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Wieder im Fokus: Lehrer-Schüler-Beziehung

Unterricht ist Beziehungssache – so der Inhalt dieses Büchleins, in drei Worten zusammengefasst. Gemeint ist: Ob Schüler beim Lernen gut vorankommen, ob Lehrer auch nach Jahrzehnten noch gerne unterrichten, das hängt ganz wesentlich von der Güte der Lehrer-Schüler-Beziehung ab.1

Natürlich ist Unterrichtsqualität auch eine Frage unterrichtlicher Methodik (ob und wie Lehrer den Lernprozess strukturieren) und schulischer Ressourcen (ob es also genug Lehrkräfte und angemessene Räumlichkeiten gibt). Mit dem Topos ›pädagogische Beziehung‹ beleuchtet dieses Büchlein indes eine bislang unterschätzte, dabei höchst bedeutsame Seite der Unterrichtskunst – man könnte getrost vom Kern schulischen Lernens, ja einem Schlüsselbegriff für unterrichtliches Gelingen sprechen.

Landläufig ist der Einfluss des Beziehungshaften im Unterricht eigentlich kein Geheimnis. Wünschten Eltern sonst ihren Kindern zur Einschulung in Zeitungsannoncen »viel Glück mit den Lehrern«? Würden junge Pädagogen sonst im Lehrer-Chat einander empfehlen, jenseits aller Methodik sei es das Wichtigste, dass man einen guten Draht zu seinen Schülern bekomme? Gäbe es sonst in der Literatur – neben den geläufigen Bildern skurriler oder drangsalierender Lehrergestalten – eine Vielzahl von Darstellungen ebenso einfühlsam wie zielstrebig agierender Pädagogen? Man denke nur an Albert Camus’ ausführliche Schilderung seines ersten Lehrers in der algerischen [10]Volksschule, in dem stark autobiografisch geprägten, unvollendet gebliebenen Roman Der erste Mensch. Oder an die emanzipierende Figur des Dorfschulmeisters in Tschingis Aitmatovs Der erste Lehrer.

Auch im Genre Film wird das Thema pädagogische Beziehung immer wieder ausgeleuchtet. So entführt die französische Doku Sein und Haben (Être et avoir, 2002) in den Alltag einer einklassigen Dorfschule in der Auvergne, in die geduldige Arbeit eines alten Lehrers mit einem Dutzend Kinder. Kein Medienzauber, kein Methodenkarussell, stattdessen schulpädagogische Beziehungshaftigkeit pur: viel Verlässlichkeit, große Übersichtlichkeit, ein wenig Freiheit, genügend Ordnung – eine wohldosierte Mischung aus Respekt, Ernsthaftigkeit und guter Laune. Für diesen Lehrer ist jedes der Kinder ein unverwechselbares Einzelnes, den Kindern ist er ein wahrhaft »bedeutungsvoller Erwachsener« (Bruno Bettelheim). Ebenfalls höchst eindrucksvoll: Rhythm is it! (2004), die Aufzeichnung und Reflexion der Probenarbeit von Berliner Hauptschülern für eine anspruchsvolle klassische Ballettaufführung. Der gleichermaßen humorvolle wie strenge Tanzpädagoge Royston Maldoom lässt die Jugendlichen bisherige Grenzen überschreiten und Ansätze zu einem neuen Selbstbewusstsein aufkeimen.

Dieser Band will den Beziehungsaspekt schulischen Lehrens und Lernens in drei Schritten breiter ergründen und in seiner Reichhaltigkeit entfalten. Nicht, um den Lehrer mit einer weiteren Zusatzaufgabe zu befrachten – sondern um sein Wirken zu erleichtern und ergiebiger zu machen. Denn ›Beziehung‹ bleibt auch in Zeiten fortschreitender Digitalisierung ein Zentralschlüssel für Bildung.

Zunächst wird dargelegt, welche Befunde von Seiten der Wissenschaft dazu vorliegen. Ein weiter Bogen spannt sich von der frühen Stimme des Renaissance-Gelehrten Erasmus von Rotterdam (»Der erste Schritt zum Lernen ist die Liebe [11]zum Lehrer«) über das zeitgenössische Diktum des Neurowissenschaftlers Joachim Bauer (»Der Mensch ist für den anderen Menschen die Motivationsdroge Nummer Eins«) bis hin zum empirischen Unterrichtsforscher John Hattie (»Die Lehrer-Schüler-Beziehung gehört zu den wirkungsmächtigsten Einflüssen auf die Lernleistung von Schülern«). Deutlich wird in den Forschungsbeiträgen auch, dass das Beziehungsklima nicht nur anreizförderliche oder gar outputsteigernde Aspekte hat, sondern auch eine störungspräventive Komponente. So riet Alfred Adler, Begründer der tiefenpsychologischen Individualpsychologie: »Man kommt weiter, wenn man nicht mit den Kindern kämpft, sondern ihre Muster wohlwollend durchschaut – und ihre Energie in nützliche Bahnen lenkt.« Ganz allgemein geht es aber auch um eine sensiblere Wahrnehmung und humanere Gestaltung der zwischenmenschlichen Grundlage von Lehren und Lernen.

In einem zweiten Schritt wird die Vielfalt konkreter unterrichtlicher Situationen und Anforderungen auf ihre Beziehungsaspekte hin abgeklopft. Angesichts der Komplexität und Einzigartigkeit pädagogischer Szenen kann daraus natürlich keine Rezeptsammlung erwachsen. Vielmehr wird eine reflektierte Praxisschau entfaltet – gesichtet und gewichtet mit den Augen des langjährigen und forschungskundigen Praktikers: von der Grundstimmung guten Unterrichts über einzelne Schuljahrsereignisse bis hin zum Umgang mit Störungen. Dabei zeigt sich nicht zuletzt, dass die Beziehungsdimension pädagogischen Handelns manch widrigen äußeren Umstand abzuschwächen, ja hintanzustellen vermag.

Den Abschluss bildet ein Plädoyer, das bisherige Brachland ›Lehrer-Schüler-Beziehung‹ in der Aus- und Weiterbildung stärker urbar zu machen, den Lehrberuf also auch in emotionaler Hinsicht zu professionalisieren. Denn im Referendariat geht es zu oft ›nur‹ um Didaktik und Methodik – welche Teile [12]des Fachgebietes man überhaupt für den Unterricht auswählt, wie man fachliche Zusammenhänge altersgemäß erklärt und veranschaulicht, mit welchen Methoden und welchen Hilfsmitteln man den Lernprozess seiner Schüler anregt und organisiert. Die Ebene von Affekten und Kommunikation hingegen wird bislang nur von einem ungenügenden Bruchteil der Ausbildungszeit abgedeckt. Diese Leerstelle bzw. Grauzone muss ebenfalls in der Lehrerweiterbildung gefüllt bzw. geklärt werden – sonst bleibt alle Schulentwicklung technokratisches Stückwerk.

Im Übrigen kann man nur zu diesem Beruf raten. Lehrerin, Lehrer sein ist zwar harte Arbeit – aber auch eine sehr schöne, auf eigentümliche Art erfüllende. Zwischenmenschliche Nähe und Fürsorge beinhalten ganz einfach eine Art Glücksangebot. Zudem wirkt man ja aufbauend, arbeitet als freier Menschenbildner, gestaltet Lebendiges mit. Nicht zuletzt beteiligt man sich an einem der letzten Abenteuer in der Wohlstandsgesellschaft. Denn hat nicht jede Unterrichtsstunde auch den Reiz des Ungewissen?

Unterricht ist Beziehungssache

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