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Schicksalsschläge und Katastrophen

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ML: Manche Menschen werden vom Leben geschlagen. Ich erinnere mich an eine Frau, die mich konsultierte, weil sie Probleme mit ihrer behinderten Tochter hatte. Wir sprachen über die Probleme, die das Mädchen in der aufkommenden Pubertät hatte. Im Laufe des Gesprächs erfuhr ich mehr über das Schicksal der Frau. Sie hatte schon einmal eine Tochter gehabt, die in dem Alter, in dem sich nun die jetzige befand, auf einem Ferienlager das Opfer eines Mordanschlags geworden war. Genau am ersten Todestag der ersten Tochter wurde die zweite Tochter geboren. Bis zum zweiten Lebensjahr entwickelte sie sich völlig normal, dann trat plötzlich eine Entwicklungseinschränkung auf. Sie ging von Pontius zu Pilatus, kein Arzt konnte ihr sagen, wodurch die Behinderung ausgelöst worden war. Die Ehe der Frau zerbrach, wie so oft, wenn ein behindertes Kind in einer Familie da ist. Es faszinierte mich, wie gelassen und selbstverständlich diese Frau ihr Schicksal trotz der belastenden Geschichte angenommen hat.

Wir verwenden das Wort Schicksal nur, wenn wir die Illusion verwerfen müssen, unser Leben im Griff zu haben. Für diese Illusion sind wir bereit, sehr viel aufzuwenden, auch wenn wir damit letztlich nicht erfolgreich sein können. Vieles ist stärker, als wir es sind. Das Wort Schicksal bedeutet, dass wir dem Leben ausgesetzt sind. Auch wenn es uns nicht bewusst ist – eigentlich sind wir immer dem Leben ausgesetzt.

HG: Wir reden auch nur dann von einem Unglück, wenn etwas Unvorhersehbares passiert, dem wir hilflos gegenüberstehen. Das brutal Hereinbrechende macht uns zu schaffen. Mit einem Schlag ist alles anders. Unglücke melden sich nicht an – Verkehrsunfälle, Krebserkrankungen, Naturkatastrophen, Epidemien und vieles mehr. Blühende Städte und Regionen können plötzlich von Krieg und Terror überrannt und verwüstet werden. Denken wir an Syrien und einige andere Länder nach dem Arabischen Frühling. Plötzlich ist alles anders – im nahen Lebensumfeld und im großen Weltgeschehen. „Wie ein Weber hast du mein Leben zu Ende gewoben. Du schneidest mich ab wie ein fertig gewobenes Tuch.“ Dieser schöne und zugleich traurige Satz war in einer Parte zu finden, Teil eines Gebetes des alttestamentlichen Königs Hiskia (Jes 38,12).

Das Tuch des Lebens ist fertiggewoben, die zur Verfügung stehenden Fäden und Farben sind verbraucht, sind eingewoben in das Tuch, das nun das Leben selbst ist. Um die Qualität einer Handarbeit zu überprüfen,hat meine Mutter die bestickten Tücher oder Decken umgedreht, um die Hinterseite zu betrachten. Für den Laien ist dort nur ein schwacher Abklatsch des schönen Dekors auf der Schauseite zu sehen, viele abgeschnittene Fäden, ein paar ansatzweise erkennbare Muster, einzelne Verknüpfungen, aber mehr nicht. Mir gefällt dieses Bild: Wir sehen in unserem Leben meist ausschließlich die Rückseite von Ereignissen. Ihre mögliche Bedeutung und die Schönheit des Ganzen erkennen wir höchstens im Fragment.

ML: Obwohl wir wissen könnten, dass uns alles, aber auch wirklich alles passieren kann, halten wir viele negative Wendungen des Lebens für nicht möglich. Aber unser Leben besteht aus beidem: aus dem Vorhersehbaren und auch aus dem Nicht-Vorhersehbaren.

Die Unterseite des Lebens, von der du sprichst, ist der geheime Webplan unseres Lebens, den wir nicht kennen können, der sich – wenn überhaupt – nur indirekt aus unseren Lebenserfahrungen erschließt. Nehmen wir unsere Lebenserfahrungen ernst? Wie oft sind wir über Verhaltensweisen von nahen Menschen immer und immer wieder empört, obwohl wir es schon wissen könnten! Wie oft essen oder trinken wir das Falsche, vielleicht zu viel, obwohl es uns jedes Mal im Magen liegt? Wir könnten unseren geheimen Webplan kennen, wenn wir unsere Erfahrungen ernst nehmen würden. So würden wir gegen vieles, was uns immer wieder schicksalshaft begegnet, gerüstet sein. Die eigenen Erfahrungen zu ignorieren heißt, im Blindflug durchs Leben zu reisen.

HG: Ich möchte nochmals das Buch Ijob erwähnen. Es gehört zu den großen Schätzen der Weltliteratur. Schonungslos wirft der Leidende sein Unverständnis und seinen Schmerz auf Gott zurück: „Den Kreis meiner Freunde hast du mir zerstört. Du hast mich gepackt. Mein Verfall erhebt sich und tritt als Zeuge gegen mich auf.“ (Ijob 16,7f.) Das sind keine frommen Worte, aber gerade darin liegt der Durchbruch zu einer inneren Freiheit. Durch diese ehrliche Passage hindurch, ohne Schönrederei und Verharmlosung des Schmerzes, tut sich ein Korridor der Zuversicht auf.

ML: Wirkliche Katastrophen ziehen uns den Boden unter den Füßen weg. Ich habe noch eine andere Metapher für mich selbst formuliert: Ich stelle mir mein eigenes Selbst als Haus vor, das tragende Wände hat, aber auch Wände, die bloß zur internen Abgrenzung dienen und veränderbar sind. Es gibt negative Ereignisse, die mir zwar wehtun und mich verletzen, die mich aber nicht nachhaltig beeinträchtigen. Sie betreffen die nichttragenden Mauern, die die Hüter meiner Intimsphäre sind. Wenn aber die tragenden Mauern von einem Ereignis in Mitleidenschaft gezogen werden, dann bin ich insgesamt infrage gestellt. Mein Lebensraum ist bedroht, ich kann mich in diesem Haus nicht mehr finden, habe die Heimat verloren. Ein Gefühl tiefgehender Verlorenheit stellt sich ein.

HG: Lebensentwürfe liegen in Scherben. Ist es möglich, mit dem Leidenden eine solche, existentiell bedrohliche Verlorenheit auszuhalten – manchmal bis hin zum Punkt der Gottverlassenheit, an dem jeder „unerschütterliche“ Optimismus verdächtig wird? In diesen Momenten stützt mich der Blick auf Jesus, der dieser tiefsten Verlassenheit nicht ausgewichen ist. Bei seinem Tod am Kreuz hat er sie durchlitten. Eli, Eli, lema sabachtani?, das heißt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46) Mit diesem Vers aus dem Psalm 22 hat Jesus nach seinem Vater geschrien und mit diesem Schrei alle Abgründe menschlicher Verlassenheit berührt. In äußerster Verzweiflung hat er sich durch alle Mauern der Einsamkeit hindurch an ein Du gerichtet. Der zitierte Psalm endet mit Zuversicht. Für uns bedeutet die geheimnisvolle Gottverlassenheit Jesu am Kreuz, dass auch in der letzten Einsamkeit eine Berührung mit Gott möglich ist …

ML: … eine letzte Geborgenheit. Wie tröstlich für den, der dazu einen Zugang hat! Wir müssen uns offenbar in die Verletzungen hineinbegeben, um sie zu überwinden. Ich denke an einen Freund, der keine Partnerin hat und sehr darunter leidet. Er klagt darüber, dass er niemanden hat, der ihn begrüßt, wenn er nach Hause kommt. Er fürchtet die Einsamkeit. Er schafft es nicht, sie zu ertragen, obwohl er ihr nicht entkommt. So bleibt die Einsamkeit für ihn ein bedrohliches Monster. Solche bedrohlichen Monster sind immer projizierte Ungeheuer, die wir uns möglichst vom Leib halten wollen und gerade dadurch in paradoxer Weise an uns binden. So wird mein Freund seine Einsamkeit nie los.

Es ist wirklich so: Wir müssen uns unseren Verletzungen stellen und quasi Freunde von ihnen werden, um sie zu überwinden.

Trost

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