Читать книгу Unterricht ist Beziehungssache - Michael Felten - Страница 11

Bindungstheorie

Оглавление

Bereits in den 1950er Jahren hatte der britische Kinderpsychiater John Bowlby eine humanwissenschaftliche Metatheorie begründet, die den Aufbau und die Veränderung enger zwischenmenschlicher Beziehungen genauer in den Blick nahm. Aus anthropologischer Perspektive wird menschliche Entwicklungsdynamik durch das Zusammenspiel zweier motivationaler Systeme bestimmt: dem Bedürfnis nach Sicherheit und dem Streben nach Neuerkundung. Die frühen Erfahrungen mit den primären Bindungspersonen im Hinblick auf Angst/Vertrauen und Vorsicht/Entdeckungsdrang gerinnen im Laufe der ersten Lebensjahre zu musterhaften Erlebnis- und Handlungsbereitschaften, die sich vier »Bindungstypen« zuordnen lassen (sicher gebunden, unsicher vermeidend, unsicher ambivalent, desorganisiert). Je größer die elterliche Feinfühligkeit im Hinblick auf die Regungen des Kleinkindes, umso tiefer zukünftig sein grundlegendes Lebensvertrauen, umso ausgeprägter seine spätere Fähigkeit zu angemessener Eigenwahrnehmung (Selbstregulation) und Fremdwahrnehmung (Mentalisierung). Sicher gebundene Kinder spielen ausdauernder und konzentrierter, sie haben weniger Streit und lösen Konflikte selbständiger, sie neigen zu einer optimistischeren Weltsicht und haben ein realistischeres Selbstbild.

Sein individuell erworbenes Bindungsmuster aktiviert das [26]Kind auch in schulischen Lernsituationen, schließlich beschert einem neuer Stoff immer auch ein gewisses Fremdsein, birgt ein Angstpotential. Ein sicher gebundener Schüler wird sich unbekümmert herausgefordert fühlen, während die beiden unsicheren Typen beunruhigt reagieren (sie verbeißen sich verkrampft in die Sache oder klammern an der vertrauten Lehrperson); der desorganisierte Typ hingegen agiert unkalkulierbar – er wendet sich völlig vom Inhaltlichen ab oder verwickelt die Lehrperson in Kämpfe. Aber auch Pädagogen reagieren auf Lernprobleme oder Klassenkonflikte mit ihrem jeweiligen Bindungsmuster: Die sicheren sind eher entspannt und empathisch, unsichere hingegen werden schnell abweisend und distanziert – und desorganisierte fallen durch Unberechenbarkeit und Empathiemangel auf.

Nun spielen sich schulische Lern- und Beziehungsvorgänge ja nicht nur zwischen zwei Seiten ab, sondern in einer Gruppe – und auch die kann als sicherer Hafen wirken oder als Minenfeld. Neben der Sachebene existiert also eine komplexe, hochgradig wirksame Beziehungsebene: individuelle Sympathien und Antipathien, Cliquen, unterschiedliche Rollen (z. B. Star, Kritiker, Vermittler, Clown, Störer, Opfer), Rangordnungsfragen (bezüglich Leistung, Kontakt, Führungswillen, Zugehörigkeit). Die Klasse erweist sich damit als gruppendynamischer Raum, in dem es für jeden Schüler – abgesehen vom Lernstoff – um Fragen der Zugehörigkeit, von Macht oder Unterlegenheit, von Nähe und Distanz geht. Sie wird in dem Maß als sicherer Ort erlebt (kohäsive Klasse), in dem sie Geborgenheit vermittelt, Isoliertheitsängste reduziert und Unterstützung bereitstellt.

Aus bindungstheoretischer Sicht sind Lernbeeinträchtigungen und Verhaltensstörungen also eine Folge frühkindlicher maligner Beziehungserfahrungen bzw. ein Ausdruck der dabei erworbenen Bindungsmuster. Diese können allerdings von [27]der Lehrperson aufgeweicht und verändert werden – sofern diese ihr Potential als alternative Bindungsfigur annimmt, die Klassengemeinschaft als neuen »sicheren Hafen« gestaltet und das didaktische Dreieck (Lehrer – Schüler – Thema) bindungsorientiert interpretiert. Dazu muss sie sich aber ihrer eigenen Bindungsschemata bewusst sein und in Sachen Feinfühligkeit wie Souveränität hinreichend professionell sein.

Unterricht ist Beziehungssache

Подняться наверх