchen immer dann, wenn es starke Kopfschmerzen hatte, ein, dass ihr Hund ein Jahr zuvor gestorben war. Wenn Kinder und Jugendliche schwerwiegende belastende Lebenserfahrungen gemacht haben, werden sie häufig genau in diesem Moment daran erinnert. Alles in allem sinkt die Stimmung nicht selten auf den Nullpunkt, und je nach Typ sind dann eher Frust, Trauer, Wut oder Angst vorherrschend (c).

Gefühle heißen Gefühle, weil man auch körperlich etwas fühlt. Ist man total entspannt und der Herzschlag ruhig und regelmäßig, kann man keine Angst haben. Umgekehrt ist es wahrscheinlich unmöglich, sich richtig glücklich zu fühlen, wenn man den Köper verspannt, die Stirn runzelt und böse dreinschaut. Letztendlich sind alle negativen Gefühle – ganz grob gesprochen – Ursache oder aber Ausdruck einer körperlichen Stressreaktion (4). Diese läuft ganz automatisch – unwillkürlich – immer dann ab, wenn etwas unser persönliches Wohlergehen bedroht. Da reicht es schon, dass man auf eine bestimmte Tätigkeit (wie z. B. Hausarbeit) keine Lust hat und sich dazu richtiggehend überwinden muss. Eine Stressreaktion tritt aber auch bei negativen Gedanken oder Erinnerungen auf, oder wenn man etwas negativ bewertet.

Kurz- und langfristige Stressreaktion

Man unterscheidet zwischen kurz- und langfristiger Stressreaktion. Die kurzfristige Stressreaktion lässt die Muskelspannung im Körper ansteigen. Dies führt dazu (unabhängig davon, ob man nun unter Kopf-, Bauch- oder Rückenschmerzen leidet), dass die Schmerzen stärker werden: Die stärkere Muskelanspannung zieht stärkere Schmerzen nach sich.

Entscheidend für unseren Teufelskreis der Schmerzen ist jedoch die langfristige Stressreaktion: Das heißt, dass die stressende Situation oder die negativen Gedanken und Bewertungen länger andauern. Auch die Schmerzen selbst tragen natürlich etwas zu der Stressreaktion bei. Es ist aber an dieser Stelle sehr wichtig zu verstehen, dass es nicht der Schmerz an sich ist, der den Hauptteil der Stressreaktion verursacht, sondern unsere Bewertung der Schmerzen. Das Ungünstige an der langfristigen Stressreaktion: Sie sorgt, sehr vereinfacht ausgedrückt, dafür, dass eine Schmerzsensibilisierung stattfindet.

Eine Schmerzsensibilisierung (d) bedeutet, dass nunmehr der gleiche körperliche Schmerzreiz stärker empfunden wird (1b). Eine so genannte Bahnung hat stattgefunden, ähnlich wie bei einer Autobahn, die von zwei auf drei Spuren verbreitert wird, damit der Verkehr (hier: der Schmerz) besser fließen (also: verarbeitet werden) kann. Schließlich haben wir schon gesehen, dass das so verstärkte Schmerzsignal in einem speziell dafür vorgesehenen Teil unseres Gehirns verarbeitet wird: dem Schmerznetzwerk. Dort wird das Schmerzsignal mit den bisherigen Schmerzerfahrungen verglichen, wobei die aktuelle Gefühlslage eine Rolle spielt und auch, wie sehr man den Schmerz als Bedrohung empfindet. In unserem Beispiel ist das Schmerzsignal ja bereits verstärkt worden, sodass unser Schmerzzentrum uns nun signalisiert: Auch die Schmerzen sind stärker geworden. Und wir sind aufgeschreckt. Die Wahrscheinlichkeit, vermehrt auf die Stelle zu achten, an der es weh tut, ist gestiegen. Und der Teufelskreis geht in die nächste Runde.

Treten Gefühle wie Angst, Wut oder Hilflosigkeit häufig zusammen mit Schmerzen auf, wird schließlich ein Schmerzgedächtnis ausgebildet. Genau wie unser Gehirn die Erinnerungen an die letzte Geburtstagsfeier speichern oder ausrechnen kann, was drei mal fünf ist, kann unser Gehirn leider auch Schmerzen lernen. Und lernen kann unser Gehirn vor allem immer dann am besten, wenn Gefühle eine Rolle spielen. So erinnern wir uns sowohl an den Kinofilm, der uns am meisten Spaß gemacht hat, als auch an den, der uns am meisten gelangweilt hat – aber eben nicht an die Dutzende, die wir mittelmäßig fanden. Wir erinnern uns an Menschen, die wir unglaublich mögen, und an die, dir wir überhaupt nicht leiden können, aber selten an solche, die keine Gefühle (weder positive noch negative) in uns ausgelöst haben.

Wenn sich ein Schmerzgedächtnis ausgebildet hat, ist es eigentlich egal, an welchem Punkt der Teufelskreis beginnt. Es reicht dann schon die Nachfrage »Hast du gerade Schmerzen?« aus, um den Teufelskreis in Gang zu setzen, selbst wenn bis gerade eben keine Schmerzen gespürt wurden. Negative Gefühle wie Angst oder Traurigkeit können den Teufelskreis in Gang setzen, selbst wenn sie mit den Schmerzen erst einmal nicht in direktem Zusammenhang stehen.

Für ein noch besseres Verständnis haben wir einen Film entwickelt, der diese ziemlich komplizierten Zusammenhänge auf einfache Art und Weise erklärt: Den Schmerz verstehen – und was zu tun ist in 10 Minuten! (www.deutsches-kinderschmerzzentrum.de).1

Rote Karte für den Schmerz

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