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Eine eigenartige weiße Blume blühte an der Decke des vorderen Zimmers, in dem sie wartete. Unter ihren Füßen ein Holzboden – breite Dielen, übersät mit blassen Narben. Zu ihrer Linken befand sich hinter einer Faltschiebewand das Esszimmer, eine dunkle, blutrote Höhle mit einem langen Tisch, der bereits gedeckt war, als kämen bald Gäste.

Belinda hatte sich ihr neues Heim so prachtvoll ausgemalt. Es überraschte sie nicht, dass die Wirklichkeit nichts mit ihren Vorstellungen gemein hatte. Das Haus von Aunty und Uncle war so viel geräumiger; das galt auch für die Häuser aller anderen bogahs in Daban, Finanzberater, Steuerberater, Anwälte, die aus dem Ausland heimgekehrt waren, überall Zimmer, Zimmer, die keinem besonderen Zweck dienten, Badezimmer für Gäste, für niemanden, hinten und an den Seiten noch Anbauten und Kammern für die Dienstboten. Hier mussten Nana und Dr. Otuo sich doch eingezwängt oder ganz klein fühlen. Warum fuhren die Autos direkt am Haus vorbei? Wo war die Schutzmauer? Wo der Pool?

Im Gegensatz zu Belinda, die sich nun unablässig in die eigenen Finger zwickte, bis sie die Hände schließlich auseinanderriss, hatte Mutter die Ruhe bewahrt, als es zur größten Umwälzung kam. Am letzten Tag der Osterferien hätte Mutter eigentlich mit dem gelben Beleg der Western Union aus dem Comm Centre im Herzen Adurubaas zurückkommen und ihn zu den anderen Belegen in die verbeulte Blechdose stecken sollen. Tat sie aber nicht. Als sie an diesem Nachmittag in ihr gemeinsames Zimmer zurückgekehrt war, hatte das etwas Gespenstisches an sich. Schlüsselklimpern lenkte Belinda von der Jollofpfanne auf dem Herd ab. Mutter blieb einen Moment im Türrahmen stehen, völlig reglos, starr. Mutters Mähne, die vom vielen Sitzen in der Sonne allmählich einen bräunlichen Ton annahm, wirkte noch wilder als sonst. Sie ließ sich auf das Bett fallen und richtete ihren Blick auf die blasige Wand.

»Dich betrifft das auch«, hatte Mutter tonlos gesagt.

Belinda stellte die Flamme kleiner und warf sich das Geschirrtuch über die Schulter. Das Papier, das Mutter lose hielt, war blau und die erste Kostprobe der väterlichen Handschrift, die Belinda zu sehen bekam. Der erste handfeste Beweis, dass ihr Vater wirklich existierte. In seinem Luftpostbrief wirkten die Wörter, die er niedergeschrieben hatte, mädchenhafter als ihre Schrift. Die fein säuberlichen Zeichen ließen die Botschaft umso brutaler erscheinen. So knapp sie auch war, musste sie mehrmals gelesen werden. Der Krach der Akuapem-Kinder von nebenan, wenn sie ihr blödes Klatschspiel spielten, wie immer so laut, als wären sie im selben Zimmer. Mutter hatte gestöhnt und gestöhnt und wieder gestöhnt und war dann aufgestanden, um am Pfannenboden zu kratzen, wahrscheinlich wollte sie sichergehen, dass der Reis leicht angebrannt war, um diesen rauchigen Geschmack zu erzeugen. Der Brief endete, ohne dass ihr Vater auch nur versucht hätte, sich dafür zu entschuldigen, dass er die Schulgebühren nicht länger bezahlen konnte. Mutter stellte die Flamme noch kleiner, sodass sie flackerte. Mit hochgezogenen Augenbrauen und angespannter Miene hatte sie sich umgedreht und zum Schluss gesagt: »Das war’s also. Wir werden dir eine andere Beschäftigung suchen.«

Jetzt, unter der riesigen weißen Rose, presste Belinda die Knie zusammen, um nicht mehr daran zu denken. Sie nahm die Fernbedienung in die Hand und legte sie wieder hin. Nana war schon viel zu lange im Bad zugange. Belindas Blick blieb auf dem Couchtisch an einem klebrigen braunen Ring hängen. Die Sonne offenbarte auf sämtlichen Oberflächen einen grauen Schleier.

»Nana? Amma?«

Belinda ging zum Kamin, streckte den Finger aus und fuhr über ein Regalbrett, hinterließ dabei eine tiefe und vollkommen gerade Linie. Staub ballte sich. Natürlich wäre das ein Eingriff, wäre unhöflich, aber sich einfach wieder aufs Sofa zu setzen? Wäre Faulheit. Sie trat aus dem Zimmer und geriet in einen Flur, der am anderen Ende von unten beleuchtet wurde. Die Stufen knarrten unter ihren Fersen und führten sie in eine luftige Küche hinab, wo alles in einem klinischen Weiß erstrahlte, das sich im staubigen Kumasi nicht herstellen ließe. So viel Weiß: Tassen, Teller, der Boden. Nur eine unverputzte, bröckelnde Wand fiel aus dem Rahmen. Vielleicht doch keine Klinik, eher eine Art Fabrik: Das blankpolierte Metall der Schränke, der Herd, der umgedrehte Rauchfang darüber, der Kühlschrank, die Behälter, die Uhr an dieser unfertigen Wand kamen ihr vor wie grausame Maschinen. In dieser Küche fehlte Holz, fehlten Töpferwaren – alles Heimelige. Unter der Spüle standen sorgfältig aufgereiht Sprays, die beruhigend vertraut rochen. Mr Muscle war genau der Richtige. Belinda schnappte ihn sich.

Wieder oben, hätte sie am liebsten geklatscht, als sich Schaumblasen über die Tischflecken ergossen und der bohrende Schmerz in ihrem Kreuz verschwand. Aus unbestimmter Richtung hörte sie einen erstickten Schrei, dann schlug eine Tür zu. Belinda räumte schnell Tuch und Spraydose weg. Der verräterische Mr Muscle rollte unter dem Tisch hervor und grinste sie an.

»Tut mir leid! Ich wollte nur –«

»Mir tut’s leid. Ich habe sie oben erwischt und … dann haben wir geredet.« Nana ließ sich auf das Sofa sinken. Belinda tat es ihr nach.

»Schon gut.«

»Warum kann sie nicht einmal stillsitzen? Du, du hast doch gesehen, wie sie aus dem Taxi gestürmt ist, als wären Bitte und Danke und Hallo ganz aus der Mode gekommen?« Nana hielt inne, die winzigen Fältchen an ihren Augen dehnten sich, flehentlich hob sie die Hände. »Sie lässt sich bei dir entschuldigen und muss sich gleich hinlegen, weil sie letzte Nacht so spät heimgekommen ist. Was macht das nur für einen Eindruck?«

»Macht nichts. Unterwegs, im Taxi, war sie so nett zu mir, so hilfsbereit.«

»Gestern gab es die Prüfungsergebnisse, und das musste sie eben mit ihren Freunden feiern. Nur Bestnoten. Das hat sie mir noch zugerufen, schon war sie wieder aus dem Haus, und ich durfte ihren Erfolg an so einem Streifen Papier ablesen. Nur Bestnoten.« Belinda gefiel Nanas leises Lachen. »Am liebsten würde ich sie hierhin setzen, damit wir ihr sagen können, wie sehr wir uns freuen, wie dankbar wir sind – aber das fällt ihr ja im Traum nicht ein, sich wie wir jetzt hinzusetzen und zu reden.« Nana zog die rote Strickjacke fester über ihre weiße Bluse.

»Sie –«

»Dein erster Auftrag wäre vielleicht, für mich herausfinden, was sie in den letzten vierundzwanzig Stunden getrieben hat, ja? Ich bin … ich bin sicher, sie hat nichts getan … nichts Schlimmes? Aber ich muss … ich muss Bescheid wissen.«

»Auftrag klingt so groß für eine – eine so kleine Person wie mich.«

»Sa? Für mich klingt Auftrag genau richtig.«

»Ich –«

»Gott sei Dank, dass deine Aunty dich dafür freigegeben hat – obwohl sie dich und deine tolle Arbeit gern für sich behalten hätte. Aber das ist eben wahrer Anstand, meine Liebe. Wenn man sich bei Bedarf füreinander opfert, verstehst du? Manchmal muss es eben sein.«

»Aane

Nana zupfte am winzigen Schwanz ihrer Eidechsenbrosche, die nun noch erhabener an ihrer linken Brust prangte. »Wir waren unzertrennlich. Vom ersten Tag an, dem Tag unserer Konfirmation.« Nanas Ohrringe tanzten. »Es war so schön mit uns. So besonders.«

»Bestimmt.«

Belinda kaute an ihrer Wange. Nana rückte den Eidechsenschwanz wieder an die ursprüngliche Stelle.

»Und du … du könntest Ammas beste Freundin sein. Ja? Sei ihr ein gutes Vorbild. Reiß sie von dem los, was sie gerade so überreagieren lässt. Schluss mit diesen Anfällen. Diesem Schweigen. Diesem Weinen.«

Belinda blickte auf ihre Handflächen, als würde sie selbst nichts preisgeben, solange sie die Linien musterte. Dann setzte sie sich darauf.

Ein gutes Vorbild? So gut, so vorbildlich war sie also, dass ihre eigene Mutter, die sie zum Vorbild gemacht hatte, sie ohne jedes Zögern wegschickte. So vorbildlich, dass ihr Vater das Weite gesucht hatte, ohne abzuwarten, wie gut die Frucht seiner Lenden gedieh. Hatte sie denn selbst daheim Güte erfahren, als sie heranwuchs? Sie und Mutter hatten im Dorf eigentlich nichts dergleichen erlebt. Das Dorf war ein Ort der kalten Schultern und verdrehten Augen, voller Verdächtigungen und Verächtlichkeit. Ein gutes Vorbild. Um sich dem auch nur zu nähern, würde sie ein Leben lang ringen müssen, so viel war Belinda klar. Aber das würde sie Nana niemals verraten. Nana wollte das gar nicht wissen. Belinda presste sich mit ihrem ganzen Gewicht auf ihre Hände.

»Adjei! Habe ich’s schon wieder übertrieben? Bloß kein Ü-ber-fall – das haben sie beide gesagt, deine Aunty und mein Otuo. Ü-ber-fall, so haben sie’s ausgedrückt, und ich meinte, aber nein, ich geh’s ganz gelassen an, ich bleibe cool. Bin aber nicht cool, stimmt’s? Und dir wird schon richtig heiß, was?«

Mr Muscle rollte ihr vor die Füße, praktisch als Ansporn, aber Belinda war das alles zu viel, zu schnell, um sich eine Antwort zu überlegen.

»Hör zu! Vor lauter Aufregung bin ich ja ganz durcheinander.« Nana klopfte sich mit den Knöcheln gegen die Stirn und zog zwei makellose Augenbrauen hoch. »Eigentlich wollte ich ja damit anfangen, mit meinem großen Plan. Sieh’s mir nach, ja? Böse Nana. Kannst du gern sagen. Kannst gern mit mir schimpfen. Jedenfalls gibt es in ein paar Wochen diese wunderbare Gelegenheit, dich hier in unsere Gemeinschaft einzuführen, in einem schönen Rahmen. Amma beschwert sich zwar, dass ich zu viel verlange und sie nicht genug Zeit hat, aber vielleicht kannst du sie fragen, oder ihr einfach sagen, du möchtest dir gern das Ghanafoɔ ansehen. Das ist unser –«

Belinda war froh über das Klacken der Tür, das Rauschen von Wind und Verkehr, über die Schritte, die Dr. Otuo hereinbrachten. Er murmelte, er sei in der Tube stecken geblieben, klagte über ihren Zustand. Belinda atmete tief ein und hatte das Gefühl, ihre Brust würde sich ins Unermessliche weiten.

»Meine prachtvolle Gefährtin!« Dr. Otuo verbeugte sich vor seiner Gattin und sie revanchierte sich mit einem Knicks. »Unsere neue Tochter? Akwaaba. Wir heißen dich auf das Herzlichste willkommen.«

Er wirkte dünner als bei ihrem Besuch in Daban, müder. Als er Belinda den Rücken tätschelte, fühlte sich seine kräftige Männerhand für sie an wie ein Peitschenhieb. Sie sprang auf, nahm ihm seine Aktentasche und die Jacke ab, die er über den Arm gelegt hatte.

»Haben wir etwas für ihn zubereitet, Madam

»Es ist noch Fisch mit Okraschoten übrig –«

»Nicht, dass sein Magen leer bleibt, nicht wahr, Ma

Belinda sauste davon, hängte die Sachen des Doktors an die Garderobenhaken und polterte in die Küche hinunter. Die Waschmaschine lief und brachte den ganzen Raum zum Beben.

»Belinda!«, schrie Nana.

Belinda duckte sich unter den vibrierenden Töpfen, riss die Kühlschranktür auf und schob die Büchsen mit den aufgerollten Deckeln beiseite, das welke Gemüse und die braunen Soßen in Tupperdosen. Da, tatsächlich, ein orange leuchtender Eintopf. Schon vor dem Kosten wusste sie, dass er nach Maggi und sämtlichen anderen Gewürzen verlangte.

»Belinda?«

Die nahenden Schritte von Doktor und Nana riefen in ihr ein Gefühl wach. Sie stöberte Cayennepfeffer, Muskatnuss und etwas Ingwer auf. Drei Prisen dies, drei Prisen das. Das Gefühl schoss ihr zwischen Nieren und Leber, schaffte es nicht, durch den Bauchnabel zu entweichen, obwohl es einen Vorstoß unternahm.

Doktor schüttelte den Kopf. »Nicht so hektisch, mein Kind. Beruhige dich.«

Sie kratzte den Topf aus, um an die köstlichen Brocken am Grund heranzukommen, schöpfte eine ordentliche Portion auf den Teller und holte den Reis. In diesem Eintopf gab es nicht genug Sardinen, bei Weitem nicht. Paff, Peng: Reis in die Mikrowelle, am Zeitschalter drehen, schon kreiste die Schale und Mary hätte es jetzt auch getan, wäre immer wieder herumgewirbelt und schließlich kichernd hingefallen.

»Belinda? Du bist ja der reinste Derwisch, junge Dame. Ich hatte hier schon mit einem Saustall gerechnet, bei dem Lärm.«

»Sie arbeiten so hart, Sir. Uncle hat es mir daheim erzählt. Richtig eingehämmert: Nie würde ich Sie in Ihrem eigenen Haus zu sehen bekommen, weil Sie immer riesige Geldprobleme lösen müssen, und wenn nicht, sitzen Sie bis tief in die Nacht mit irgendwelchen Büchern in Ihrem Arbeitszimmer und lesen noch mehr von diesen Steuergesetzen. Er hat mir außerdem gesagt, ich soll Sie so gut behandeln, wie ich ihn behandelt habe. Und ich werde mich daran halten, weil Sie so gut zu mir sind. Dass ich hier wohnen darf. Stimmt doch?«

Das Gefühl hüpfte hoch und landete auf dem Rücken, seine Beine kitzelten Belindas Zwerchfell, als Dr. Otuo brummte und ihr ein Handy und dann eine Broschüre über den Tisch zuschob. Auf der Titelseite war eine junge Frau mit einer überdimensionierten Brille zu sehen. Die Brille war randlos. Die junge Frau betrachtete einen Zylinder. Eine Metallkerze. Verkehrt herum entzifferte Belinda Abacus Educational Centre. Daneben in ähnlicher Schrift, aber mit kleineren Lettern: Um auch die kühnsten Zukunftsträume zu ermöglichen.

»Du sollst hier lernen, Belinda. Nicht kochen-putzen-bügelnkochen. Wir wollen, dass du etwas lernst, ja? Jaha.«

Halt

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