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Urste Wurst

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Mit einem geborgten E-Bass der Marke NoName stieg ich in die Straßenbahn ein. Ich war der Mittelpunkt der Welt. Ich glaube nicht, dass ich mich auffällig benahm, besonders ausladende Bewegungen machte oder so etwas. Trotzdem musterten mich die Insassen der Bahn mit interessierten, freundlichen Blicken. Es war wohl nicht zu übersehen: Hier wurde gerade ein Rockstar geboren.

Normalerweise ist jeder der Mittelpunkt seiner eigenen, kleinen Welt. Nur selten einigt sich die Herde mal auf ein gemeinsames Zentrum. Was für ein Gefühl, wenn man für kurze Zeit selbst zum Zentrum wird!

Der Proberaum war ein kleiner Saal in einem Gemeindehaus gegenüber der Ackerhalle. In der Mitte stand ein riesiger, schwerer Tisch auf dem Linoleumboden, an den Wänden dunkle Holzschränke. Der ganze Raum schien Inspiration und Spielfreude aufzusaugen und in einen muffigen Geruch zu verwandeln. Uns war das egal – wir hatten Spielfreude im Überfluss. Das Gute an diesem Raum war: hier konnte man hemmungslos Krach machen, ohne dass es irgendwen störte. Wir fingen gleich damit an.

Der kleinste gemeinsame Nenner zwischen fremden Musikern: Blues. Das ist nicht besonders originell, aber es funktioniert immer.

Wie sich herausstellte war Krokant der erste Gitarrist in meinem kurzen Musikerleben, der wirklich Gitarre spielen konnte. Er spielte einen cleanen Ton ohne Verzerrer. Seine Gitarre war ein Fender-Nachbau, und sie klang tatsächlich ein wenig wie die von Mark Knopfler. Krokant konnte das, was er fühlte anscheinend direkt in Töne umsetzen. Er spielte keine eingeübten Riffs, sondern ließ seine Gitarre singen, juchzen, klagen oder hämmern.

Es war eine sehr intime Angelegenheit. Krokant zeigte mitunter ein schmerzverzerrtes Gesicht, das eigentlich nur beim Sex erlaubt ist. In jeder anderen Situation wäre es ein Grund, den Notarzt zu rufen.

Hades war ein Trommler, der einigermaßen den Takt halten konnte. Was ihm an Technik fehlte, machte er durch Leidenschaft wett. Völlig abgedreht und wie unter Drogen saß er hinter seinem Schlagzeug.

Wir jammten selbstvergessen über eine nicht näher definierte Zeitspanne. Irgendwann kamen wir zum Ende. Es war so, als hätten Unbekannte einen Dreier miteinander gemacht. Wir schauten hoch, grinsten etwas verlegen und waren damit beschäftigt, die Distanz wiederherzustellen.

Wir spürten alle: hier knackt es – hier ist Potenzial.

„Na – geht doch“, meinte Hades.

Krokant verweigerte jede Äußerung und wischte pedantisch mit einem Saiten-Abwisch-Läppchen über seine Gitarre.

Nun ging es ans Eingemachte. Die beiden spielten mir ein paar von den eigenen Songs vor. Im ersten Moment dachte ich, die beiden machen einen Scherz, aber dann merkte ich, dass hinter dem Krach, den sie machten eine Idee steckte. Es klang spröde und ungewohnt.

Die Texte von Hades passten zur Musik, und sie waren natürlich deutsch. Sie enthielten eine gute Portion Aufmüpfigkeit. Genau das brauchten wir.

Bist du einsam

Auch gemeinsam

Kommst du hinten mal nicht hoch

Ob zum Essen

Zum Vergessen

Kauf den Bär, der Frohsinn bringt!

Der Bär, der Frohsinn bringt – das war der allseits bekannte Werbeslogan der Schnapsfabrik am Ostrand der Stadt. Ein Anti-Alkohol-Song also, alles klar. Einen anderen Text von Hades fand ich etwas befremdlich. Ich fragte vorsichtig:

„Was meinst du mit der Zeile ‚Ich hab eine urste Wurst gemacht’? Was ist die Intention dabei?“

Hades konterte mit einer druckreifen Interpretation seines Textes:

„Hier geht es um menschliche Ausscheidungen. Beschrieben wird der berechtigte Stolz, wenn man etwas Besonderes hinbekommen hat. Exkremente sind das, was uns alle verbindet – Männchen und Weibchen, Alt und Jung, Arm und Reich. Exkremente sind die Verbindung zur Mutter Erde. Jeder kennt es, aber keiner spricht darüber. Wir schlagen eine neue Seite der Song-Poesie auf. Wir holen die Leute da ab, wo sie sind!“

„Aha. Offenbar möchtest du sie vom Klo abholen. Könnte man das nicht etwas subtiler machen?“

„Was meinst du mit subtil? Verklausulierend, undeutlich, diffus? Wir brauchen eine rustikale Sprache, die die Dinge beim Namen nennt!“

Da hatten wir es: Stilistische Differenzen! Wir wollten keine Differenzen, wir wollten mit einer Stimme sprechen. Uns über jede weltanschauliche Eventualität einig sein. Das musste ausdiskutiert werden.

Fünf oder sieben Bier später, ich wusste nur noch, dass es eine Primzahl war, entstiegen wir dem Kneipendunst. Die Straßenbahn fuhr nicht mehr, und ich musste nach Hause laufen. Ich atmete die klare Nachtluft ein und hatte das Gefühl, ganz neues Gelände zu betreten.

Das schwere Instrument unter meinem Arm verlieh mir nicht nur mentale Stärke, sondern auch eine gesunde Schwungmasse, die meinen Kurs stabilisierte.

Bunte Luft

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