Читать книгу Rote Karte für den Schmerz - Michael Dobe - Страница 17

Angst als Verstärker

Оглавление

Die Langzeiterfahrung von Schmerz trägt zur Gedächtnisbildung im Schmerznetzwerk des Gehirns bei. Es kommt aber noch mehr hinzu. Neueste Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass für die Entwicklung eines Schmerzgedächtnisses die Angst (z. B. vor den Schmerzen) mindestens genauso entscheidend ist wie der Schmerz selbst. Das ist kein Wunder, sondern logisch: Können wir uns noch an Dinge erinnern, die vor drei Tagen passiert sind, uns aber völlig egal waren? Wohl eher nicht. Dagegen prägen sich uns allen (hoffentlich) jene Dinge ein, über die wir uns gefreut haben, z. B. den letzten Urlaub. Wir können uns auch nach Jahren noch gut an Auslöser erinnern, vor denen wir große Angst hatten oder noch haben. Diese Erinnerungen sind meist so stark, dass wir sie nie wirklich vergessen. Und dieser Mechanismus funktioniert natürlich auch bestens, wenn Schmerz im Spiel ist. Zwei Beispiele aus unserer Praxis sollen diesen Zusammenhang verdeutlichen.

Rita, 13 Jahre

Rita knallte bei einem Auffahrunfall mit dem Kopf gegen den Vordersitz. Es tat so weh, dass sie dachte, es sei bestimmt etwas in ihrem Kopf kaputt gegangen. Ihr Bruder war aufgrund des Aufpralls kurz bewusstlos und sie hatte große Angst, dass ihr Bruder tot sein könnte. In dem nachfolgenden Durcheinander musste die Mutter beim Auto bleiben, während der Notarzt die beiden Kinder mit in die Klinik nahm. Keiner redete mit dem Mädchen, erst viele Stunden später wurde Rita von ihren Eltern darüber aufgeklärt, dass alles in Ordnung sei.

Obwohl die Ärzte Rita mehrfach versicherten, sie habe keine schlimmen Verletzungen, riefen ruckartige Kopfbewegungen sowie der Anblick von Autos verstärkte Kopfschmerzen bei ihr hervor. In der Folge vermied Rita zunehmend bestimmte Kopfbewegungen. Zudem achtete sie mehr auf die Schmerzen, da sie insgeheim befürchtete, dass doch etwas in ihrem Kopf kaputt gegangen sei. Nach einem Jahr waren die Schmerzen so stark geworden, dass ein stationärer kinderschmerztherapeutischer Aufenthalt unumgänglich wurde. Erst als sie lernte, sich ihren Ängsten zu stellen, den Schmerz aktiv zu beeinflussen und anfing zu begreifen, dass ihr Kopf gesund war, gingen die Schmerzen langsam zurück, bis sie eines Tages keine Dauerschmerzen mehr hatte.

Bei diesem Beispiel haben wir es mit einer unglücklichen Verkettung von Umständen zu tun, bei denen Angst und Schmerz eine gemeinsame Ursache haben. Aber erst die Angst führte dazu, dass die schmerzbezogenen Erfahrungen immer wieder neu erinnert und somit zunehmend besser gelernt wurden.

Ein zweites Beispiel soll das Gefühlsleben von Julia verdeutlichen, die unter einer nicht behandelten kindlichen Migräne litt. Die damit einhergehende Angst vor Schmerzen führte zu einer erhöhten Aufmerksamkeit, die sich auf den eigenen Körper richtete, und schließlich zu einem gelernten Dauerschmerz.

Julia, 14 Jahre

»Verzweiflung, Angst, Aussichtlosigkeit. Als Spirale. Und man fällt und fällt, aus dem einen entwickelt sich das andere. Angst. Aussichtslosigkeit. Verzweiflung. Man weiß, man sollte nicht so denken, das hilft auch nicht, im Gegenteil. Aber es kommt einfach. Rundrum. Rundrum. Schmerz. Übel. Laut. Hell geht grad. Und man denkt, wenn es nichts gibt, was hilft, was dann? Nicht dran denken. Aber es ist so stark. Übel. Damit kann man, kann ich nicht leben. Angst. Schmerz, Schmerz, Schmerz. Angst ist der wahre Schmerz.«

Erst eine vernünftige medikamentöse Attackentherapie der Migräne (keine Dauermedikation!), eine Verringerung der Angst vor Schmerzen sowie das Erlernen von Schmerzbewältigungsstrategien führten bei Julia zu einem dauerhaften Erfolg mit nur noch wenigen Migräneattacken im Jahr.

Rote Karte für den Schmerz

Подняться наверх