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3.1Krebs: Fakten, Mythen und Metaphern

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Unter Krebs wird eine Vielfalt höchst unterschiedlicher onkologischer Erkrankungen verstanden. So ist auch jeder Krebs auf seine Weise einzigartig – in seinen genetischen Charakteristika und Biomarkern, in seiner Lokalisation, seiner Wachstumsgeschwindigkeit und Ausbreitung sowie in seinem Ansprechen auf die zur Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten.

Wenn Menschen an Krebs erkranken, sind sie kein unbeschriebenes Blatt. Sie verfügen über ein mehr oder weniger bewusstes, oft schwer in Worte fassbaresVorwissen über die Erkrankung, das sich aus unterschiedlichsten Quellen speist. Meist mischen sich Fakten mit Mythen und Metaphorischem, mit individuellen Erfahrungen und Erzählungen aus der Familie und dem Freundeskreis sowie mit Informationen aus digitalen Medien. Die so entstandenen Annahmen prägen die ersten Bedeutungsgebungen und Erwartungen, die Patienten mit ihrer Krebsdiagnose verknüpfen.

Krebs ist sehr häufig. In Deutschland erkranken jährlich etwa 500.000 Personen neu an Krebs, bei über 230.000 Menschen war die Erkrankung im Jahr 2018 die Todesursache. Da mit zunehmender Lebenserwartung Krebserkrankungen immer häufiger werden und Krebs dank verbesserter und neuer Therapieoptionen immer mehr zu einer chronischen Erkrankung wird, ist mit einer Zunahme von Krebserkrankungen zu rechnen – trotz aller Bemühungen um Prävention und Früherkennung.

Im Gegensatz zu gesunden Zellen vermehren Krebszellen sich ungezügelt. Unter Laborbedingungen können sie nach der Entnahme den an Krebs Erkrankten um Jahrzehnte überleben. Diese unkontrollierte Vitalität kann das Leben bedrohen (Mukherjee 2012). Krebszellen können umgebendes gesundes Gewebe infiltrieren und zerstören, Organgrenzen durchbrechen und Metastasen bilden.

Trotz aller Möglichkeiten der modernen Medizin zur wirksamen Behandlung kann jede Krebsdiagnose als existenzielle Bedrohung erlebt werden – unabhängig von der medizinischen Prognose, der Malignität der Krebszellen und der Dynamik ihrer Ausbreitung im Organismus. Wenn sich die unvermeidliche Tatsache unserer Sterblichkeit nicht mehr beiseiteschieben lässt, sind wir mit der Endlichkeit der menschlichen Existenz konfrontiert. Es sind die eigenen Zellen, die durch unkontrolliertes Wachstum und ungebremste Verbreitung »bösartig« werden und letztlich das Leben kosten können. Oft ruhen Krebszellen über Jahre oder Jahrzehnte und bleiben im Verborgenen, bis sie sich in körperlichen Symptomen äußern. Oder – was oft noch mehr verunsichert – sie werden durch Zufall oder bei einer Vorsorgeuntersuchung entdeckt. Die mit Krebs verknüpften Vorstellungen sind oft geprägt von Assoziationen hilflosen Ausgeliefertseins, von Schmerzen und Leiden durch die Erkrankung selbst oder durch belastende Therapien.

Der Wunsch, das Unberechenbare und »Böse«, das im eigenen Körper wächst, zu kontrollieren, nährt die Suche nach dessen Ursachen. Die Neigung oder Prädisposition, an Krebs zu erkranken, kann in den Genen vererbt werden, oder ein bestimmter Lebensstil kann die Krebsentstehung begünstigen. Nicht selten fühlen sich Menschen durch eine Krebserkrankung für ein Risikoverhalten und ihre ungesunde Lebensführung bestraft. Schuld- und Schamgefühle werden oft auch von ärztlicher Seite geschürt, sei es durch den Hinweis auf Risikoverhalten wie übermäßige UV-Licht-Exposition bei Hautkrebs, Rauchen bei Lungenkrebs, Alkoholabusus, ungesunde Ernährung und Übergewicht, Bewegungsmangel oder wechselnde Sexualpartner, versäumte Früherkennung oder durch zu späte Inanspruchnahme diagnostischer Maßnahmen.

Bei Krebserkrankungen leben Teile des Organismus auf Kosten des Ganzen und können dessen Untergang herbeiführen. Dieses Charakteristikum führt in nichtmedizinischen Kontexten zur metaphorischen Verwendung des Begriffs »Krebsgeschwür« als Inbegriff des Schädlichen und Bösartigen.

So trägt vieles dazu bei, dass es keineswegs selten noch als Tabu erlebt wird, über Krebs zu sprechen. Das erschwert die Kommunikation zwischen den Erkrankten und ihrem Umfeld, aber auch mit den Behandlern. Auf der anderen Seite scheint sich oft alles nur noch um die Erkrankung und die mit ihr verbundenen Bedrohungen und Folgen zu drehen. Nach dem ersten Schock wird für den Kampf gegen den Krebs mobilisiert.

Der Kampf und Krieg gegen den Krebs ist wohl die wirkmächtigste Metapher im Bereich der Medizin. Indem Richard Nixon 1971 den »Krieg gegen den Krebs« (»war on cancer«) ausrief, erklärte der damalige US-Präsident der Krankheit gewissermaßen den Krieg. Fünfzig Jahre später weiß man sehr viel mehr über die Komplexität seiner Entstehung, sodass die Illusion eines endgültigen Sieges der Medizin über den Krebs unsinnig erscheint. Dem einzelnen Patienten kann der Mythos des Kampfes allerdings ein Gefühl von Würde, von Selbstachtung, Stärke und Kontrolle verleihen. Den Kampf aufzunehmen und aktiv zu gestalten befreit aus der Opferrolle. Auch wenn der Betroffene den Kampf verliert, kann er sich als tapferer und mutiger Kämpfer fühlen, der nie aufgegeben hat. Auf der anderen Seite kann der Kämpfermythos auch dazu führen, dass eine Verschlechterung der Krankheit auf mangelnden Kampfgeist zurückgeführt und somit als eigenes Versagen erlebt wird. Unhinterfragt kann sich der Mythos auch dahingehend auswirken, dass sich Patienten innerlich oder von außen gedrängt fühlen, aussichtslose und zugleich Leid bringende Kämpfe zu führen. Und selbst wenn die Krankheit überwunden wird, bleibt der Tod letztlich unvermeidlich. Kriegsmetaphern rufen Bilder des Kampfes zwischen dem Guten und dem Bösen hervor, zwischen Mächten des Lichtes und der Finsternis, zwischen Leben und Tod. Sie produzieren Sieger und Verlierer, maximal herrscht für eine gewisse Zeit Waffenstillstand.

Vorstellungen von Kampf und Krieg führen nicht selten zur symmetrischen Eskalation: Je größer die dem Feind zugeschriebene Bedrohung wird, desto gewaltvoller und radikaler werden die Waffen. So besteht die Gefahr, im Kampf gegen die Krankheit den Patienten als ganze Person zu vergessen. Körperteile werden in Operationen geopfert, Chemotherapien und energiereiche Strahlen werden in maximal tolerierbarer Dosis verabreicht, wobei oft erhebliche Schädigungen gesunder Zellen in Kauf genommen werden müssen. Viele Therapien sind invasiv und nebenwirkungsreich und beeinträchtigen die Lebensqualität. Manche – wie beispielsweise Knochenmarktransplantationen bei Leukämien – beinhalten sogar das Risiko, an den Folgen der Therapie zu sterben, das Auftreten weiterer Krebserkrankungen zu fördern und die Lebenserwartung insgesamt zu verkürzen. Obwohl der Preis hoch ist, wird er angesichts eines möglichen Gewinns bezahlt. Ob sich die Opfer lohnen, stellt sich im Einzelfall erst im Nachhinein heraus. Jeder Betroffene kann diese Frage nur für sich selbst beantworten.

Neben Kampf und Krieg finden sich rund um Krebs auch noch andere Metaphern. Die Metapher der Reise betont den prozesshaften zeitlichen und oft chronischen Verlauf einer Krebserkrankung. Der Mythos erinnert an die Heldenreisen der Antike, die Suche nach dem heiligen Gral oder an Entwicklungsgeschichten von Helden auf der Suche nach Weisheit. Auch krebskranke Menschen können sich als Helden erleben, die sich im gefährlichen Land von Krankheit und Tod oder in unbekannten Innenwelten wiederfinden und eines Tages gereift heimkehren. Manche Patienten vergleichen die Erfahrung des Überlebens der Erkrankung und der Therapie mit einer Neu- oder Wiedergeburt, der die Chance eines Neubeginns innewohnt.

Mythen und Metaphern wirken integrierend und sinnstiftend, indem sie helfen, Unbekanntes durch Analogien mit Bekanntem zu verstehen und Erfahrungen in ein größeres Ganzes einzuordnen. Sie sind Quellen von Symbolen, Bildern und Geschichten. Hypnotherapeutisch und systemisch (»hypnosystemisch«) geprägte Begleiter achten auf die Bilder und Metaphern des Patienten und auf deren Auswirkungen, also darauf, ob sie ihn befähigen und stärken oder einschränken und schwächen. Sie schlagen dem Patienten auch neue Bilder und Metaphern vor und geben Impulse, die zur positiven und heilungsfördernden Gestaltung seiner individuellen Wirklichkeit beitragen und inneren Frieden und Wohlbefinden möglich machen. In der Achtsamkeitspraxis übt man, immer wieder innezuhalten, um die Auswirkungen der inneren Bilder zu erkennen und im Beobachtermodus beispielsweise zu bemerken, wenn sich eine übermäßige Identifikation mit dem »Kämpfer« auf unheilsame Weise auswirkt.

Hypnose und Achtsamkeit in der Psychoonkologie

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