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Freiheitsbeschränkungen von der Wiege bis zur Bahre
ОглавлениеLetzteres wurde mir wieder einmal bewusst, als ich im Herbst 2018 den Prozess gegen die Ärztin Kristina Hänel im Landgericht Gießen verfolgte. Hänel war in erster Instanz verurteilt worden, weil sie auf ihrer Webseite darauf hingewiesen hatte, sie würde Schwangerschaftsabbrüche durchführen, was nach § 219a Strafgesetzbuch (Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft) bis Anfang 2019 strikt verboten war. (Übrigens folgte die Bundesrepublik Deutschland auch hier der Nazigesetzgebung, nämlich dem »Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften« vom 26. Mai 1933). Der Richter machte in der Berufungsverhandlung deutlich, dass er große Sympathien für das Anliegen Kristina Hänels hege und dass der Staat in gravierender Weise in die Grundrechte von ÄrztInnen und ungewollt schwangeren Frauen eingreife. Dies sei aber nach herrschender Rechtsmeinung (Urteile des Bundesverfassungsgerichts in den 1970er und 1990er Jahren) dadurch legitimiert, dass bereits der Embryo »Menschenwürde« besäße und Träger von Grundrechten sei, weshalb das Urteil der ersten Instanz bedauerlicherweise nicht aufgehoben werden könne.
Jetzt, da ich dies schreibe (Ende Januar 2019), hat die Bundesregierung einen »Kompromiss« ausgehandelt, um die Proteste zu entschärfen, welche die Verurteilung Kristina Hänels ausgelöst haben. Danach dürfen Ärztinnen und Ärzte zwar darüber informieren, dass sie Abtreibungen vornehmen, müssen sich dabei aber auf amtliche Informationen beschränken. Ansonsten bleibt alles beim Alten: Der Schwangerschaftsabbruch soll weiterhin als »rechtswidrig« gelten und die betroffenen Frauen müssen sich weiterhin einer Zwangsberatung unterziehen, in dessen Zentrum der »Schutz des ungeborenen Lebens« steht, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Legitimiert werden diese Eingriffe in die Selbstbestimmungsrechte der Frauen weiterhin mit der »herrschenden Meinung«, dass schon der Embryo »Menschenwürde« besäße.
Womit aber lässt sich diese »herrschende Meinung« begründen? Der Verweis auf Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes »Die Würde des Menschen ist unantastbar« gibt dies nicht her. Im Gegenteil! Denn die »unantastbare Würde« des Menschen wird hier mit den »unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten« in Verbindung gebracht. In Artikel 1 der Menschenrechtserklärung steht aber klar und deutlich, dass alle Menschen mit gleicher Würde und gleichen Rechten geboren sind – mit gutem Grund heißt es dort nicht, dass sie mit gleicher Würde und gleichen Rechten gezeugt wurden.
Sucht man nach der eigentlichen Quelle für die merkwürdige deutsche Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch und Embryonenschutz, so landet man nicht bei der UN-Menschenrechtserklärung, sondern bei einem der größten Verächter der Menschenrechtsidee: Papst Pius IX. Dieser als besonders rückständig bekannte Pontifex hatte 1869 das Konzept der »Simultanbeseelung« (Beseelung im Moment der Befruchtung der Eizelle) zur unhinterfragbaren »Glaubens-Wahrheit« gemacht. Zuvor waren Katholiken oft von dem alternativen Konzept der »Sukzessivbeseelung« ausgegangen, welches besagt, dass sich die »Seele« in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten erst entwickelt, was Abbrüche bis zu diesem Zeitpunkt erlaubte.
Theologisch begründet war die Entscheidung des Papstes durch ein besonders obskures Dogma, das er bereits 15 Jahre zuvor erlassen hatte, nämlich das »Dogma der unbefleckten Empfängnis Mariens«, wonach nicht nur der »Heiland«, sondern schon dessen Mutter »erbsündenrein« empfangen wurde. Offenkundig litt Pius IX. nach der Verkündigung dieses Dogmas im Jahre 1854 sehr unter dem Gedanken, dass die »sündenfrei« empfangene Gottesmutter nach dem Konzept der »Sukzessivbeseelung« in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten »vernunft- und seelenlose Materie« gewesen sein könnte. Also erhob er 1869 zu Ehren der »Heiligen Jungfrau« die »Simultanbeseelung« zur verbindlichen »Glaubens-Wahrheit« – eine Posse, über die man schmunzeln könnte, würde sie nicht noch heute die Gesetze des angeblich »säkularen Staates« bestimmen!
Indem der deutsche Gesetzgeber das katholische Glaubensdogma der »Simultanbeseelung« (wenn auch in leicht abgeschwächter Form) zur allgemein gültigen Norm erhebt (nämlich in den Paragraphen 218 bis 219b Strafgesetzbuch/StGB, die den Schwangerschaftsabbruch regeln), verstößt er in empfindlicher Weise gegen das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität. Er privilegiert Menschen, die mit den Vorgaben der katholischen Amtskirche übereinstimmen (zweifellos nur eine kleine Teilmenge der Kirchenmitglieder) und diskriminiert all jene, die diese Überzeugungen nicht teilen – nicht nur die vielen Menschen, die religiöse Konzepte per se ablehnen, sondern beispielsweise auch gläubige Juden (für die das menschliche Leben erst mit der Geburt beginnt) oder Muslime (für die der Fötus erst ab dem 120. Tag der Schwangerschaft beseelt ist).
Wie müsste demgegenüber eine Gesetzgebung aussehen, die den auch grundlegenden Anforderungen einer rationalen, evidenzbasierten, weltanschaulich neutralen Begründung genügt? Nun, zunächst einmal müsste sie die empirischen Fakten zur Kenntnis nehmen, die für die ethische und juristische Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs relevant sind. Interessant sind dabei unter anderem die folgenden beiden Punkte:
– Erwiesenermaßen geht etwa die Hälfte der befruchteten Eizellen spontan wieder ab, was nur in knapp 20 Prozent der Fälle überhaupt bemerkt wird. Angesichts dieser Häufigkeit des natürlichen Aborts ist es geradezu absurd, dass der Gesetzgeber die Folgen des künstlichen Aborts, also des Schwangerschaftsabbruchs, derart dramatisiert, dass er den betroffenen Frauen eine »zumutbare Opfergrenze« (§ 219 StGB) abverlangt. (Nebenbei bringt diese empirische Tatsache auch die Anhänger der »Simultanbeseelung« in Bedrängnis: Denn warum sollte »Gott« jedem Embryo eine »ewige Seele« einhauchen – und sie kurz darauf der Hälfte von ihnen wieder aushauchen? Ist der »Allmächtige« etwa verwirrt oder hat er gar »Spaß« am Abort?)
– Embryonen verfügen nachweislich nicht über personale Eigenschaften (etwa Ich-Bewusstsein), sie sind nicht einmal leidensfähig, haben daher auch keinerlei Interessen, die in einem Konflikt ethisch oder gar juristisch berücksichtigt werden könnten. Erst mit der 20. Schwangerschaftswoche beginnt die Entwicklung der Großhirnrinde, so dass wir es ab einer bestimmten Entwicklungsstufe des Fötus (nicht des Embryos.) mit einem empfindungsfähigen Lebewesen zu tun haben, dessen »Interessen« in einer Güterabwägung beachtet werden können.
Daraus ist zu folgern: Der Gesetzgeber kann zwar mit rationalen, evidenzbasierten, weltanschaulich neutralen Gründen verfügen, dass Spätabtreibungen nur in Ausnahmefällen zulässig sind, um entwickelten Föten Leid zu ersparen. Derartige Gründe liegen aber nicht vor, wenn der Staat bewusstseins- und empfindungsunfähigen Embryonen »ein eigenes Recht auf Leben« einräumt und dieses vermeintliche »Recht« gegen die Selbstbestimmungsrechte der Frauen ausspielt. Deshalb sind die aktuell geltenden Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland eindeutig verfassungswidrig – auch wenn das Bundesverfassungsgericht in den 1970er und 1990er Jahren von katholischen Lobbyisten so stark bedrängt wurde, dass es diesen klaren Verfassungsbruch nicht als solchen erkennen konnte bzw. wollte! Wenn also ungewollt schwangere Frauen weiterhin Zwangsberatungen über sich ergehen lassen müssen, wenn es dabei bleibt, dass der Schwangerschaftsabbruch als »prinzipiell rechtswidrig« eingestuft wird, so handelt es sich dabei um nichts anderes als um religiöse Schikane, die dem demokratischen Verfassungsstaat zwingend untersagt ist!
Was ich hier für die Frage des Schwangerschaftsabbruchs kurz skizziert habe, trifft in ähnlicher Form auf viele andere Bereiche unseres Lebens zu. Tatsächlich bestimmen nicht zuletzt irrationale, kontrafaktische, weltanschaulich parteiische (mit christlichen Glaubensvorstellungen begründete) Vorgaben darüber, was man uns in öffentlichen Bildungsinstitutionen beibringt, welche Rechte wir als Kinder haben, für welche Zwecke unsere Steuergelder ausgegeben werden, was in den öffentlichen Medien gesendet wird, was wir offiziell zu feiern haben, ja sogar, welche Drogen wir konsumieren dürfen und welche nicht. Auf all diese Punkte kann ich im Rahmen dieses Textes nicht eingehen. Springen wir stattdessen von der ersten Phase des Lebens zur letzten Phase.
Auch bei den Regelungen zur Sterbehilfe muss der liberale Rechtsstaat peinlich genau darauf achten, dass seine Gesetze die Pluralität der Würdedefinitionen seiner Bürgerinnen und Bürger berücksichtigen. So muss er es einem strenggläubigen Katholiken ermöglichen, den Überzeugungen von Papst Johannes Paul II. zu folgen, der meinte, man müsse als Sterbender das »Kreuz Christi« auf sich nehmen und das Leiden akzeptieren, da das Leben ein »Geschenk Gottes« sei, über das der Mensch nicht verfügen dürfe. Er muss es aber auch einem Anhänger der Philosophie Friedrich Nietzsches erlauben, »frei zum Tode und frei im Tode« zu sein.
Zwischen der Ächtung des Suizids bei Johannes Paul II. und dem Lob des Freitods bei Nietzsche gibt es ein breites Spektrum an unterschiedlichen weltanschaulich geprägten Wertehaltungen, über die seit Jahrhunderten gestritten wird. An diesem Streit darf sich selbstverständlich jedes Mitglied der Zivilgesellschaft beteiligen, der liberale Rechtsstaat muss sich dabei jedoch zurückhalten. Auf gar keinen Fall darf er sich – wie dies 2015 bei der Verabschiedung des »Sterbehilfeverhinderungsgesetzes« § 217 StGB (Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung) geschehen ist – zum Anwalt einer spezifischen, nämlich christlichen Weltanschauung machen und deren Werte zur allgemeinverbindlichen Norm erheben.
Man mache sich diese Ungeheuerlichkeit bewusst: Obgleich 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger (!) für eine Liberalisierung der Sterbehilfe votierten, beschlossen deren parlamentarische Vertreterinnen und Vertreter die Kriminalisierung, indem sie die ärztliche Freitodhilfe unter Strafe stellten. Die Parlamentarier folgten den Vorgaben der katholischen Amtskirche so weit, dass sie ein Gesetz verabschiedeten, das schwerstkranke Menschen katastrophalen Risiken ausliefert und ihnen die letzte Chance auf Selbstbestimmung nimmt, weil verantwortungsvolle Ärzte von nun an mit empfindlichen Strafen bedroht werden, wenn sie ihren Patienten in deren schwersten Stunden zur Seite stehen. (Falls Sie also irgendwann einmal qualvoll sterben müssen, wissen Sie, wem Sie das zu verdanken haben!)
Viele, die 2015 für das »Sterbehilfeverhinderungsgesetz« stimmten, begründeten dies mit ihrem »Gewissen« als Christen, wobei sie sich auf Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes beriefen, wo es heißt, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als »Vertreter des ganzen Volkes … an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen« sind. Tatsächlich aber zielt die »Gewissensformel« der Verfassung, die 1919 durch den jüdischen Sozialisten Oskar Cohn eingebracht wurde, keineswegs auf das private, womöglich gar religiös aufgeladene Gewissen des Abgeordneten ab, sondern auf das professionelle Gewissen eines Berufspolitikers, der seine Entscheidungen »nach bestem Wissen und Gewissen« treffen sollte.
Es geht hier also nicht um die religiöse »Verantwortung vor Gott«, sondern einzig und allein um die politische Verantwortung gegenüber den Menschen, deren Interessen im Parlament vertreten werden, sowie um die rechtsstaatliche Verantwortung gegenüber den Vorgaben der Verfassung, die bei jeder parlamentarischen Entscheidung zu berücksichtigen sind. Mit anderen Worten: Gerade gewissenhafte Politikerinnen und Politiker sollten sich der Tatsache bewusst sein, dass sie gar nicht das Recht besitzen, ihre privaten Glaubensüberzeugungen zur allgemeinen Rechtsnorm zu erheben, nach der sich Andersdenkende richten müssen. Gerade sie müssten dem Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates folgen – notfalls auch gegen anderslautende (weltanschaulich parteiische) Vorgaben der eigenen Fraktion.
Wie weit die Fangarme der »Kirchenrepublik Deutschland« tatsächlich greifen, zeigt der Umstand, dass man sich ihnen nicht einmal durch den Tod entziehen kann. Denn in Deutschland herrscht Friedhofszwang – auch dies ein Rückgriff auf die Gesetzgebung der Nazis, nämlich auf das von Adolf Hitler und Wilhelm Frick unterzeichnete Gesetz zur Feuerbestattung aus dem Jahr 1934. Daher dürfen Angehörige in Deutschland nicht tun, was in vielen anderen Ländern der Welt erlaubt ist, nämlich den Wunsch der Verstorbenen erfüllen, ihre Asche im eigenen Garten zu verstreuen. Theologischer Hintergrund des Friedhofszwangs ist die Vorstellung von der »leiblichen Auferstehung der Toten«, die bis zum Tag des Jüngsten Gerichts in »geweihter Erde« ruhen sollen. Wir sehen: Wie so viele andere Normen des Staates beruhen auch die Bestattungsgesetze auf einem weltanschaulich parteiischen, vordemokratischen Rechtsverständnis, das dringend der Korrektur bedarf.