Читать книгу Die neuesten Streiche der Schuldbürger - Michael Klonovsky - Страница 16
12. Januar
Оглавление»Sieh da! Sieh da, Relotius,
Die Kraniche des Ibykus!« –
PS: »Sieh da! Sieh da, Timoteus,
Die Enten des Relotius!«
(Leser ***)
Apropos: Der allzeit lesenswerte Wolfgang Röhl erklärt auf so luzide wie deftige Weise, warum die Affäre um den Verbreiter erwünschter Märchen bzw. Lügen folgenlos bleiben wird: »Kurz bevor der Skandal durch eine amerikanische Internetseite ins Rollen gebracht zu werden drohte, schaltete Klusmann (Spiegel-Chefredakteur – M.K.) in den Modus Vorneverteidigung. Gab vor, man sei dem hauseigenen Fälscher sozusagen hauseigen auf die Schliche gekommen. Dies ungeachtet der Tatsache, dass es ein misstrauischer Kollege war, der Relotius entlarvt hatte. Und zwar gegen den Widerstand seiner Vorgesetzten, die zu Relotius hielten und den Fotografen wegen seines Verdachts monatelang gemobbt und implizit mit Kündigung bedroht hatten.
Der Dreistigkeit, die erzwungene Enttarnung eines jahrelang vom Spiegel hofierten Gauners so zu verkaufen, als zeige sich gerade darin die Größe und Ehrenhaftigkeit des Hamburger Magazins, dieser abgekochten Rotzfrechheit gebührt allerhöchste Anerkennung. Die Nummer sollte rhetorischer Baustein künftiger Seminare über die Kunst der Krisenkommunikation werden.«
Wenn die Welt draußen vorm Balkonfenster so weiß aussieht wie der Park um die Ecke, dann war früher Winter. Heute ist Klimakatastrophe. Die Bewertung der Auswirkungen muss sich freilich erst noch einpendeln. »Schon jetzt gibt es messbar weniger Schnee. Werden unsere Winter grün? Und was bedeutet das für die Skigebiete?«, bangte vor zehn Tagen der Bayrische Rundfunk. Merke: Egal ob viel Schnee oder keiner, Schuld trägt der Mensch, also praktisch Sie, und wer Zweifel anmeldet, denkt im günstigsten Falle unterkomplex, ansonsten schlicht bösartig. Ich war im sogenannten Extremwinter 1978/79 in einem mecklenburgischen Kaff eingeschneit (die Armee suchte damals mit Stangen nach komplett vom Schnee zugedeckten Eisenbahnzügen), in meine Amtszeit bei Focus fiel die Lawinenkatastrophe von Galtür, und im sogenannten Jahrhundertsommer 2003 war sogar Lance Armstrong dehydriert, aber damals wussten wir noch nicht, dass die Natur zurückschlägt. Heute kann keiner mehr sagen, Claudia Kipping-Eckardt hätte ihn nicht gewarnt. Aber einige wollen ja nicht hören …
»Woher kommt es, dass ein Hinkender uns nicht erzürnt und ein hinkender Geist uns erzürnt? Das kommt, weil ein Hinkender erkennt, dass wir gerade gehen, und ein hinkender Geist sagt, wir seien die Hinkenden«, notierte Pascal (dem die Affirmative Action noch nicht geläufig sein konnte).
Und nochmals Pascal: Das »ganze Unglück der Menschen«, so schrieb er bekanntlich, rühre daher, »dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können«. »Doch da ich es genauer bedachte und nachdem ich den Grund für all unser Unglück gefunden hatte, wollte ich dessen Ursache(n) entdecken, und ich habe gefunden, dass es eine ganz sichere gibt, die im natürlichen Unglück unserer schwachen und sterblichen Beschaffenheit besteht, die so elend ist, dass uns nichts trösten kann, wenn wir sie recht bedenken.«
Also, schließt Pascal, bestehe das wirkliche Glück – er sagt wörtlich »das einzige Gut« – der Menschen darin, »dass sie von den Gedanken an ihre Lage abgelenkt werden«. Der Franzose stellt sich praktisch gegen die gesamte Zunft der Philosophen, indem er nicht Sammlung, Kontemplation und ein maßvolles Leben preist, sondern die Zerstreuung, weil ausschließlich Zerstreuungen – nicht Ruhm und Besitz, nicht Königtum, ja nicht einmal die Wonnen der Transzendenz – den Menschen sein Elend komplett vergessen lassen, wenn auch nur für kurze Zeit. Stimmt, notierte ich mir an den Rand des Buches, niemand denkt während eines großen Fußballspiels an den Tod. Außerhalb von Kriegs- und Krisenzeiten vermag nichts die Zeitspanne von anderthalb Stunden vollständiger und fesselnder zu füllen, nicht einmal ein erradelter Alpenpass oder eine erotische Feier. Vor die Wahl gestellt zwischen entweder Bayern gegen Dortmund oder, sagen wir: Megan Fox, wäre meine Entscheidung klar. (Und das hat nichts mit meinem relativen Angegammeltsein zu tun; vor vielen Jahren, damals befand ich mich noch in jenem Alter, wo sich im Grunde alles um die Balz dreht, saß ich in Erwartung eines wichtigen Fußballspiels, das gleich angepfiffen werden würde, mit zwei Freunden in meiner Schwabinger Wohnung vor dem Fernseher, als es klingelte. Nicht aufmachen, lautete der spontane Entschluss. – »Und wenn es eine Frau ist?« – »Dann erst recht nicht.« – »Und wenn Pamela Anderson vor der Tür stünde?« – »Dann würde ich ihr sagen: Sind Sie wahnsinnig, jetzt hier zu klingeln?!«)
Nun lese ich in Michel Houellebecqs soeben erschienenem Roman Serotonin den Satz: »Das Verlangen nach einem Sozialleben lässt mit zunehmender Reife nach, irgendwann sagt man sich, dass man sich ausreichend mit der Sache beschäftigt hat, und außerdem hatte ich in meinem Zimmer einen SFR-Decoder installiert, ich hatte Zugang zu mehreren Sportkanälen und verfolgte die französischen, deutschen, spanischen und italienischen Fußballmeisterschaften, das waren einige Stunden erklecklicher Unterhaltung, hätte Blaise Pascal einen SFR-Decoder gehabt, dann hätte er vielleicht ein anderes Liedchen angestimmt.« Nein, im Gegenteil, es hätte ihn beim Absingen seines Liedchens bestärkt, aber ansonsten d’accord, Monsieur H.
Das führt zu der Frage, ob ich auch Houellebecqs neuen Roman empfehlen kann. Im Grunde schreibt der Franzose ja immer wieder denselben Roman in immer neuen Variationen fort, aber ich musste jedes dieser Bücher sofort lesen; insofern ist die Empfehlung ausgesprochen. Als Brennpunkt sämtlicher Zeitströmungen, als Symptombeschreiber (und -verkörperer!), als unabhängiger, freier und zuweilen prophetischer Kopf – diesmal scheint er mit den blutigen Bauernprotesten, die der Roman thematisiert, die »Gelbwesten« vorweggenommen zu haben – ist Houellebecq der bedeutendste Literat unserer Zeit, also einer der wenigen, die bleiben werden. Als Stilist, Personenschilderer, Handlungskonstrukteur, im engsten Sinne Romancier ist er obere Mittelklasse. Mit diesem Zwiespalt muss der Leser leben. Seine Frauenfiguren unterscheiden sich kaum voneinander – es gilt der alte Spruch: Woman is a life support system for a cunt –, und der Ich-Erzähler ist stets derselbe. Seine notorischen Sex-Szenen überfliege ich, in Serotonin erspart er uns nicht einmal eine Version mit drei verschiedenen Hunden, und doch schafft dieser Kerl es immer wieder, in wenigen Sätzen eine Trostlosigkeit und Verzweiflung zu erzeugen, wie es eben nur große Literatur vermag. Außerdem ist Houellebecq auf verlässlich schamlose Weise zynisch, er erteilt dem intellektuellen Gesellschaftsklimaschädling das Wort, der heutzutage oft ein situiertes Dasein auf Kosten anderer mit linksgrünen Anschauungen und der unnachsichtigen Verfolgung von Falschmeinern verknüpft (und meistens kinderlos ist):
»Wenn ich als junger Mann jeden Sonntagabend Senlis verlassen hatte, wo ich eine sehr behütete Kindheit verlebt hatte, um in der Pariser Innenstadt mein Studium weiterzuverfolgen, wenn ich durch Villiers-le-Bel, dann durch Sarcelles, dann durch Pierrefitte-sur-Seine, dann durch Saint-Denis gefahren war, wenn ich gesehen und gehört hatte, wie um mich herum die Bevölkerungsdichte und die Plattenbauten Stück für Stück anstiegen, wie die Gespräche im Bus aggressiver wurden und das Maß der Gefährlichkeit zunahm, hatte ich jedes Mal das Gefühl gehabt, in die Hölle zurückzukehren, und zwar in eine von den Menschen nach ihren Wünschen gebaute Hölle. Jetzt war es anders, ein nicht besonders bravouröser, aber annehmbarer sozialer Aufstieg hatte mir erlaubt, dem physischen und sogar visuellen Kontakt mit den gefährlichen Schichten hoffentlich endgültig zu entkommen.«
Und das wiederum verschafft mir Gelegenheit, ein großes deutsches Magazin zu rühmen, wo der Autor von Serotonin so präsentiert wird: »Schlabbergarderobe, Rotwein und immer mit Zigarette: Houellebecq pflegt sein Image als Außenseiter der französischen Literatur«.
Rotwein und Zigarette, in der Tat, das macht einen in der französischen Literatur schnell und verlässlich zum outlaw. »Meint der Mann, was er da schreibt?«, fragt es aus dem Artikel, der übrigens im Focus steht, »Heißt er es gut? Oder will er warnen vor gefährlichen Strömungen in einer Art Rollenprosa?« So wie Melville vor dem Walfang oder Tolstoi vor dem Ehebruch resp. Einmarsch in Russland? »Wie in jedem seiner Romane treibt Houellebecq ein ausgebufftes Versteckspiel.«
Aber der Redakteur arbeitete nicht für ein renommiertes Magazin mit inzwischen Kiosk-Spitzenverkäufen von 35 658 Exemplaren pro Woche, wenn er den »provokanten Propheten« nicht doch durchschaut hätte, denn wie der »Antiheld des Buches« hat Houellebecq »ebenfalls Agrarwissenschaften studiert und pflegt eine radikale Weltanschauung«. Was das ist? Auch hier hat Focus Fährte und Witterung. Kurz vor dem Erscheinen des Romans hat der »Skandalautor« schließlich einen Artikel im amerikanischen Harper’s Magazine veröffentlicht, in dem er die EU für gescheitert und Donald Trump für einen guten, ja den besten US-Präsidenten erklärte, an den er sich erinnern könne. Das ist erstens radikal und zweitens effektive PR (»Provokation«). »Die Leser des Pamphlets waren wie so oft bei Houellebecq mindestens irritiert, viele aber auch entsetzt.« Wenn man in Rechnung stellt, dass es den Text online zu lesen gab und er in der angelsächsischen sowie der restlichen des Englischen mächtigen Welt wahrscheinlich millionenfach abgerufen wurde, und, am Rande, dass ihn zumindest alle Leute, die ich kenne, eher amüsant fanden, dann ist das eine kecke Einschätzung, die vielleicht damit zu tun hat, dass man sich bei Focus so etwas wie Millionen Leser nicht mehr richtig vorstellen kann, während die Verallgemeinerung der eigenen Ansicht – die in dieser Branche, wie ich hier bereits nahezu speioft dargelegt habe, ungefähr so eigenständig ist wie die Schwimmrichtung einer Sardine – unter Journalisten Brauch und Sitte ist, weshalb am Kiosk auch 35 658 Leser enthusiasmiert zugreifen.
Vielleicht, schließt der Artikel, geben ja die Hochzeitsbilder des »Provokateurs« (bzw. »Skandalautors«) Aufschluss über dessen wahre Gesinnung und gesellschaftliche Stellung – und nicht die »Attitüde« seines »gebisslosen Mundes« –: »Der Dichter-Underdog in grauem Frack mit Melone und einem Orden am Revers, unter den Gästen der französische Kulturhochadel« (wer oder was das immer auch sein mag), »das scheint die wahre Lebenswelt des vielfachen Auflagenmillionärs zu sein«, und dort ist man mangelhaften Gebissen gegenüber auch toleranter, sofern es sich nicht um abstoßende Elendsfolgen, sondern um eine ausgefallene und schicke Attitüde handelt. »Vielleicht geht es ihm gar nicht so sehr um die Warnung vor dem Untergang des Abendlandes. Vielleicht hat er bloß mal wieder ein besonders umstrittenes Thema aufgegriffen, das sich gewinnbringend ausschlachten lässt in der Ökonomie der Aufmerksamkeit.«
Und von der versteht man beim inzwischen in Berlin residierenden und umstrittene Themen ausschlachtenden Kioskbuster Focus am Ende sogar noch mehr als von Literatur.