Читать книгу Orgasmus gegen Taschengeld - Michael Helmschneider - Страница 9
ОглавлениеKapitel 7
Zwei Tage später war ich so verzweifelt wie noch nie in meinem Leben. Ich hatte Frühschicht, und nach der Arbeit wollte ich mich mit Bianca in unserem Café treffen. Es war kurz vor 14.00 Uhr, als ich an die Zimmertür von Herrn Köpke – dem Bud-Spencer-Verschnitt – klopfte. Ich brachte ihm ein kleines Tablett in sein Zimmer, auf dem sich eine Tasse Kaffee und ein kleines Stück Kuchen befanden. Herr Köpke saß an seinem kleinen Tischchen vor einem Glas Bier, aus dem Radio trällerte ein äußerst angenehmer Jazz.
„Hallo Herr Köpke!“ begrüßte ich ihn freundlich. Ich mochte diesen alten Mann, denn er strahlte eine unglaubliche Ruhe und Gelassenheit aus. „Ich bringe Ihnen Kaffee und Kuchen.“ Herr Köpke begann zu strahlen, als er mich sah, was jedoch nicht an Kaffee und Kuchen lag. Schon nach zwei Tagen hatte Herr Köpke mir erklärt, dass ich ihm nicht böse sein solle, aber er müsse unbedingt etwas los werden. Er sagte, der Kuchen wäre so schrecklich und so trocken, dass er eine ganze Kanne Kaffee bräuchte, um ein Stück davon hinunterzuspülen – das würde er auch machen, wenn der Kaffee nichts so ein Arschwasser wäre. Ich musste daraufhin lachen, Herr Köpke auch. Ich stimmte ihm zu. Der Kaffee sowie der Kuchen waren wirklich ungenießbar.
„Soll ich den Kuchen und den Kaffee gleich wieder mitnehmen, oder wollen sie vielleicht doch nochmal den Versuch wagen, beides zu probieren?“ Herr Köpke lachte. „Stellen Sie das Tablett auf den Tisch. Probieren werde ich beides noch einmal, aber sollten mir Kaffee und Kuchen heute wieder nicht schmecken, dann war’s das.“
Ich stellte das kleine Tablett auf Herrn Köpkes Tisch ab und wollte gerade wieder sein Zimmer verlassen, als er mir hinterher rief. „Schwester Marianne!“ sagte er besorgt. „Ja?“ „Darf ich Sie mal etwas fragen?“ „Selbstverständlich, Herr Köpke, worum geht’s denn?“
Herr Köpke sah mir tief in die Augen und setzte einen äußerst besorgten Blick auf. „Haben Sie ein paar Minuten Zeit, oder halte ich Sie von Ihrer Arbeit ab?“ „Schon gut, ein paar Minuten habe ich immer.“ Herr Köpke bot mir einen Stuhl an und ich setzte mich zu ihm an seinen kleinen Tisch. Er begann rumzudrucksen.
„Ich weiß, es geht mich eigentlich nichts an. Aber ich bin jetzt 92, und ich sehe es einem Menschen an, wenn es ihm nicht gut geht. Und ich sehe es in ihren Augen, dass sie unglücklich sind, Marianne. Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber wenn sie ein Problem haben, und es vielleicht keinen Menschen gibt, mit dem sie darüber sprechen können – ich bin für sie da.“ Jetzt war ich baff. Konnte es mir sogar schon so ein uralter Knacker wie Herr Köpke ansehen, dass ich an Sexentzug litt? Ich wusste nicht, was ich ihm zur Antwort geben sollte. „Na ja, ich meinte ja nur.“ sprach er und starrte auf sein Bierglas. „Vielleicht täusche ich mich auch. Verzeihen Sie bitte.“
„Oh nein, Herr Köpke, Sie … Sie müssen sich nicht entschuldigen.“ stotterte ich. „Sieht man mir das wirklich an, dass ich nicht gerade zu den glücklichsten Menschen gehöre?“ „Nun ja, also ich sehe so etwas schon. Aber Sie müssen nicht mit mir darüber sprechen, wenn Sie nicht wollen.“ „Nein, nein!“ entgegnete ich und nahm seine Hand. „Ich bin sehr froh und dankbar, dass Sie mich darauf angesprochen haben, nur …“ Herr Köpke sah mich fragend an.
„Das ist ein Frauenproblem, verstehen Sie?“ „Ach so.“ antwortete Herr Köpke, und tat, als hätte er mich verstanden. Im nächsten Moment dachte ich mir, dass es eigentlich gar kein typisches Frauenproblem war, was mich derzeit belastete. Schließlich gab es ja auch genug Männer, die unter Sexentzug litten. Herr Köpke hob sein Bierglas und nahm genüsslich einen Schluck zu sich.
Ich wusste nicht, ob ich mit einem 92-jährigen Altenheimbewohner über mein Sexualleben sprechen sollte. Aber vielleicht war ja eine zweite Meinung neben Biancas gar nichts so verkehrt.
„Ich, äh … also, na ja … Sie haben Recht.“ stotterte ich erneut herum. Herr Köpke setzte sein Bierglas ab und hob gespannt die Augenbrauen. „Also … hm, wo soll ich anfangen? Hm … Was hätten Sie denn in meinem Alter gemacht, wenn Ihre Frau kein Interesse mehr an Ihnen gehabt hätte?“ Herr Köpke blickte verwirrt drein. „Ich war leider nie verheiratet, Marianne. Ich war mein Leben lang Junggeselle. Als ich jung war, interessierten sich die Frauen nicht für mich, und als ich älter wurde, hatte ich mich so an mein Junggesellendasein gewöhnt, dass ich keine Frauen mehr wollte.“ „Aber … hatten Sie denn nie eine Frau, also, ich meine, auch nicht mal so zwischendurch?“ „Na ja, so kurze Affären gab es schon hin und wieder. Aber das war nie etwas Ernstes.“ „Aber nur mal angenommen: Sie hätten eine Frau geheiratet, wären glücklich mit ihr gewesen, und eines Tages zeigt diese Frau kein Interesse mehr an Ihnen. Was hätten Sie gemacht?“ „Kein Interesse mehr an mir?“ fragte er verständnislos. „Meine Güte …“ dachte ich mir. „… ist Herr Köpke schwer von Begriff!“ Ich musste wohl konkret werden. „Herr Köpke, das was wir hier reden, bleibt aber unter uns, verstanden?“ „Na klar!“ versicherte er mir.
„Ich meinte damit: Was hätten Sie gemacht, wenn Ihre Frau Sie nicht mehr rangelassen hätte? Wenn Sie kein sexuelles Interesse mehr an Ihnen gezeigt hätte?“ Nun blickten mich zwei Augen an, die größer nicht hätten sein können. „Das weiß ich nicht.“ murmelte er ratlos. „Sehen Sie, genau das ist mein Problem. Mein Mann will mich nicht mehr. Er möchte nicht mehr mit mir schlafen!“ Herr Köpke trank erneut von seinem Bier. „Dann hat er eine andere.“ sprach er trocken und ließ einen dezenten Rülpser. „Wie bitte?“ fragte ich entrüstet.
„Sehen Sie, Marianne, Sie sind eine attraktive, jung gebliebene Frau. Wenn ich zehn Jahre jünger wäre, hätte ich garantiert versucht, bei Ihnen zu landen. Aber jetzt … mit 92 … na ja, egal.“ Ich fühlte mich geehrt und war zugleich irgendwie entsetzt. Ich räusperte mich. „Und was soll ich tun? Verstehen Sie, ich habe ja trotzdem meine Bedürfnisse.“
„Ich kenne das Problem. Ich erinnere mich noch gut, denn nach dem Krieg gab es viele Frauen, deren Männer gefallen waren, die aber jung waren und natürlich auch ihre Bedürfnisse hatten. Sexspielzeuge gab es noch nicht, und so haben sich viele Frauen nach neuen Männern umgesehen.“ „Aber ich bin doch schon 26 Jahre lang verheiratet. Ich kann doch meinen Mann nicht betrügen!“ „Dann lassen Sie sich doch scheiden und suchen sich einen neuen Mann!“
Ich war fast ein wenig empört über die Herzlosigkeit von Herrn Köpke. Aber im Grunde hatte er fast recht. Mir wurde bewusst, dass ich Prioritäten setzen musste. Ich liebte mein Leben eigentlich, ich liebte Charly ja nach wie vor, ich liebte meine ganze Familie, vor allem meine beiden Kinder. Sollte ich das alles tatsächlich aufgeben, nur um mir einen neuen Mann zu suchen, der es mir regelmäßig besorgt? Herr Köpke unterbrach meinen Gedankengang.
„Das ist wirklich nicht einfach. Ich denke, Sie müssen sich einfach mal überlegen, was Sie wirklich wollen und was Ihnen wirklich wichtig ist. Und dann finden Sie schon eine Lösung.“
Ich war den Tränen nahe, weil Herr Köpke sich scheinbar wirklich für mein Wohlergehen interessierte. Ein anderer alter Sack hätte mir jetzt wahrscheinlich angeboten, mit ihm in die Kiste zu hüpfen. Aber Herr Köpke tat das nicht, er machte sich wirklich Sorgen um mich.
„Egal, wie Sie sich entscheiden, Marianne, Sie müssen eine Lösung finden, mit der Sie glücklich werden. Denken Sie dabei nicht an andere Menschen, orientieren Sie sich dabei auch nicht an irgendwelchen bescheuerten moralischen Vorstellungen. Moral ist dazu da, um Menschen in goldene Käfige zu stecken und um ihnen genau das zu untersagen, was sie gerne tun würden. Die Moral ist die rote Ampel auf dem Weg ins Glück!“
Nun kamen mir die Tränen. Ich hatte einem 92-jährigen Biertrinker, der aussah wie Bud Spencer, intimste Details aus meinem Leben erzählt und ihn um Rat gefragt. Und er hatte mir einen Rat gegeben. Ich erhob mich von meinem Stuhl, beugte mich zu Herrn Köpke hinunter, und gab ihm einen Kuss auf seine Stirn. „Ich danke Ihnen, Herr Köpke!“ schniefte ich, und zog ein zerknülltes Papiertaschentuch aus meiner Hosentasche, in das ich geräuschvoll hineinschnäuzte. Herr Köpke nahm meine Hand und tätschelte sie. „Das wird schon. Ich bin mir sicher, dass Sie die richtige Entscheidung treffen werden!“
Voller Dankbarkeit verließ ich schniefend Herrn Köpkes Zimmer und verteilte den restlichen Kaffe und den restlichen Kuchen an die anderen Heimbewohner auf meiner Station.