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Vor dem Gesetz sind alle gleich? Nicht in Deutschland!
ОглавлениеUm den gesamten Umfang der religiös bedingten Beschneidungen der bürgerlichen Freiheiten zu erfassen, müssen wir uns die Grundprinzipien des liberalen Rechtsstaates vor Augen führen. Im Kern sind sie bereits in Artikel 1 der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 enthalten, auf die sich das deutsche Grundgesetz von 1949 stützt: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Wir alle kennen den Wortlaut dieses ersten Menschenrechtsartikels, vermutlich aber ist nur wenigen bewusst, dass er gleich drei fundamentale Rechtsprinzipien enthält, die für den modernen Rechtsstaat verbindlich sind:
– das Prinzip der Liberalität, das mit dem Wort »frei« angesprochen wird. Es besagt, dass mündige Bürgerinnen und Bürger tun und lassen dürfen, was immer sie wollen, solange sie nicht gegen geschützte Interessen Dritter verstoßen. (Im deutschen Grundgesetz spiegelt sich dies in Artikel 2 wider, der die »freie Entfaltung der Persönlichkeit« zum Inhalt hat)
– das Prinzip der Egalität, das mit dem Wort »gleich« angedeutet wird. Es verbietet jegliche Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Religion oder Weltanschauung, ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung. (Im Grundgesetz wird dies in Artikel 3, der »Gleichheit vor dem Gesetz«, abgehandelt.)
– das Prinzip der Individualität, welches mit dem Begriff der »Würde« einhergeht. Denn die unantastbare Menschenwürde, deren Achtung und Schutz nach Artikel 1 des Grundgesetzes »Verpflichtung aller staatlichen Gewalt« ist, kann nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg definiert werden. Vielmehr gilt: Die Würde des Einzelnen ist dadurch bestimmt, dass der Einzelne über seine Würde bestimmt – nicht der Staat oder eine wie auch immer geartete Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft.
Aufgrund dieser Verfassungsvorgaben darf der Gesetzgeber nur dann in die bürgerlichen Freiheiten eingreifen, wenn er hierfür eine rationale, evidenzbasierte und weltanschaulich neutrale Begründung vorlegen kann. Was heißt das? Nun, der Staat muss bei jeder Rechtsnorm nachweisen können, a) dass diese widerspruchsfrei aus der Verfassung abgeleitet wurde (würde der Gesetzgeber aus der »Gleichheit vor dem Gesetz« die Ungleichbehandlung von Mann und Frau folgern, wäre dies nicht »rational«), b) dass ein unterstellter Sachverhalt auch empirisch feststellbar ist (wenn keine Belege dafür vorliegen, dass eine angeblich justiziable Handlung reale Interessen verletzt, ist das Eingreifen des Staates nicht »evidenzbasiert«) und c) dass die Rechtsnorm nicht auf spezifischen weltanschaulichen Überzeugungen beruht (wenn ein Gesetz nur vor dem Hintergrund der »katholischen Sittenlehre« verständlich erscheint, ist es nicht »weltanschaulich neutral«). Gelingt dem Gesetzgeber ein solcher dreifacher Nachweis nicht, so darf er die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger in keiner Weise einschränken.
So weit, so klar. Leider aber wird diese Verfassungsvorgabe häufig ignoriert. Tatsächlich wird der Rechtsgrundsatz »In dubio pro libertate« (»Im Zweifel für die Freiheit«) in Deutschland oft in ein »In dubio pro ecclesia« (»Im Zweifel für die Kirche«) umgemünzt. Aus diesem Grund sind vor dem deutschen Gesetz auch längst nicht alle Menschen gleich. Denn das Gesetz ist in vielen Fällen parteiisch zugunsten der Vertreterinnen und Vertreter überholter christlicher Sittlichkeitsvorstellungen – zwar nicht mehr so offenkundig wie noch in den 1950er Jahren, als das Bundesverfassungsgericht (!) die staatliche Verfolgung der Schwulen mit dem »christlichen Sittengesetz« begründete, aber dennoch in einem Ausmaß, das atemberaubend ist. Eine Folge dieser weltanschaulichen Schieflage des Staates ist, dass Richter mitunter gezwungen sind, Menschen zu verurteilen, deren Anliegen sie eigentlich teilen, und denen Recht zu geben, die nach rationalen Kriterien objektiv im Unrecht sind.